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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)

vermehrte sich noch von Woche zu Woche. Vieles, das Meiste darunter ist reiner Schund, Manches passables Mittelgut, Einzelnes, wie die Schriften von Engels, Lassalle, Marx, Lange, Jacoby etc., gehört zu den namhaftesten Werken unserer politischen und socialen Literatur.

Alle diese Erscheinungen fanden eine aufmerksame und weite Lesewelt im deutschen Arbeiterstande; in einer Berliner Volksversammlung rühmte sich einmal ein einfacher Arbeiter, daß er eine Broschüre Lassalle’s achtmal habe Zeile für Zeile durchackern müssen, um sie zu verstehen, aber nun habe er sie auch gründlich verstanden, und keine Macht der Welt könne ihn mehr dieses geistige Eigenthum entreißen. Der kleine Zug kennzeichnet treffend, mit welcher hartnäckigen Leidenschaft die Arbeiter darnach rangen, diese Nahrung völlig in ihr Fleisch und Blut aufzunehmen. Ein beiläufiger, aber deshalb nicht minder willkommener Erfolg dieses Büchervertriebes war, daß er der Partei einen namhaften Ueberschuß abwarf.

Noch ausgebreiteter und wirkungsvoller war die periodische Literatur der Socialdemokratie, welche vom eintägigen Wahlflugblatte bis zum jährlich erscheinenden Kalender alle denkbaren Formen dieser Art Druckschriften umfaßte. Am zahlreichsten in ihr war natürlich die politische Tagespresse vertreten. Viele dieser Blätter gingen so schnell, wie sie kamen, sodaß eine völlig sichere Statistik über sie nicht aufzustellen ist.

Um die Jahreswende von 1877 auf 1878 erschienen etwa fünfzig socialdemokratische Zeitungen, von denen ungefähr der dritte Theil sechsmal, die übrigen ein-, zwei- und dreimal in der Woche herausgegeben wurden. Dazu kamen je ein Witzblatt in Braunschweig und Chemnitz und vierzehn Gewerkschaftsorgane, die neben ihren Fachinteressen auch für die Ausbreitung der communistischen Grundsätze sorgten. Im Ganzen und Großen waren all diese Blätter vollkommen werthlos; ihre geistige Habe, ihre politische Wehr und Waffen waren einzig unverdaute Phrasen aus den Broschüren von Lassalle und Marx. Abgesehen von einigen catilinarischen Existenzen, die sich mit größerem oder geringerem Rechte einer „akademischen Bildung“ rühmten, wurden die Redactionsgeschäfte von Arbeitern erledigt, Böttchern, Lohgerbern, Maurern, Schlossern, Schneidern, Schriftsetzern und andern Handwerkern, bei denen von einer publicistischen Befähigung nicht wohl die Rede sein konnte.

Höher standen der „Vorwärts“ in Leipzig, das amtliche Blatt der Partei, die „Neue Gesellschaft“ und die „Zukunft“, ihre wissenschaftlichen Zeitschriften, endlich die „Neue Welt“, ihr Unterhaltungsblatt, die socialdemokratische „Gartenlaube“, wie sie von ihren Lesern stolz genannt wurde. Der „Vorwärts“ sollte vornehmlich einen geistig ebenbürtigen Kampf mit den Gegnern der Partei führen; er hat sich dieser Ausgabe zeitweise nicht ohne Erfolg, Geschick und Glück entledigt, eine ganze Reihe socialpolitisch bemerkenswerter Aufsätze gebracht, aber er selbst verscherzte meist die errungenen Vortheile durch eine rohe und wüste Sprache, durch wüthende Verleumdungen des persönlichen Charakters seiner Widersacher, durch halbe Unzurechnungsfähigkeit in Beurtheilung der politische Tagesfrage. Eine durchaus anständige Form bewahrten die wissenschaftlichen Zeitschriften, welche die besitzenden und gebildeten Classen mit den Zielen der Socialdemokratie befreunden sollten; inhaltlich brachten sie in bunter Mischung dürftige und gehaltvolle Artikel. Die „Neue Welt“ sollte die Frauen und Kinder der Arbeiter gewinnen; sie stieg bald auf vierzigtausend Abonnenten, ein nicht unverdienter Erfolg; denn geschickt und maßvoll geschrieben, durfte sie wohl den ersten Platz unter den periodischen Preßerzeugnissen der Partei beanspruchen.

Wenn diese Organe höhere Zwecke verfolgten, so waren umgekehrt die socialdemokratische Kalender bestimmt, tagaus tagein als Brander auf der weiten See der arbeitenden Bevölkerung zu kreuzen und in jene entlegenen Buchten und Winkel zu dringen, in welche selbst der leichtest beschwingte Nachen der Tagespresse noch nicht zu gelangen vermag. Der „Arme Conrad“ war mehr auf die städtische, der „Volkskalender“ mehr auf die ländliche Arbeiterbevölkerung berechnet; jener setzte etwa sechszigtausend, dieser erheblich weniger Exemplare ab. Ihr literarischer Werth fiel unter Null; sie entbehrten namentlich, was überaus bezeichnend ist, jeder Spur volksthümlichen Humors. Bemerkenswerth an ihnen war nur die Geschicklichkeit, mit welcher die von ihnen verfochtene Weltanschauung jeden Stoff bis in die innerste Faser und bis zum obersten Rande zu sättigen und zu tränken wußte. Diese Pandorabüchsen waren voll gerüttelt und geschüttelt von Haß, Neid, Zorn, Unzufriedenheit, Wuth, von allen wilden und zügellosen Leidenschaften der menschlichen Brust.

