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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


der Verachtung, welche sie für die Russen und alles Russische hegten, Zaum und Zügel anzulegen. Sie verhehlten auch nicht, nein, sie bramarbaseten laut, daß der Zar Dmitry eigentlich ein Zar von ihrer Mache wäre, verpflichtet und willig, demnächst diese oder jene russische Provinz an Polen abzutreten. Das mußte die Russen wüthend machen und den im Dunkeln und Stillen emsig weitergesponnenen Ränken der Schuisky und ihrer Freunde sehr zu gut kommen. Rechnet man dazu die Unklugheit des Pseudozaren, welcher ernstlich Anstalt machte, an und in den Pfaffensack zu greifen, d. h. den reichen Grundbesitz der russischen Kirche einzuziehen, um die Erträgnisse desselben auf die Bildung eines zahlreichen und tüchtigen Söldnerheeres verwenden zu können, und rechnet man weiter dazu noch das siegesgewisse Auftreten der mit den Polen gekommenen Jesuiten in der Hauptstadt Rußlands, so wird man es nicht verwunderlich finden, daß die Macht und Pracht des falschen Dmitry ein rasches Ende nahm, ein Ende mit Schrecken, und der Schwindel, wie billig, mit einem erschrecklichen Krach zerbarst.

Schon neun Tage nach dem Vermählungs- und Krönungsfest trat diese Verkrachung ein, während die Reihenfolge rauschender Vergnügungen im Kremlin noch im vollen Zuge war. Da tanzte man „auf einem Vulkan“. Der verblendete Pseudozar und seine gleichverblendete Umgebung, sie wurden vollständig überrascht durch den Losbruch des Orkans, welcher am 17. Mai über sie hereinstürzte – in Gestalt eines allgemeinen und darum unwiderstehlichen, von dem Fürsten Wassily Schuisky und dem Bojaren Tatischtschew geleiteten Aufstandes des gesammten moskauischen Moskowiterthums.

Von einem erfolgreichen Widerstande konnte dem bis zur Raserei erhitzten Zorn eines ganzen Volkes gegenüber gar keine Rede sein. Aber es ist nur gerecht, zu sagen, daß der Schwindler von falschem Dmitry wenigstens am Ende seiner Laufbahn einigermaßen zur Höhe eines Helden emporwuchs. Obzwar durch den plötzlichen Ansturm der Empörer vollständig überrascht, raffte er sich doch energisch zusammen und stemmte sich, den Säbel in der Faust, an der Spitze der wenigen treulich zu ihm Haltenden, dem wüthend in den Kremlin einbrechenden und alles vor sich niederwerfenden Volksstrom entgegen. Ein eitel und vergeblich Wagen und Ringen! Der General Basmanow, seinen an Boris begangenen Verrath mittels seiner dem Dmitry bis zuletzt bewahrten Treue sühnend, fällt an der Seite des Zaren, und nun wirft sich dieser aus einem Fenster, bricht bei dem Sturz ein Bein, wird drunten von einem Volkshaufen aufgefangen, erkannt, verhöhnt, mißhandelt, von einem Edelmann angeschrieen: „Hund von einem Bastard, sag’ uns, wer du bist und von wem du stammst!“ und endlich von dem Kaufmann Walujew mit den Worten: „Seht, wie ich diesem ketzerischen Hund von polnischem Gaukler die Absolution gebe!“ durch’s Herz geschossen.

Dann schleppte der Pöbel den Todten durch die Straßen, alle seine kanibalische Rohheit an dem Leichnam auslassend, wobei sich die Weiber durch gräuliche Schamlosigkeit hervorthaten.

Die Zarin Marina wurde vor dem ersten Ausbruch des Volksgrimms nur dadurch bewahrt, daß sie sich unter dem ungeheuren Reifrock ihrer Oberhofmeisterin, einer resoluten alten Dame, versteckte. Dann wurde sie zwar mit allen ihren polnischen Damen gefangen, und wurden die Armen vonseiten der siegreichen Rebellen mit unbeschreiblichen Beschimpfungen in Worten und Werken überhäuft, doch kamen sie mit dem Leben davon. Marina’s Vater, der Woiwode Mniszek, und alle in Moskau befindlichen Polen scharten sich zusammen und leisteten tapferen Widerstand. Viele von ihnen wurden erschlagen, die übrigen schließlich gefangen. Etwas später jedoch entließ man die Gefangenen, darunter auch Marina, in ihre Heimat.

Eine Nachricht will, unmittelbar nach der Ermordung Dmitry’s hätten die Empörer an die Zarin-Witwe Marfa die Frage gethan, ob der Ermordete ihr Sohn wäre. Worauf Marfa: „Das hättet ihr mich fragen sollen, als er noch lebte. Jetzt ist er es nicht mehr.“

