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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


vielfach die charakteristische Bauerntracht und die unbekümmerte Dürftigkeit und Beweglichkeit des niederen Stadtvolks, und es scheint, daß diese Elemente in dem Raum vor der Bühne überwiegen, aber seitlich auf den Flügeltribünen gruppiren sich die Promenadetoiletten der guten Gesellschaft; der hohe Cylinder, der elegante Strohhut haben die Herrschaft, weiße Frauennacken blinken, Fächer regen sich, und trotz der Munterkeit, welche auch hier die Kopf an Kopf sich hindehnende Menschenmenge bewegt, liegt das Maß gesellschaftlicher Bildung darüber.

„Aber zum Teufel, Enrico, wozu diese Räuberkleidung, welche Dein Billet mir vorgeschrieben, wenn wir die Aussicht hatten, uns zu anständigen Leuten setzen zu können?“

„Ruhig Blut!“ war die lachende Antwort. „Wenn ich in anständiger Gesellschaft Theater genießen will, gehe ich nicht hierher; Andere mögen das halten, wie sie wollen. Uebrigens wird das Publicum in wenig Tagen ein anderes, sobald die Sache den Reiz der Neuheit eingebüßt hat. Was uns betrifft, so werden wir mit Deiner Erlaubniß einen höheren Standpunkt einnehmen, damit Du die Wirkung des Spectakels in ungetrübter Reinheit beobachten kannst.“

„Um Gotteswillen, doch nicht – –?“ Und ich zeigte, von einer Ahnung erfaßt, auf die antiken Sitzreihen in luftiger Höhe, wo sich eine verdächtige Anhäufung von muthmaßlich zahlungsunfähigen Gästen knäuelte.

Enrico nickte. Ich sah seufzend an meinem auswendigen Menschen hernieder und sagte mir in der Stille, daß die olympische Verborgenheit da oben in der That den angemessensten Platz für mich biete. So folgte ich denn dem Freunde, und wir schlichen durch einen der Aufgänge und kletterten empor.

Es ging durch ärmliches Volk, Gelächter und lebhaftes Gespräch in einem abscheulichen Gassenjargon von Italienisch; zuweilen umspülte uns ein penetranter Duft von Zwiebel oder Knoblauch, oder auch die Ausdünstung übermäßigen Weingenusses; ich war froh, daß wir möglichst hoch über diese Atmosphäre hinaus stiegen. Endlich nahmen wir auf einem der alten Steinsitze Platz. Der Himmel hatte sich inzwischen gelichtet – der Mond mußte aufgegangen sein. Seitlich saßen einige dunkle, wüst und zerlumpt aussehende Gesellen, über die man sich nicht eben freuen würde, wenn sie einem so zufällig begegneten und nach der Zeit fragten; unter uns saß eine Gruppe Betrunkener, welche von sehr unsaubern Erlebnissen in Ostindien erzählten; neben ihnen ein hageres Individuum in grauem Cylinder und schwarzem Rock, auf dem Metallknöpfe blinkten, weßwegen ein paar halbnackte Knaben in der Nähe ziemlich ungenirt den Verdacht äußerten, eine „Eccellenza“ vor sich zu haben. Unten aber wogt und rauscht und summt es, und eine Weile hängt mein Auge gefesselt an dem phantastisch originellen Bilde dieser Arena, bis ich des Eindrucks müde geworden.

Unterdeß haben zwei Violinen und eine heisere Trompete, welche das Orchester vorstellen, bereits drei Ouvertüren durchprobirt, ohne daß eine Andeutung baldigen Beginns der Vorstellung erfolgt. Ich versuche, während Enrico in vollem Behagen mit einem Taschenperspectiv um sich späht, den Widerwillen gegen meine Umgebung durch Erinnerungen zu betäuben. Die Phantasie träumt sich zurück, weit, weit zurück in vergangene Zeiten. Die Natur vergrößert, das Herz erweitert sich; längsterstorbene Schatten leben auf. Die steinernen Sitze, die mächtigen Mauern helfen das Bild vervollständigen.

Es ist ein römischer Festtag. Wunderprächtig blaut der Himmel; die Sonne scheint so heiter, daß man fast die Freude in den Herzen lesen kann. Tausende über Tausende drängen nach der Arena. Der Boden erglänzt von Goldsand und Carmin, damit das Blut der Kämpfenden sich weniger bemerkbar macht, und über die weitgeschwungenen Sitzreihen spannen sich große orientalische Purpurplanen, das Licht dämpfend und den Eindruck des Schauspieles erhöhend. Chorgesang und Musik ertönt, und die Menge schwatzt von den Neuigkeiten.

Plötzlich ein Zeichen! Die Menge verstummt. Lächelnd, nach allen Seiten grüßend, erscheinen die Gladitoren, kampfesmuthig, als winkte ihnen ein freudevolles Fest, nicht der unerbittliche Tod. Glitzernde Rüstungen, nackte Leiber, dreizackige, scharfgeschliffene Messer werden sichtbar. Es tobt der Kampf. Athemlos lauscht das Volk. Verstümmelte Glieder, aufgeschlitzte Körper, ängstliches Schluchzen, Stöhnen der Sterbenden, vom Tod entstellte Gesichter … Endlich in thierischer Lust ein ungeheuerer Beifallssturm, in den sogar die Löwen und Tiger, welche nun die Scene betreten sollen, durch Brüllen mit einstimmen.

