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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


schaut das Watt drein, wenn schwere Nebelmassen darüber lagern und seine matt und trüb schimmernde Oberfläche fernhin in den feuchten Schwaden sich gleichsam aufzulösen scheint, als befände man sich, um mit den Alten zu reden, am Ende des Okeanos, wo Erde, Meer und Luft in einander verschwimmen. An den Flußmündungen liegen einzelne kleinere Flächen vom Strome umflossen, wie schleimige, schlüpfrige Riesenquallen, welche die Fluth an den Strand warf, und wer bei solch „mistiger“ Witterung, wie der Seemann sagt, unsere Flußmündungen passirte, wird sich mit leisem Grauen dieser schmutzig bleifarbenen Bänke erinnern, welche so unheimlich über den Gewässern emporragen und auf deren Rücken schon so manch wackeres Schiff geborsten ist.

Mit einem Schlage aber ändert sich die ganze Scenerie in dem Augenblicke, wo die Sonne hervortritt. Bei Mittagssonne liegt das Watt wie eine leuchtende gleißende Metallfläche vor uns, welche das Auge blendet, sodaß es unmöglich ist, längere Zeit hinauszublicken. Eine wundervolle Stimmung aber breitet sich des Morgens und Abends darüber aus, und selbst die kühnste Phantasie würde auf der bei trübem Wetter so finster und mürrisch dreinschauenden Fläche nicht jenen Farbenreichthum vermuthen, welchen die tieferstehende Sonne darüber ausstreut. Dies erklärt sich aus der Gestaltung des Watt. Dasselbe ist nämlich durchaus nicht etwa eine gleichmäßig glatte Fläche, wie es vom Strande aus erscheint, sondern im Gegentheil ein ziemlich stark coupirtes Terrain von sehr verschiedener Zusammensetzung. Risse, Rinnsale, tiefere Spalten, muldenförmige Vertiefungen kreuzen sich überall und bilden zum Theil wirkliche kleine Flußbetten, die sogenannten „Prielen“. Im Terrain selbst aber schieben sich zwischen theils gehärtete, theils noch weiche und nachgebende Schlick- und Schlammmassen gewaltige Strecken festen harten Thones, Muschelbänke und Sanddünen, auf denen das Spiel der ebbenden Wellen die zierlichsten Figuren zurückläßt. Wenn nun Himmel und Wolken in reichem Farbenschmucke leuchten, so spiegelt das feuchte Watt diese nämlichen Farben wieder, jeden Theil aber in seinem Localtone, den Schlamm anders als den Thon und diesen wieder anders als den Sand – fast alle Farben der Palette sind vertreten, namentlich aber ein intensives Violett in allen seinen Nüancen. Da aber, wo das Tagesgestirn über dem Horizonte steht, sendet es eine wahre Feuergarbe funkelnder, glitzernder und blitzender Lichtatome übers Watt, während die Prielen, vom Wasser erfüllt, wie leuchtende Schlangen sich hindurchwinden, ein Schauspiel, das namentlich von der Höhe, z. B. von einem Leuchtthurme aus gesehen, mit imponirender Großartigkeit und Eigenart wirkt.

Bei stillen warmen Frühlings- oder Sommertagen, oder auch wenn sich in der schwülen Luft ein Gewitter zusammenbraut, erscheint plötzlich über dem Horizonte, auf einer weißen Dunstschicht thronend – die Fata morgana. Schiffe schweben, ihr Bild verkehrt nach unten spiegelnd, in der Luft; entfernte, zum Theil unter dem Horizonte befindliche Gegenstände heben sich herauf und rücken näher, ja der Felsen von Helgoland wurde an der Küste oft so deutlich, über dem Watt emporsteigend, erblickt, daß man sogar die tiefliegende Düne erkennen konnte.

Um dem Bilde des Watts, sowie speciell dem unserigen gerecht zu werden, sei noch der Mondnacht gedacht! Man kann sich nach dem Gesagten wohl vorstellen, welch magischen Eindruck die Scenerie macht, wenn die breiten Wolkenschatten wie Gespenster über die im bleichen Lichte des Mondes geheimnißvoll schimmernde Fläche streichen. Der Mond aber ist es zugleich, der uns an eine Unterlassungssünde gemahnt; wir müssen nämlich darauf aufmerksam machen, daß es das Watt der Ebbezeit ist, welches wir schilderten; zweimal am Tage ebbt und fluthet das Meer darüber hin; zur Fluthzeit aber ist jene ganze Scenerie, die wir soeben beschrieben haben, verschwunden, und soweit wir blicken können, wogt die See.

Es ist nicht der wenigst interessante Moment, wenn die Fluth über das weite Watt herankommt. Ein frischer Luftzug geht ihr als Bote vorauf; dann naht ein leichtes Wellengeriesel, das sich leise zischend auflöst, um sofort wieder von Neuem zu beginnen; jetzt rauscht es da drüben an der Muschelbank auf; tiefe Stille – wiederum ein Rauschen – jetzt hier und da und dort; in langen Athemzügen naht die Fluth – nun wird es in den Rissen und Prielen lebendig, verworrene flüsternde Geräusche wie von tausend fliehenden Geistern tönen hervor, und unmittelbar darauf schießen dunkle schäumende Bäche und Flüsse heran, als wollte eine Welle die andere überflügeln, und ehe man noch recht weiß wie, ist Alles bereits eine graue schäumende Wassermenge; nur da, wo höhere Bänke liegen, hebt sich noch ein unregelmäßiges Gewoge und dringt ein dumpfes Gemurmel herüber, aber auch dieses verliert sich in der immer höher steigenden Fluth und endlich rollen in gleichmäßigen Pausen langgezogene Wellen dem Strande zu.

