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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)

verursachte, Erdmann eine andere, der sie nur auf der linken Seite angenehm waren. Wir werden solche halbseitige Wirkungen sogleich auch bei der Metallotherapie hervorgehoben finden.

Nach den Anschauungen Burq’s ordnen sich die Menschen und ihre nervösen Leiden selbst in eine ähnliche Reihe, und wie dort dasselbe Metall nach der einen Seite elektronegativ und nach der andern elektropositiv wirken konnte, so sollen sich hier bestimmte Metalle bestimmten Personen und Krankheitszuständen gegenüber heilsam oder unwirksam erweisen. Es käme also zunächst darauf an, zu ermitteln, welches Metall auf ein bestimmtes krankes Individuum bei äußerlicher Anwendung die heilsamste Wirkung ausübt. Dasselbe muß nicht nur die Schmerzen oder die Empfindungslosigkeit in den betreffenden Körperstellen vermindern, sondern soll daselbst auch vermehrte Wärme und Blutumlauf erzeugen, sodaß Nadelstiche, die vorher keine Blutung hervorriefen, es nunmehr thun, in welchem Umstande ein auch für den äußern Beobachter controllirbares Kennzeichen der stattgehabten Metallwirkung gefunden wurde.

In Folge gewisser mysteriöser Verwandtschaften zwischen den lebenden Wesen und den zusammensetzenden Hauptelementen der Umgebung, sagt Burq, existiren mit den verbreitetsten Metallen Beziehungen der innigsten Art, und es ist nöthig, dem Organismus dasjenige Metall innerlich zuzuführen, welches bei äußerlicher Anwendung den günstigsten Einfluß darauf übt. Denjenigen Nervenkranken, auf welche Eisen den günstigsten Einfluß übt, muß Eisen in passender Form innerlich gereicht werden, anderen Kupfer, Silber und besonders vielen Gold. Man hat diese Ausmittelung des heilsamsten Metalles mit dem Namen Metalloskopie, der sonst für das Metallspüren der mit Wünschelruthe und siderischem Pendel versehenen Bergleute galt, belegt, und wirklich wird damit eine Theorie aufgefrischt, die mit jenen Proceduren viele Berührungspunkte hat; denn bekanntlich sollten die Nerven der erwähnten Ruthengänger oder Rhabdomanten durch unterirdische Metalladern so beeinflußt werden, daß eine von ihnen ausströmende Kraft die Wünschelruthe in Bewegung setzte. Andererseits hat die auf die Metalloskopie basirte innerliche Metallotherapie viele Aehnlichkeit mit den Heilsystemen von Paracelsus und Rademacher, wie denn in der alten Medicin nicht nur nervenstärkende Eisen- und Goldtropfen, sondern auch Kupferpräparate eine bedeutende Rolle spielten.

Trotz aller dieser verdächtigen Verwandtschaften veranlaßte die Ausdauer und Unermüdlichkeit des von seinen Ideen enthusiasmirten Arztes, daß die Pariser biologische Gesellschaft im August 1876 eine Commission aus drei renommirten Pariser Aerzten einsetzte, welche, unter Leitung einer der ersten medicinischen Autoritäten Frankreichs, nämlich des Professor Charcot, in der von diesem geleiteten Salpetrière die Versuche Burq’s prüfte und in den letzten Jahren (1877 und 1878) sehr günstige Berichte darüber erstattete. Die Versuche wurden wegen einer dabei hervortretenden doppelten Beweiskraft namentlich an Kranken angestellt, die an sogenannter Hemi-Anästhesie litten. Diese Krankheit, welche sich nicht selten bei hysterischen und nervösen Frauen, zuweilen auch bei nervenleidenden Männern ausbildet, stellt eine vollständige periodische oder dauernde Unempfindlichkeit einzelner Theile oder auch einer gesammten Körperhälfte dar, während die Beweglichkeit aller Theile erhalten ist. Diese Unempfindlichkeit halbirt den Körper so scharf, daß z. B. die rechte Seite der Zunge empfindlich sein kann, während die linke unempfindlich ist, und ebenso sind Gesichts- und Gehörssinn auf der entsprechenden Seite mehr oder weniger unempfindlich. Anatomisch erklärt sich dieser Zustand, der ja auch durch die halbseitige Gehirnlähmung illustrirt wird, sehr wohl durch die zweiseitige Anordnung des Nervensystems und Gehirnbaues, aber über die Natur jener Krankheit ist man völlig im Unklaren, und es ist nur eine Umschreibung, wenn man sagt, das „Nervenfluidum“ circulire in der einen Hälfte nicht, die „Innervation“ sei dort periodisch aufgehoben etc.

Nach dem Auflegen der für die betreffende Person als wirksam erkannten Metalle stellt sich nun nach Burq und vielen anderen Beobachtern im Verlaufe einer viertel bis halben Stunde die Empfindlichkeit in den betreffenden Theilen wieder her, das Ohr beginnt zu hören, das Auge langsam erst Formen, dann Farben zu unterscheiden, und zwar nach einer in letzter Zeit vielbesprochenen Scala Roth zuerst, Blau zuletzt.

