Seite:Die Gartenlaube (1880) 530.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


seltsam forschenden Ausdruck der Gräfin, als diese das Zimmer verließ.

Sie wollte wohl dem Alleinsein mit ihrem Neffen entgehen; denn Hedwig hatte ihren Bräutigam hinunterbegleitet und sah vom Portal des Schlosses aus der Abfahrt zu.

Im Schloßhofe herrschte reges Leben. Eine Anzahl von Schlitten stand bereit, um die Herren aufzunehmen und nach dem ziemlich entfernten Jagdrevier zu führen. Die Dienerschaft eilte geschäftig hin und her; der Jäger des Grafen, der die Hunde an der Leine hielt, vermochte kaum deren Eifer zu zügeln, und auch die Pferde gaben ihre Ungeduld über das lange Warten durch Stampfen und Scharren kund.

Am unruhigsten zeigten sich die beiden schönen Rappen, die vor einen kleinen Schlitten gespannt waren, der nur für zwei Personen Raum bot. Es waren dieselben unbändigen Thiere, die damals den Unfall am Hirschberge veranlaßt und die Gräfin in Lebensgefahr gebracht hatten. Diese benutzte seitdem stets andere Pferde zu ihren Ausfahrten und hätte die Rappen am liebsten gar nicht mehr geduldet, aber Edmund hatte eine Vorliebe für die prächtigen Thiere, die allerdings ihres Gleichen suchten. Er hatte sie auch heute vor seinen eigenen Schlitten legen lassen, den er stets selbst führte, und trat soeben heran, um die Zügel aus der Hand des Dieners zu nehmen.

Es war alles bereit, aber die Abfahrt verzögerte sich noch eine Weile. Irgend eine Bemerkung des jungen Grafen mußte eine Debatte hervorgerufen haben, die von den Herren sehr lebhaft erörtert wurde. Man stritt augenscheinlich für und wider eine Sache; das laute Sprechen und Lachen drang bis zu Oswald herauf, aber die geschlossenen Fenster hinderten ihn, die Worte zu verstehen. Edmund sprach am lebhaftesten, einige der älteren Herren schüttelten die Köpfe und schienen abzumahnen. Endlich war die Sache erledigt; man ordnete sich zur Abfahrt, und auch Edmund nahm in seinem Schlitten Platz. Aber er fuhr seltsamer Weise allein; der Sitz an seiner Seite blieb leer, auch der Kutscher blieb auf seinen Wink zurück, während er selbst Zügel und Peitsche ergriff.

Die Jäger grüßten noch einmal nach dem Portale hin, wo die Braut des Schloßherrn stand. Auch Edmund that das, wie all die Uebrigen, dann aber richtete sich sein Blick empor zu den Fenstern seiner Mutter. Die Gräfin mußte wohl jetzt dort erscheinen; denn das Auge ihres Sohnes hing unverwandt an jenem Punkte. Er warf einen Gruß hinauf, viel leidenschaftlicher und inniger als der, welcher vorhin seiner Braut galt, und in diesem Augenblick brach es mitten durch den so gewaltsam festgehaltenen Uebermuth, wie ein wildes, verzweifeltes Weh. In dem Abschiedsblick, der zu der Mutter emporflog, lag etwas wie eine stumme, flehende Abbitte. Dann sauste die Peitsche nieder, daß die feurigen Rosse sich hoch aufbäumten und im Davonstürmen den Schnee unter ihren Hufen aufstäuben ließen. Die übrigen Schlitten folgten und mit lautem fröhlichem Lärm eilte der Jagdzug dahin.

Oswald war wie im plötzlichen Schrecken vom Fenster zurückgetreten.

„Das sah ja aus wie ein Abschied!“ murmelte er. „Was soll das bedeuten? Was hat Edmund vor?“

Er verließ das Gemach und wollte rasch durch das anstoßende Zimmer dem Ausgange zuschreiten, als ihm Eberhard begegnete, der soeben vom Hofe heraufkam.

„Weshalb gab es noch einen Aufenthalt vor der Abfahrt?“ fragte Oswald hastig. „Was hatten die Herren vor, und weshalb fuhr der Graf allein in seinem Schlitten?“

„Es gilt eine Wette,“ sagte Eberhard mit bekümmerter Miene. „Der Herr Graf will über den Hirschberg fahren.“

„Ueber den steilen Hirschberg? So unmittelbar nach einem Schneefall? Das ist ja gefährlich.“

„Ja, das meinten die anderen Herren auch, aber der Herr Graf verspottete sie wegen ihrer Aengstlichkeit und wettete, er werde, wenn er über den Hirschberg fahre, eine volle Viertelstunde früher in den Forsten sein, als die Anderen. Da half kein Abmahnen und keine Bitte, auch nicht die des gnädigen Fräuleins, die Wette wurde gehalten. Wenn nur nicht gerade die wilden Rappen –“

„Wer hieß denn auch gerade heute die unbändigen Thiere vor den Schlitten meines Vetters legen?“ unterbrach ihn Oswald. „Er fährt ja meist mit den Schimmeln.“