Ein langgedehntes „Ah“ der Versammelten reißt mich aus den Träumereien. Enrico reicht mir sein Perspectiv.

Vor dem Vorhang der Bretterbude erscheint, die Cigarre im Munde und die Mütze unternehmend schief auf dem schwarzen Krauskopf, ein Theaterdiener. Er schlägt einen Augenblick voll großer Entschiedenheit die Arme in einander und starrt mit einer Mischung von Bewunderung und Verachtung in's Publicum. Dann bückt er sich nieder, putzt die Oellampen und schraubt die Flammen höher. Nun ist dem starken Ueberfluß an Gesichtsfarbe, welcher vermuthlich bei den Priestern und Priesterinnen dieses Kunsttempels vorherrscht, die rechte Beleuchtung gesichert, und Alles läßt auf den Anfang des Stückes schließen.

Mir kommt ein Einfall.

„Weißt Du was, Enrico? Mich lüstet, da unten Studien hinter den Coulissen zu machen. Geht das an?“

„Warum nicht?“ sagt der Freund, der Verona wie seine Taschen kennt. Und wir erheben uns und klettern noch etwas höher, um droben entlang bis zu dem Abstieg zu schreiten der hinter dem Theater in die Arena einmündet.

Unten, im Rücken der Bühne, hebt mein Führer ein rissiges Stück Leinwand; es geht durch kleine schmale Gänge hin.

„Achtung, mein Junge!“ ertönt unterwegs Enrico's Warnungsruf. „Falle nicht über jenen zu den ‚Requisiten‘ gehörenden Tellerkorb. Wie sollte dann im fünften Act das ‚Heer‘ dort ein Siegesmahl halten!“ Und er zeigt auf drei schmutzige Gesellen mit korkgeschwärzten Gesichtern, in alten grauen Waffenröcken und kothigen Stiefeln, welche sich vorläufig an einer umfangreichen Schüssel Macaroni mit Pomidore stärken.

Enrico fragt nach dem Director und erhält den Bescheid, derselbe befinde sich im Ankleidezimmer nebenan.

Und da stehen wir mitten in der Aufregung der letzten Augenblicke vor Beginn des Schauspiels. Der dicke Director, der sich unausgesetzt den Schweiß von dem rothbraunen Antlitz wischt, bittet um Geduld – er hat keine Zeit für uns übrig; desto mehr Zeit haben wir, die Gesellschaft zu mustern, die uns kaum einen flüchtigen Blick schenkt.

Sämmtliche Künstler und Künstlerinnen sind bereits in Costüm. Dort der kleine Ladenjunge ist ein türkischer Sultan, daneben die junge, gluthäugige Dame ein geraubtes Christenmädchen, weiterhin der simpelhaft aussehende, säbelbeinige Kerl der tiefbetrübte Vater des armen Kindes. Soeben hilft er in seinem faltigen Gesichte den Spuren des Grams durch ein paar kühne Pinselstriche nach, während seine traute Gemahlin, ein ungeheuer dickes Weib, christliche Ergebung in ihre Physiognomie aufträgt.

Der erste Liebhaber, der das geraubte Kind aus den Händen der Ungläubigen zu retten hat, kann vor Begeisterung kaum den Anfang der Vorstellung erwarten. Er weiß, daß er in der Sterbescene ungeheueren Effect machen wird, und murmelt immer und immer im Declamationston aus seiner Rolle: „Addio, addio per sempre!“ Dann klopft er etwas auf dem Kilo Kolophonium herum, damit der „Schloßbrand“ mehr Furore erweckt, und gedenkt, seinem plötzlich in ein sanftes Schmachten umschlagenden Mienenspiel nach zu urtheilen, einiger sonnigeren Partien der Tragödie …

„Allons! Allons! meine Herrschaften, das Publicum zerbricht bald die Bänke!“

Es erfolgt ein allgemeiner Aufbruch nach der Bühne.

„Nun,“ ruft der Director und nimmt die Liste zur Hand, welche hinter der ersten Coulisse hängt: „Erster Auftritt, einsame Gegend, Nacht, Donner und Blitz – Alles in Ordnung, Giovanni?“

„Fein in Ordnung.“

„Recht so. – Zweiter Auftritt, Schloß am Meer. Ist das Schloß am Meer heruntergelassen?“

„Ja.“

„Giovanni, wenn das Zeichen erfolgt, ziehe die überschwemmte Gegend hinauf in die Wolken.“

„Va bene.“

„Jetzt die Ohren gespitzt. Seid Ihr Alle da?“

„Alle.“

„Gut also. Weg von der Bühne! Giovanni, pfeife zum Anfang!“

Das Orchester schweigt, der Vorhang rauscht in die Höhe,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 454. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_454.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)