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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


„Was kann ich denn noch hören?“

„Du weißt noch gar nichts Näheres. Hast Du wirklich keine einzige Frage an mich?“

„Nein!“

Heideck blickte seinen Neffen unruhig an; ein leidenschaftlicher Ausbruch wäre ihm lieber gewesen, als diese starre Theilnahmlosigkeit. Er setzte sich neben Edmund und ergriff seine Hand; dieser ließ es ohne Widerstand geschehen; er schien kaum zu wissen, was um ihn her vorging.

„Ich habe gestern Alles aufgeboten, Dir die Wahrheit zu verhehlen,“ fuhr der Baron fort; „denn auch ich bin vielleicht nicht ohne Schuld in dieser unglückseligen Sache. Ich habe damals eigenmächtig und gewaltsam in das Schicksal zweier Menschen eingegriffen und das hat sich schwer gerächt. Meine Absicht freilich war die beste. Ich wußte, daß der junge Officier, der meine Schwester liebte und dem sie sich heimlich verlobt hatte, ebenso arm war, wie sie selber. Er konnte ihr keine Zukunft, konnte ihr überhaupt erst nach langen Jahren seine Hand bieten, und ich liebte Constanze zu sehr, um sie in Sorgen und Trauer verblühen zu lassen. Als ich sie von dem Jugendgeliebten losriß und sie bestimmte, die Hand des Grafen Ettersberg anzunehmen, geschah es in der festen Ueberzeugung, daß es sich nur um eine flüchtige, romantische Mädchenneigung handelte, die mit der Vermählung zu Ende sei. Hätte ich geahnt, wie tief diese Leidenschaft wurzelte, ich hätte niemals eingegriffen. – Erst nach Jahresfrist, als ich erfuhr, daß jenes Regiment in die Ettersberg zunächst liegende Garnison versetzt worden war, kam mir eine Ahnung der Gefahr, und mein nächster Besuch hier machte diese Ahnung zur Gewißheit. Die alte Jugendliebe war bei dem Wiedersehen in ihrer ganzen Macht wieder aufgeflammt und zur Leidenschaft geworden, die alle Schranken niederriß. Als ich das entdeckte, als ich zwischen die Beiden trat und sie gewaltsam zum Bewußtsein ihrer Pflichten zurückrief, da – war es bereits zu spät.“

Er hielt inne und schien eine Antwort zu erwarten. Edmund zog seine Hand aus der des Oheims und stand auf.

„Weiter!“ sagte er mit halberstickter Stimme.

„Ich habe nichts weiter hinzuzufügen; mit jener Trennung war Alles zu Ende. Ich sagte Dir bereits gestern, daß das Bild einen Todten darstelle. Er fiel schon im nächsten Jahre, als eines der ersten Opfer des damals ausbrechenden Krieges. Meine Schwester hat ihn nie wiedergesehen. – Nun kennst Du den Zusammenhang, und nun versuche, Dich zu fassen! Ich begreife es ja, daß der Schlag Dich furchtbar trifft. Du mußt ihn eben als ein Verhängniß nehmen.“

„Jawohl, als ein Verhängniß!“ wiederholte Edmund. „Du siehst es ja, daß ich ihm erliege.“

„Man erliegt nicht so leicht dem ersten Sturm des Lebens,“ sagte Heideck ernst. „Du wirst es auch lernen zu tragen, was Du doch nun einmal tragen mußt. Aber jetzt raffe Dich auf und entreiße Dich diesem trostlosen Brüten über das Unabänderliche! Willst Du nicht endlich zu Deiner Mutter kommen?“

Der junge Graf machte eine heftig zurückweisende Bewegung.

„Nein, Onkel! Verlange das nicht von mir – nur das nicht!“

„Edmund, sei vernünftig! Du kannst Dich doch nicht ewig in Deinen Zimmern einschließen.“

„Ich verlasse sie noch heute. Ich reise in zwei Stunden ab.“

„Du willst fort? Wohin denn?“

„Nach der Residenz – zu Oswald.“

„Zu Oswald?“ rief Heideck, indem er jäh von seinem Sitze emporfuhr und seinen Neffen anstarrte, als habe er nicht recht gehört. „Bist Du von Sinnen?“

„Habt Ihr vielleicht geglaubt, ich werde mich zum Mitschuldigen des Verrathes machen?“ brach Edmund aus, dessen bisherige unheimliche Ruhe jetzt einem fieberhaften Aufflammen wich. „Habt Ihr es wirklich für möglich gehalten, daß ich schweigen und fortfahren würde, den Majoratsherrn zu spielen, während der rechtmäßige Erbe vertrieben und in ein Leben voll Entbehrungen hinausgejagt wird? Wenn Ihr das vermochtet – ich vermag es nicht. Wie ich das Furchtbare ertragen werde, und ob ich es überhaupt tragen kann, das weiß ich nicht. Aber eins weiß ich: ich muß zu Oswald, muß ihm sagen, daß er betrogen ist, daß ihm die Herrschaft in Ettersberg gebührt. Er soll Alles wissen und dann – werde aus mir, was da will.“

Heideck hatte mit tödtlichem Schrecken zugehört. Was er auch gefürchtet haben mochte – auf diese Wendung war er nicht gefaßt gewesen. Wenn Edmund erfuhr, daß Oswald das Geheimniß bereits kannte oder doch wenigstens ahnte, so war eine Erklärung zwischen den Beiden nicht mehr zu verhindern, und dann stürzte Alles zusammen. Der Oheim erkannte die unabsehbaren Folgen einer derartigen Katastrophe besser, als sein leidenschaftlicher Neffe, und war entschlossen, sie um jeden Preis abzuwenden.