„Es war ausdrücklicher Befehl des Herrn Grafen. Er kam vor dem Frühstück eigens herunter, um es anzuordnen.“

„Und der Kutscher? Weshalb blieb der zurück?“

„Auch auf Befehl! Der Herr Graf wollte durchaus ohne Begleitung fahren.“

Oswald sagte kein Wort. Er ließ den alten Diener stehen und eilte ohne weiteres Besinnen hinüber zu den Zimmern seiner Tante. Die Gräfin stand noch am Fenster, obwohl der Jagdzug längst verschwunden war. Sie wußte nichts von der Scene, die heute Morgen bei ihrem Sohne stattgefunden hatte, aber sie mußte doch irgend etwas ahnen oder fürchten; denn ihre Hände waren wie in stummer Angst gefaltet und auf dem Antlitz, das sie jetzt dem Eintretenden zuwendete, lag eine tiefe Blässe.

Sie schrak zusammen, als Oswald so plötzlich und unangemeldet bei ihr erschien. Es war das erste Mal seit seiner Abreise, daß er ihr allein gegenüberstand. Gestern und heute Morgen hatten sie sich nur in Gegenwart der Fremden gesehen, und ihr Verkehr hatte sich auf eine kurze, förmliche Begrüßung beschränkt. Die Gräfin durfte keine Schonung von dem Manne erwarten, den sie als ihren bittersten Feind betrachtete, und der jetzt vollauf Ursache hatte, es zu sein. Wenn er auch seine gefährlichste Waffe großmüthig aus der Hand gegeben hatte, er kannte sie doch, und schon das gab ihm Macht genug über seine Tante. Aber diese Frau war von jeher nur ihrem Sohne gegenüber schwach gewesen, und so richtete sie sich den auch hier zur äußersten Abwehr entschlossen auf. Sie stand starr und kalt da, bereit keinen Schritt zu weichen, aber auf Alles gefaßt.

Doch nichts von dem, was sie erwartete und fürchtete, kam von den Lippen Oswald's. Er trat nur rasch heran und fragte mit halbunterdrückter Stimme:

„Was ist mit Edmund vorgegangen?“

„Mit Edmund? Was meinst Du?“

„Er ist furchtbar verändert seit unserer Trennung. Es muß irgend etwas geschehen sein, was ihn außer sich bringt und ihm zeitweise fast die Besinnung zu rauben droht. Ich glaubte anfangs den Grund zu errathen, sehe aber jetzt, daß ich mich vollständig getäuscht habe. Was ist geschehen, Tante?“

Ueber die fest zusammengepreßten Lippen der Gräfin kam kein Wort. Sie kannte am besten die unheilvolle Veränderung ihres Sohnes, aber diesem Manne gegenüber konnte sie das nicht eingestehen.

„Verzeih, daß ich eine peinliche Frage an Dich richten muß!“ fuhr Oswald fort. „Es gilt das Schlimmste zu verhüten, und da müssen alle andern Rücksichten fallen. Ich übergab bei meiner Abreise Deinem Bruder ein Päckchen. Ich sagte ihm ausdrücklich, daß es für Dich allein bestimmt sei, daß Edmund den Inhalt nicht kennen dürfe – hat er vielleicht dennoch – – ?“

Die sichtbare Unruhe und Aufregung ihres sonst so kalten, besonnenen Neffen gaben der Gräfin die Gewißheit einer Gefahr, die sie bisher nur geahnt hatte. Sie forschte angstvoll in seinen Zügen, als sie statt aller Antwort fragte:

„Warum ist Edmund allein gefahren? Und was bedeutete der Gruß, den er mir zuwarf? Du weißt es, Oswald.“

„Ich weiß nichts, aber ich fürchte Alles, nach der Scene, die heute Morgen zwischen uns vorfiel. Edmund hat eine tollkühne Wette gemacht. Er will jetzt, bei diesem Wetter, über den steilen Hirschberg fahren. Auf seinen ausdrücklichen Befehl sind die wilden Rappen vor den Schlitten gelegt worden und der Kutscher hat zurückbleiben müssen. Du siehst, es handelt sich hier um Leben und Tod, und darum muß ich die Wahrheit wissen. Kennt Edmund den Inhalt jenes Päckchens?“

Ein halbersticktes „Ja“ rang sich aus der Brust der Gräfin hervor. Mit diesem eine Worte gestand sie Alles zu, gab sie sich vollständig in die Hände ihres Neffen, aber sie dachte in diesem Augenblick nicht einmal daran. Es handelte sich um Leben und Tod ihres Sohnes – was fragte die Mutter da nach dem eigenen Verderben!

„Um Gotteswillen, dann plant er etwas Schreckliches,“ fuhr Oswald auf. „Jetzt verstehe ich Alles.“

Die Gräfin stieß einen Schrei aus; auch ihr ging jetzt das Verständniß jenes Abschiedsgrußes auf.

„Ich muß ihm nach,“ sagte Oswald rasch entschlossen, indem er die Klingel zog. „Es ist kein Augenblick zu verlieren.“

„Ich – ich werde Dich begleiten,“ stieß die Gräfin hervor,

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 530. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_530.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)