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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


Zeit. Die Künstler, selbst dem Handwerk entwachsen, blieben ihm ihr Lebelang treu und, fast in jedem Materiale schöpferisch thätig, verstanden sie das allgemeine Kunstbewußtsein ihres Volkes in mustergültige Formen zu gießen. Auch der weniger begabte und ausgebildete Handwerker stand unter dem Einfluß eines gesunden und geläuterten Geschmacks. So strebte denn Alles mit Entschiedenheit einem einheitlichen künstlerischen Ziele zu.

Da kam der Dreißigjährige Krieg. Seine wuchtigen Schläge trafen das deutsche Land bis in’s innerste Mark, vernichteten den Wohlstand des Bürgers und Landmanns, lähmten die Lust und Freudigkeit am Schaffen, brachen das Unabhängigkeitsgefühl und hemmten den Schwung der Gedanken. Die nationale Kraft des Volkes erstarb; Gleichgültigkeit und Mißmuth traten an die Stelle der früheren Thätigkeit, und um Kunst und Handwerk war’s geschehen. Die Zeit des tiefsten Verfalls begann; dem deutschen Volke ging das politische Bewußtsein verloren. Jetzt erhob sich das französische Königthum zur europäischen Herrschaft, und französisches Wesen und französische Kunst, nur auf die Verherrlichung der fürstlichen Gewalt gerichtet, gleichsam eine Apotheose des Monarchenthums, hielten ihren siegreichen Einzug in unser Land, und unsere Väter wurden gewohnt, die Normen des Geschmacks aus der Fremde, von Frankreich zu empfangen.

Länger als ein Jahrhundert hatte diese Abhängigkeit in ungeschwächter Kraft gedauert. Aus dem Barokstil hatte sich inzwischen das Rococo und aus diesem unter Ludwig dem Sechszehnten der sogenannte Zopf entwickelt, ein Stil, der die allmählich in dem Rococo eingerissene Verwilderung durch Anlehnen an die antike, ornamentale Formenwelt zu bekämpfen suchte. Da fuhren wie ein Donnerwetter die Stürme der französischen Revolution dahin; Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ward die Losung; dem citoyen schien principielle Einfachheit die oberste republikanische Tugend; Rococo und Zopf mit ihrem höfischen Flitter und Tand wurden in den Bann gethan, und der Faden der alten Tradition ward gewaltsam abgerissen.

Dafür wurden nach dem Rathe „philosophischer Künstler“ die Musen aus dem stillen Frieden des Alterthums an das blutige Licht des Tages geschleppt und alles im reinsten griechischen Geschmack gebildet. Aber unter dem Schrecken der Guillotine konnte die Kunst nicht heimisch werden; sie gestaltete sich zu einer Carricatur der Antike, und auch das folgende Kaiserreich vermochte hieran wenig zu ändern. Die restaurirte Monarchie, in dem Glauben, die welterschütternden Begebenheiten der letzten fünfundzwanzig Jahre ignoriren zu müssen, knüpfte an das Rococo wieder an, aber dies blieb eine überlebte Kunstform, weil sich der Zeitgeist gegen jede Rückkehr zum Alten sträubte. Trotz seines Bündnisses mit der Blumenliebhaberei vegetirte es nur kümmerlich und reizlos fort bis in unsere Tage. Einzelne hervorragende Geister, wie Asmus Carstens, Betel Thorwaldsen und Friedrich Schinkel, flüchteten sich aus diesem Jammerthal in’s reine Griechenthum, aber vergebens war ihr Streben, das Verständniß ihrer Zeitgenossen für seine edlen Bildungen zu fördern; Letzterer unternahm sogar, hellenische Formen auf die Gebilde der Kunstindustrie zu übertragen, ohne jedoch dem nöthigen Interesse in weiteren Kreisen zu begegnen. In Folge der langen Abhängigkeit von französischem Geschmack und französischer Kunst unfähig, sich zu eigener That emporzuraffen und selbstthätig zu erfinden, verdarb der an und für sich nur noch geringe Geschmack des deutschen Industriellen vollständig und gleichzeitig der des deutschen Publicums.

Anders in Frankreich! Als der Wohlstand wieder stieg und ebenso das Bedürfniß nach Form und Farbe, empfand man schmerzlich die Verwüstungen, welche der republikanische Radicalismus des „citoyen“ im Tempel der Kunst angerichtet hatte; eifrig machte man sich in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts an die Arbeit, um alle jene verloren gegangenen Kunstfertigkeiten früherer Jahrhunderte wieder zu gewinnen.

„Wir müssen Europa mit unserem Geschmacke bekriegen und durch die Mode uns die Welt unterwerfen,“ hatte der große Colbert einst gesagt – und diese Worte nahm man sich zur Richtschnur. Und in der That, die Pariser Industrie gebot sehr bald der Welt, Paris bestimmte den Geschmack; Paris ward Mode. Die Luxusgegenstände, die der Deutsche wünschte, sie kamen alle aus der Seinestadt; die Etiquette „Paris“ genügte, um auch das minder Gute, das von dort her kam, geistreich erfunden, graciös, „entzückend schön“ etc. zu finden. Da suchte nun der biedere deutsche Industrielle des Franzmannes Muster nachzuahmen, aber vorwärts kam er dabei nicht; war er mit der Arbeit eben fertig, so hatte der erfinderische College an der Seine schon „was Neues“ auf den Markt gebracht, und die deutsche Copie hinkte nach, war veraltet, oder, um mit unserer schönen Welt zu sprechen, war „unmodern“ geworden.