„Du vergissest, daß es sich hier nicht um Dich allein handelt,“ sagte er mit Nachdruck. „Hast Du bedacht, wen Du mit diesem Geständniß anklagst?“

Edmund zuckte zusammen, und die fieberhafte Gluth, die eben noch sein Antlitz färbte, wich einer Leichenblässe.

„Oswald ist von jeher der Feind Deiner Mutter gewesen,“ fuhr Heideck fort. „Er hat sie stets gehaßt, und sie hat sich niemals darüber getäuscht. Willst Du wirklich ihm, gerade ihm das Geständniß machen, das sie vernichtet? Er wird triumphiren, wenn er die gehaßte Frau endlich im Staube vor sich sieht, wenn der eigene Sohn –“

„Onkel, hör' auf!“ unterbrach ihn Edmund mit einem wilden Aufschrei. „Ich ertrage das nicht.“

„Ich habe nicht geglaubt, daß Du auch nur einen Augenblick zwischen Deiner Mutter und Oswald schwanken könntest,“ sagte der Baron finster. „Du hast hier überhaupt keine Wahl; Du mußt Dich der Nothwendigkeit beugen.“

Edmund hatte sich in einen Sessel geworfen und das Gesicht in den Händen verborgen; ein leises Stöhnen rang sich aus seiner Brust hervor.

„Glaubst Du, daß es mir leicht geworden ist, zu schweigen und das zu unterstützen, was Du Verrath nennst?“ fragte der Oheim nach einer kurzen Pause. „Aber ich wiederhole Dir: es gab und giebt hier keine Wahl für Dich. Das Majorat ist nicht übertragbar und haftet an Deiner Person. Du mußt entweder Herr in Ettersberg bleiben, oder aller Welt das Geheimniß aufdecken, und dann wird die Ehre der Ettersberg wie die der Heideck rettungslos preisgegeben. Einen anderen Ausweg giebt es nicht. Das habe ich damals meiner Schwester in's Gedächtniß gerufen, als sie auf dem Punkte stand, sich ihrem Gemahl zu entdecken, und das rufe ich Dir jetzt zu. Du mußt schweigen! Wenn Oswald's Zukunft dabei geopfert wird, so können wir das nicht ändern. Die Familienehre steht höher, als sein Recht.“

Er sprach mit eiserner Ruhe, aber eben deshalb wirkten seine Worte um so tiefer, und Edmund fühlte nur zu sehr deren Wahrheit. Es war ein verzweifelter Kampf zwischen dem Rechtsgefühl des jungen Mannes und der Nothwendigkeit, die man ihm so gebieterisch vor Augen hielt. In seinem Inneren klang noch Oswald's Frage: „Und wenn Du schweigen müßtest, um der Familienehre willen?“ Er war freilich weit entfernt, dieser Frage des Vetters eine tiefere Bedeutung beizulegen oder dessen Kenntniß der Wahrheit zu ahnen. Jenes Gespräch hatte sich ja ganz selbstverständlich und natürlich ergeben. Damals war der junge Graf in so leidenschaftlicher Empörung aufgeflammt, weil man es wagte, seiner Mutter eigennützige Berechnung vorzuwerfen. Er hatte so stolz und verächtlich erklärt, daß er keinen Schatten, keine Lüge in seinem Leben dulde, daß er der Welt mit freier Stirn gegenüber treten müsse. Das war vor zwei Tagen gewesen, und jetzt –?

Baron Heideck verlor keine Zeit, seinen Sieg zu einem vollständigen zu machen. Er ergriff das letzte und wirksamste Mittel dazu.

„Und nun komm zu Deiner Mutter!“ sagte er in weicherem Tone. „Du weißt nicht, in welchem Zustande sie seit gestern Abend ist. Sie wartet in Todesangst auf eine Nachricht von Dir, auf ein Wort aus Deinem Munde. Komm!“

Edmund ließ sich willenlos emporziehen und einige Schritte führen; an der Thür aber blieb er plötzlich stehen.

„Ich kann nicht.“

Heideck, der bereits die von innen verschlossene Thür geöffnet hatte, achtete nicht auf diesen Protest, sondern suchte seinen Neffen fortzuziehen; aber dieser widerstrebte jetzt entschieden.

„Ich kann die Mutter nicht sehen. Dränge mich nicht dazu, Onkel, zwinge mich nicht, oder – Du erlebst eine Wiederholung der gestrigen Scene!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 482. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_482.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)