So etwa stellt sich nach ihren allgemeinsten Umrissen die waffenklirrende Rüstung dar, welche die deutsche Socialdemokratie in den Tagen ihrer höchsten Blüthe trug. Darnach kann man einigermaßen abwägen, welches Maß von Geld, Kraft und Zeit sie verschlungen, welche Unsummen von Opfern, die von blutarmen Arbeitern gebracht wurden, sie erheischt hat. Rechnet man nun gar noch die riesigen Verluste hinzu, welche die zahllosen socialdemokratischen Strikes in der ersten Hälfte der siebenziger Jahre dem nationalen Wohlstande zugefügt haben, so ergiebt sich, daß dieser „Militäretat“ so kostspielig gewesen ist, wie nur irgend ein anderer – so kostspielig, aber nicht entfernt so notwendig und nützlich. Blickt man nämlich auf die Kehrseite der Medaille, erwägt man, ob diese gewaltigen Aufwendungen den Arbeitern irgend welchen nennenswerten Nutzen gebracht haben, so wird das dunkle Bild nur um so viel dunkler; Schlagschatten auf Schlagschatten fällt hinein, kaum hier und da ein leiser Lichtstreif.

Verhältnißmäßig die größten Erfolge wurden in Wahlkämpfen errungen; bei den Reichstagswahlen von 1877 gewann die Partei beinahe eine halbe Million Stimmen, fast den zehnten Theil der gesammten gültigen Stimmenzahl. Sie erwies sich als die viertstärkste Partei im deutschen Reiche – gewiß ein staunenswerther Erfolg, welcher sie mit lebhafter Genugthuung erfüllen durfte, aber im Wesen der Sache doch nur eine moralische Eroberung. Die Zahl der Abgeordneten entsprach keineswegs der Zahl der Stimmen; es gelang nicht mehr als zwölf socialdemokratische Mandate zu erobern. Und auch dieses Maß gesetzgeberischen Einflusses wurde in schmählicher Weise von denen verzettelt, in deren Hände es gelegt worden war.

Gewiß ist die Vertretung der Arbeiterinteressen ein berechtigter und erwünschter Factor im großen Rathe der Nation, wenn aber diese Anschauung noch vielfach verkannt wird, so haben es die Arbeiter allein dem parlamentarischen Treiben der socialdemokratischen Abgeordneten zu danken. Niemals haben dieselben auch nur versucht, mit Eifer und Ernst sich an den Geschäften des Reichstages zu betheiligen; meist wohnten sie den Sitzungen gar nicht bei; hielten sie es gelegentlich der Mühe werth, zu kommen, dann war ihre einzige Leistung die Wiederholung einer und derselben Drohrede, bald in halbwegs anständiger Form, bald so stark gepfeffert, daß ein Petroleumdunst durch das ganze Haus zog. Daneben benutzten sie höchstens, wie es noch in der diesjährigen Frühjahrssession des Reichstages geschah, die Redefreiheit der parlamentarischen Tribüne, um aus diesem sicheren Hinterhalte wehrlose Privatpersonen zu verleumden, die ihr Mißfallen erregt hatten.

Sie betheiligten sich selbst nicht, wenn andere Parteien sich bemühten, das bestehende Arbeiterrecht zu erweitern; ihre Abwesenheit verschuldete, daß bei der Berathung der Gewerbe-Ordnungsreform in der endgültigen Abstimmung die strengeren Bestimmungen über die Sonntagsruhe fielen, die bei der vorläufigen Abstimmung im Interesse der arbeitenden Classen angenommen worden waren.

Einmal zwar schien die socialdemokratische Reichstagsfraction einen sachlichen Zweck zu verfolgen; sie brachte ein Arbeiterschutzgesetz ein, aber auch damit war es eitel Schwindel. Die Einzelnheiten dieses Entwurfs waren sinnlos, ohne jede Rücksicht auf die concreten Verhältnisse der deutschen Industrie aus der englischen und schweizerischen Gesetzgebung ausgeschrieben; es lag auf der Hand, daß der Reichstag ein so form- und gedankenloses Machwerk nicht annehmen konnte und würde; darüber waren sich seine Urheber auch vollkommen klar und gestanden auf ihrem Parteicongresse mit preiswürdiger Offenheit, daß sie an diesem Antrage nur eine scharfe Agitationswaffe hätten schleifen wollen für Gegenden, in denen andere Parteien starke Anhang unter den Arbeitern hätten.

Entsprechend dieser Haltung hat die socialdemokratische Agitation auch außerhalb des Reichstages gar nichts gethan, die sachlichen Interessen der Arbeiter zu fördern. Sicherlich ist noch viel zu wenig geschehen, den gerechte Beschwerden unserer niederen Volksschichten abzuhelfen, aber ebenso unbestreitbar ist, daß noch jede andere Partei mehr auf diesem Gebiete geleistet

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 504. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_504.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)