In Folge dieses ewigen Copirens hatte unser deutscher Michel keine Zeit, selbstständige Muster zu entwerfen, auch fehlte ihm die nöthige Erfindungsgabe, der gute Zeichner und das wohlhabende Publicum, welches einen künstlerisch gebildeten Geschmack besessen hätte. Es führten diese Zustände, unterstützt von anderen Verhältnissen des nationalen Lebens, das deutsche Volk in seiner ästhetischen Haltung während der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts reißend bergab. Der feinfühlige Sinn für edle Verhältnisse, für den Reiz schöner Formen und Linien, für die Poesie der Farbe – der feinfühlige Sinn unserer Väter war dahin; die Modekönigin mit ihrem schnell wechselnden, überraschenden, bizarren und unnatürlichen Wesen wurde vergöttert; ihren launenhaften Gesetzen unterwarf man sich in blinder Ergebung. Das waren die Nachwehen des Dreißigjährigen Krieges und die directen Folgen der französischen Revolution.

Diese traurigen Verhältnisse wurden wesentlich verschlimmert durch die Maschinentechnik. Sich dieses neuen Hülfsmittels vernünftig zu bedienen, vermochte die Kunstindustrie, ungesund und zerfahren wie sie war, nicht. Man fühlte sich befriedigt durch das Mehr der Arbeit und vergaß die Kunst – die Massenproduction nach der Schablone war die Losung. Statt die gefügige Maschine den Anforderungen des eigenen Schönheitsgefühls zu accommodiren, verfuhr man umgekehrt und paßte die Formen des Modells für so und so viel tausend Stück dem Gange der Maschine an. So kamen jene in der Ausführung liederlichen und gemeinen Dutzendwaaren auf den Markt, bei denen die schaffende Thätigkeit der Menschenhand in ein oder zwei sich stets wiederholenden Griffen bestand, die den Arbeiter mit der Zeit stupide machen mußten. Und wer waren diese Arbeiter? Meistens Handwerker, die der grausamen Concurrenz mit der Maschine unterlegen waren und nun in geisttödtender Weise ihr Brod verdienen mußten. Dem Handwerk war eine Menge von Kräften und ein großes geistiges Capital entzogen worden. Im Handwerk selbst riß der Fabrikbetrieb ein – die Arbeitstheilung kam. Die eine Tischlerei macht nur noch geschweifte, die andere gradlinige Stuhlgestelle, die eine nur Sophagestelle, die andere Schränke etc.; die eine Tischlerei hobelt nur; die zweite schnitzt; die dritte fournirt, und die vierte polirt, sodaß jedes Stück vor seiner Vollendung ein Dutzend Hände passirt und von einer einheitlichen Behandlung nicht mehr die Rede ist. Das umfassende Können des alten Handwerks, die Solidität der alten Arbeit ging verloren, und das tägliche Geräth des Lebens war zur gewöhnlichen Fabrikarbeit geworden – nothwendige Consequenzen der alles nivellirenden Maschine, der man kein allgemeines, im Volke wurzelndes Kunstbewußtsein als Gegengewicht entgegenstellen konnte.

Nach Erkenntniß aller in der historischen Entwickelung und in der Technik liegenden Ursachen der Geschmacksverwilderung und des Verfalls der deutschen Kunstindustrie ging man energisch an die Heilung, in deren Anfangsstadium wir uns heute noch befinden.

Das geeignetste Heilmittel schien die Schule. Dort sollte der gewerbliche Arbeiter unter der Leitung tüchtiger Männer den feinfühlenden Sinn, das gebildete Auge und die geschickte Hand wiedererhalten; dort sollte an der Hand historischer Betrachtung durch systematische Stillehre und durch Nachzeichnen guter Muster und Uebung im Entwerfen kunstindustrieller Gegenstände Hülfe geschafft, sollten der Industriebevölkerung neue Bahnen erschlossen werden. Solche Unterrichtsanstalten sind von den verschiedenen Staaten, Gemeinden und Corporationen in großer Menge gegründet worden und werden noch gegründet.

Sie sind theils als einfache Zeichenschulen organisirt, in denen junge Leute, ohne in ihrer Werkstattthätigkeit behindert zu werden, während der Freistunden im Zeichnen und Modelliren ausgebildet und mit den Elementen der Kunstformensprache bekannt gemacht werden, um sie zum künstlerischen Betriebe ihres Gewerbes zu befähigen; theils sind sie Fachschulen, die einem bestehenden Industriezweige dienen, theils höhere Schulen, in denen sich der Industrielle mit Aufwendung seiner vollen Arbeitskraft und Zeit zu einem

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 555. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_555.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)