Das Merkwürdigste aber ist, daß in demselben Maße die vorher gesunde Seite die Empfindlichkeit einbüßt; es findet eine vollkommene Umkehrung der „Innervation“ statt, als ob, um wieder dieses grobe Bild zu gebrauchen, das nur für eine Seite ausreichende Nervenfluidum von dem Metall auf die andere Seite herübergezogen würde. Man nennt diese Wirkung die Sensibilitäts-Uebertragung („Transfert de Sensibilité“) und es kann nichts Erstaunlicheres geben, als nun im anderen Auge die Farbenempfindung ebenso schrittweise erlöschen zu sehen, wie sie in dem vorher unempfindlichen Auge wiederkehrt.

Gewiß hatten Professor Schiff, Eulenburg und zahlreiche andere Autoritäten Ursache, mit dem größten Mißtrauen an die Prüfung dieser Phänomene zu gehen. Es ist bekannt, daß hysterische Personen einen krankhaften Hang zur Verstellung und Täuschung besitzen. Schiff, der in der Salpetrière nach Belieben experimentiren durfte, gab sich die größte Mühe, durch sinnreich angeordnete elektrische Apparate die Kranken zu täuschen, ihnen z. B unversehens starke elektrische Schläge zu versetzen, von denen sie nach der Anordnung der Apparate glauben mußten, daß dieselben die empfindliche Seite treffen würden, während sie die angeblich unempfindliche Seite trafen etc. Er endigte mit der Ueberzeugung, daß die Personen, mit denen er experimentirte, wirklich halbseitig unempfindlich seien, und daß die beschriebene Wirkung der Metalle also nicht auf Täuschung beruhe.

Ursprünglich glaubte man, daß ein schwacher elektrischer Strom, wie ihn die Berührung des Metalles mit der feuchten Haut erzeugt, die Wirkung hervorbringen möchte, allein es zeigte sich, daß das Zwischenlegen seidener Tücher die Wirkung nicht hinderte, daß nach Westphal Glas, nach Schiff ein ganz bestimmter Wärmegrad, elektrisirte Körper, deren Strom nicht in den Organismus eintritt, ja sogar mechanische Erschütterungen, wie z. B. Tonschwingungen, dieselbe Wirkung wie die Metalle hervorbringen.

Das Ergebniß aller dieser Untersuchungen, die zum Theil mit der größtmöglichsten Vorsicht angestellt wurden, ist, daß es sich hier im Großen und Ganzen nicht um absichtliche oder unfreiwillige (psychische) Täuschungen auf Seiten der Kranken handelt, sondern daß gewisse äußere Agentien, und zwar nicht blos Metalle und die von denselben repräsentirten elektro-chemischen Spannungen, sondern auch andere unter der Form von Schwingungen anhaltend einwirkende physikalische Kräfte, einen unleugbaren Einfluß auf das Nervenleben äußern. Im Grunde konnte dies bei dem heutigen Zustande der Forschung Niemanden allzu sehr überraschen. Denn seit der Entdeckung Volta’s ist man überzeugt, daß die Nervenkraft eine, wenn auch mit der Elektricität nicht identische, so doch analoge Naturkraft sei, die mit den übrigen physikalischen und chemischenn Kräften ebenso in Wechselwirkung stehen muß, wie diese unter einander. Die von den berühmtesten Aerzten vorgenommene Behandlung der Nervenleiden mit galvanischen Strömen beruht ja größtentheils auf dieser Ueberzeugung, ebenso wenn wir bei rheumatischen Leiden Wärme anwenden, und vielleicht beruht häufig die Unwirksamkeit jener Mittel nur darauf, daß wir nicht leicht im Stande sind, dasjenige Maß von Wärme, Elektricität etc. zu treffen, welches der Zurückführung der gereizten Nerven zur normalen Thätigkeit am günstigsten wäre, sondern eher durch Ueberreizung das Uebel vorübergehend verschlimmern. So sah Schiff in einem Falle Heißwasserumschläge von 54 Grad Wärme völlig unwirksam, während 58 bis 59 Grad warmes Wasser alsbald ebenso günstig wie das wirksamste Metall eingriff. Bei der äußern Anwendung von Metallbandagen mögen, selbst wenn man nicht sogleich das allergünstigste Metall trifft, nicht so leicht – wegen der im Allgemeinen milderen Einwirkung – Verschlimmerungen eintreten.

Indessen beabsichtigen wir hier keineswegs den Schein zu erwecken, als ob wir etwa den Rheumatismusketten, elektromotorischen Zahnhalsbändern und ähnlichen Wundermitteln irgendwie das Wort reden wollten. Die in diesen Ketten stattfindende Verbindung von Zink und Kupfer, und jede gleichzeitige Anwendung zweier Metalle wird als die Wirkung schwächend bezeichnet. Naturgemäß würde auch die Metallotherapie, falls sie sich überhaupt zu einem ersprießliche Zweig der Heilkunde entwickeln sollte, nur unter Leitung verständiger Aerzte Erfolg haben können, und gerade so gut, wie Jedermann, der ohne eigene Rechtskenntnisse einen Proceß anstrengt, sich einen sachkundigen Rechtsbeistand sucht, sollte Jedermann,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 436. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_436.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)