Gerade hier also mag die Frage platzberechtigt sein: Wer war denn der falsche Demetrius eigentlich? Man weiß es nicht. Denn bis zur Stunde ist es der Geschichtswissenschaft noch nicht gelungen, Mittel und Wege ausfindig zu machen, um diese Frage mit Bestimmtheit oder auch nur mit einiger Sicherheit beantworten zu können. Auch die fünfbändige, im Jahre 1837 durch Ustrialow in Petersburg veröffentlichte „Sammlung von zeitgenössischen Berichten über den falschen Dmitry“ hat hieran im Grunde wenig geändert und gebessert.[1] In der amtlichen Welt Rußlands gilt die, wie wir sahen, zuerst durch Boris Godunow aufgestellte Behauptung, der falsche Dmitry wäre ein entlaufener russischer Mönch gewesen und hätte eigentlich Grischka Otrepiew geheißen, noch jetzt. Darum ist es in der orthodoxen russischen Kirche noch heute Brauch, alljährlich an einem bestimmten Tage über diesen Grischka Otrepiew als über den falschen Dmitry eine feierliche Verfluchung zu sprechen. Das beweis’t aber gar nichts, beweis't gerade so wenig wie der Umstand, daß der russische Dichter Puschkin in seinem Trauerspiel „Boris Godunow“ die herkömmliche Legende an- und aufnahm. Ein stichhaltiger Beweis für die Dieselbigkeit des Grischka und des Dmitry ist nie beigebracht worden. Im Gegentheil, gerade die älteste und unverdächtigste Quelle, die handschriftlichen Denkwürdigkeiten des Konrad Bussow, sie meldet ausdrücklich und bestimmt, daß der verlaufene Mönch Grischka Otrepiew nur einer der Handlanger des falschen Dmitry gewesen sei, und benamset diesen Handlanger nicht gerade schmeichelhaft, aber doch auszeichnend „des Teufels Instrument“. Auch der Franzos Jacques Margeret, welcher im Jahre 1601 nach Rußland gekommen und zuerst in den Diensten von Boris, dann in denen Dmitry’s gewesen ist, 1606 nach Frankreich zurückkehrte und 1607 in Paris sein Buch „Estat de l'empire de Russie“ drucken ließ, berichtet als Augenzeuge, daß Grischka Otrepiew ein Helfershelfer des Pseudozaren gewesen und von diesem, welchem der wüste Trunkenbold und Aergernißgeber lästig geworden, aus Moskau nach Jaroslaw verbannt worden sei.

Der russische Geschichtschreiber Karamsin hatte in seinem großen Werke der gäng und gäben Legende von der Identität des Grischka und des Dmitry sich bequemt. Dann aber sind ihm Zweifel aufgestoßen und er schickte sich an, die Sache einer neuen und genaueren Untersuchung zu unterziehen. Der Zar Alexander der Erste untersagte das jedoch ausdrücklich dem Historiker. Alexander nämlich stand dazumal in der Blüthe seiner Vorliebe für Polen und wollte daher nicht, daß die Polen mittels Wiederaufrührung der alten Stänkerei unangenehm berührt würden.

Wenn es nun wahrscheinlich für immer verborgen bleiben wird, wer der Betrüger und Schwindler eigentlich gewesen, so steht dagegen sein Betrüger- und Schwindlerthum fest. Aber war er ein Betrüger aus eigenem Antrieb? Oder ein künstlich zubereiteter, sorgfältig dressirter? Auch das ist ein zur Stunde noch ungelöstes Problem. So ich alles zusammenhalte, was die echten Quellen und ältesten Zeugnisse ergeben, bin ich geneigt, zu glauben, der Abenteurer, welcher die Rolle des falschen Demetrius spielte, müßte ein geborener Pole gewesen sein. Die polnische Sprache war ihm notorisch geläufiger als die russische; auch zog er polnisches Wesen, die polnische Art, das Leben zu fassen und zu führen, der russischen entschieden vor. Viele von den polnischen Edelleuten, welche sein Unternehmen unterstützten, sprachen es ganz offen aus, daß sie ihn für einen Bankert des verstorbenen Königs von Polen, Stephan Bathory, hielten. Ein von mir gemachter Versuch, diese Spur weiter zu verfolgen, ist resultatlos geblieben.

Aber war die Rolle, welche der Schwindler spielte, eine spontane, eine von ihm selbst ausgeheckte, oder war es eine ihm von anderer Hand überbundene, eine angelernte? Wenn ich recht erwäge, lassen sich die beiden Seiten der Frage etwa so mitsammen vermitteln, daß wir annehmen, der junge Mann sei von sich aus auf die abenteuerliche Idee verfallen, als der ermordete Zaréwitsch Dmitry sich aufzuspielen, sofort aber auch von den Jesuiten, welche dazumal am Hofe Sigismunds allmächtig waren, als ein vortreffliches Werkzeug für ihre Pläne erkannt und als solches gehandhabt worden, d. h. als ein Werkzeug zur Inswerksetzung des

  1. In dieser Denkschriftensammlung befinden sich auch zwei von Deutschen herrührende: „Die Chronik von Moskau“ von Martin Bär und die „Denkwürdigkeiten“ von Georg Peyerle. Martin Bär hat zur Zeit des falschen Demetrius als lutherischer Pastor in Moskau gelebt. Es stellte sich aber heraus, daß die Bär’sche Chronik größtentheils nur die Abschrift der Aufzeichnungen eines andern Deutschen ist, des Konrad Bussow, welcher ebenfalls zur Zeit der Dmitry-Episode zu Moskau und Kaluga sich aufgehalten hat. Hanns Georg Peyerle war ein augsburger Kaufmann, welcher zur gleichen Zeit von geschäftswegen in Rußland sich befand. Für eine Quelle zweiten Ranges kann gelten das bald nach den bezüglichen Ereignissen, 1620, in Leipzig erschienene Buch: „Historien und Berichte von dem Großfürstenthum Muschkow“, publicirt durch Petrum Petrejum von Erlesunda!
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 479. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_479.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)