Anders freilich ist es, wenn zur Zeit der Tag und Nachtgleiche, vom heulenden Weststurme gepeitscht, das Meer mit stürmender Hand gegen die Deiche heranbraust: das ist die Zeit, wo jene Katastrophen eingetreten sind, denen gegenüber der Untergang von Städten wie Pompeji, Lissabon, Szegedin immer noch als ein kleineres Unglück erscheint.

Ueberall an unseren Küsten giebt es Wattstrecken, wo einst nicht die See wogte, nicht blos Schalthiere und Vögel eine Wüste belebten, sondern wo in blühenden Landschaften ein tüchtiges Geschlecht sich seines Daseins freute. Es würde uns zu weit führen, wollten wir hier von den Sturmfluthen berichten, welche unsere Küsten heimsuchten; die Geschichte dieser Jahrhundert um Jahrhundert wiederkehrenden „Manntränke“ ist so furchtbar, so großartig, daß sie eine Schilderung für sich erheischt, aber wer das Watt darstellen will, muß ihrer auch vor Allem gedenken, damit man wisse, daß meilenweite Strecken unserer Watten nichts anderes sind, als die düsteren Gräberstätten eines untergegangenen Culturlandes; allenthalben könnten wir Glocken von Vineta erlauschen, und es nimmt uns nicht Wunder, wenn auf den Inseln, wie z. B. auf Sylt, die Bevölkerung sich erzählt, daß in den Dünen am Watt Geister und Gespenster ihr Wesen treiben.

Die Erinnerung aber an jene Katastrophen führt uns überhaupt in die Vergangenheit zurück und damit auf ein Gebiet, das ein hohes Interesse beanspruchen darf. Von keiner Gegend unseres Vaterlandes nämlich besitzen wir so uralte Ueberlieferungen, wie von der Nordsee. Aus dem Mythencyclus der Hellenen dringt verschollene Sage auch von der Nordsee zu uns. Hier, im Norden des deutschen Meeres ist das Land, wo Nacht und Morgen so nahe an einander grenzen, daß der eintreibende Hirte dem austreibenden begegnet; hier geräth die Argo in so seichtes Meer, daß sie weiter gezogen werden muß; hier sinkt Phaëthon nach seiner tollen Fahrt nieder und seine herbeieilenden Schwestern, in Bäume verwandelt, erzeugen den Bernstein. Die Phönicier sind es vor Allem, deren Berichte sich in diesen durchaus localgetreuen Bildern widerspiegeln, denn schon im achten Jahrhundert v. Chr. dürfen wir sie auf ihren kühnen Fahrten an der britannischen Küste vermuthen, und wenn unter den Berichten, welche vermeintlich die anderen Nationen abschrecken sollten, ihren Handelswegen zu folgen, wenn unter diesen die Schilderung von dem im Westen immer seichter werdenden Meere erscheint, so lehrt uns ein Blick auf das Watt, daß sie ihre Angaben durchaus nicht aus der Luft griffen; denn von ihren Factoreien an der britannischen Küste aus besuchten sie die Nordsee-Inseln des Bernsteinhandels wegen und lernten das seichter werdende Meer aus eigener Anschauung kennen.

Haben wir es hier mit mehr sagenhaften Angaben zu thun, so sind wir andererseits im Besitze einer überaus interessanten Reisebeschreibung des ersten Weltumseglers, den die Geschichte kennt. Um die Zeit, da Alexander der Große griechische Cultur in das Innere Asiens trug, unternahm ein kühner Seefahrer aus Massilia, Pytheas mit Namen, eine Umsegelung der damals bekannten Welt jenseits der Säulen des Hercules, und was er sah und erlebte, legte er in einer Reisebeschreibung nieder, von der uns Bruchstücke erhalten geblieben sind.

Das höchst originelle Bild, welches wir von der Nordsee und ihren Küsten aus diesen Berichten und den Schriften derjenigen, die sie benutzten und ergänzten (unter ihnen Tacitus), erhalten, ist kurz gedrängt Folgendes: Nach einer Fahrt an der Küste hin über Island und die Westküste Britanniens gelangt Pytheas nach dem sagenhaften Thule, jedenfalls eine der Shetland-Inseln. Hier zeigen ihm die Eingeborenen am äußersten Horizonte die Stelle, wo die Sonne sich zur Ruhe legt, um nach kurzer Rast von wenigen Stunden sich wieder zu erheben. Hier beginnt auch das geronnene Meer, ein träges, beinahe unbewegliches und dunkel gefärbtes Wasser, das den Erdkreis umgürtet, von keinem Winde bewegt; ringsum ein Gemisch von Erde, Meer und Luft, wo man weder gehen noch fahren kann, einer Seequalle vergleichbar. Von hier aus kommt man in den Meerbusen Montonomon (die Nordsee), an dessen Ufern die Teutonen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 550. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_550.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)