Seite:Die Gartenlaube (1880) 602.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


Auf der Station von St. Pancras.
Eine Reisehumoreske von C. Schröder.


Ob es sechs oder sieben Jahre her ist, weiß ich nicht mehr genau; daß aber damals das Riesenhôtel noch nicht existirte, welches sich jetzt am St. Pancras-Bahnhofe im Norden Londons breit macht, will ich bezeugen – dies ist auch die Hauptsache an der langweiligen Geschichte.

Also vor sechs oder sieben Jahren kam ich eines Sonnabends gegen Mitternacht mit dem Dampfer in London an. Der menschenfreundliche Capitain konnte es nicht über das Herz bringen, seine einzige Passagierin mit Sack und Pack in der Geisterstunde an’s schreckliche Ufer setzen zu lassen; er dampfte daher nur mir zu Liebe am gewöhnlichen Landungsplatze vorüber und noch ein tüchtiges Stück stromaufwärts.

Als der graugelbe Sonntagsmorgen anbrach, lagen wir mäuschenstill auf der vielbesungenen, majestätischen Themse. Auch heute wiegte ihre breite Brust unzählige Schiffe und Schifflein mit und ohne Flaggen, aber ich konnte mich mit dem besten Willen nicht für sie begeistern; sie war mir gar zu schmutzig.

Ein Kahnschiffer hatte die Güte, mich und meine Habseligkeiten an’s Land zu rudern. Sein Gewissen mußte dabei ein Auge zudrücken; denn es war ja Sonntag, und am Sonntag darf man in England bekanntlich nicht rudern, aber sein Gewissen machte sich für ein paar Schillinge extra ganz gern der Sünde schuldig. Stöhnend schleppte er meinen schweren Koffer die schlüpfrige Anlegetreppe hinauf; ächzend setzte er ihn in der ersten besten Straße nieder, und sich den Schweiß von der Stirn wischend, sagte er:

„Wenn Sie nun einen Wagen brauchen, Ma’am, der kleine Jack da holt Ihnen gern einen. Es ist zwar Sonntag, aber für ein paar Pfennige extra – He, Jack! Die Dame braucht einen Wagen.“

„Einen Wagen, Ma’am?“ fragte Jack herbeilaufend; „schön, Ma’am! Es ist zwar Sonntag heute – thut nichts; ich hole Ihnen einen für einen Schilling, Ma’am“ – meinte er mit schlauem Grinsen.

Als ich den Schilling bewilligt hatte, trabte der junge Wucherer davon. Ich aber setzte mich auf meinen Koffer und sah mich um. In welchem Theile Londons ich mich damals befand, weiß ich noch heute nicht – der schönste war es keinesfalls. Vor mir dehnte sich eine endlose, enge Straße, deren Häuser sich sämmtlich zum Verwechseln ähnlich sahen. Hatte hier und da der gelangweilte Maurer eine kleine Abweichungssünde begangen, so war der gute Kohlenrauch gleich bei der Hand gewesen, um sie mit dem eintönigen schwarzen Mantel seiner Liebe zuzudecken. Schwarz, rabenschwarz war überhaupt Alles, so weit das Auge reichte. Neben mir blickte sogar ein schwarzes Bäumchen über eine schwarze Mauer. Die kleinen Londoner, die bettelnd mittlerweile immer engere Kreise um mich zogen, sahen vollends aus, als ob sie aus dem Schornstein kämen.

„Arme Dinger!“ dachte ich, in meine Tasche langend, „keine Seife dieser Erde wäscht Euch wieder weiß.“

Sie betielten mich einmal über das andere „Lady“ und erfanden, um mir das Geld aus der Börse zu locken, die herzbrechendsten Geschichten. Des Einen Mutter lag todt, des Anderen Vater im Sterben, eines Dritten ganze Familie an den Blattern darnieder; Alle hatten sie seit vorgestern nichts gegessen. Die Aermsten! Sie sahen aus, als ob sie in ihrem Leben nichts als Steinkohlen geschluckt hätten.

Eben war ich mit meinem Kupfergeld zu Ende, als Jack zurückkam. Grinsend deutete er auf das Gefährt, welches ihm auf dem Fuße folgte. Er hatte gut lachen, der kleine Schelm! Mir war der Anblick des Kutschers seiner Wahl weniger erfreulich. Sein Antlitz glänzte wie ein aufgedunsener rother Vollmond; seine Schielaugen hatten den üblichen Sonnabendsrausch noch nicht ausgeschlafen; der Hut saß ihm im Nacken, und aus dem einen Aermel seines schmierigen Rockes blickte ein vorwitziger Ellenbogen. Ich habe Jack im Verdacht, daß er mir diese Perle von einem Rosselenker mit Vorbedacht verschafft hatte; denn noch hatte ich meiner Ansicht über denselben in keiner Weise Luft gemacht, da flüsterte der Schlaukopf schon:

„Glauben Sie, daß er betrunken ist, Ma’am? Geben Sie mir noch einen Schilling, und ich hole Ihnen in der Minute einen anderen!“

„Das glaube ich, Jack. Ein noch schöneres Exemplar,“ antwortete ich ärgerlich lachend. Bei mir dachte ich: „Mehr oder weniger angetrunken sind die guten Leute immer, ohne daß sie darum umwerfen oder sich verirren. Und wer sieht und kennt mich im großen Babylon?“

„Ich möchte nach St. Pancras,“ redete ich die Perle auf dem Bocke an.

„St. Pancras? – Zehn Schillinge,“ brummte er, ohne sich lange zu besinnen.

„Zehn Schillinge?“ wiederholte ich, ob der runden Summe große Augen machend.

„Ja, zehn Schillinge,“ schrie er schon aufgeregt, „keinen Penny weniger nehme ich heute. Wollen Sie einsteigen oder nicht? Haben Sie mich holen lassen oder nicht? Ist es Sonntag oder nicht? War ich im Begriff zur Kirche zu gehen oder nicht?“

Als er sah, daß Jack’s elastischer Mund sich bei der letzten Frage von Ohr zu Ohr dehnte und daß ich selbst einen etwas zweifelnden Blick über seine Toilette gleiten ließ, gerieth er außer sich vor Wuth und ließ von der Höhe seines Bockes einen solchen Hagel von Verwünschungen auf mich niederprasseln, daß mir Hören und Sehen verging.

Ob dem Spectakel war die Straße auf einmal lebendig geworden. Alte Weiber krochen aus Kellerluken hervor. Fenster wurden aufgeworfen. In den Oeffnungen erschienen grinsende Menschenköpfe, nickten dem Kutscher Beifall zu und ermunterten ihn durch Zurufe und wieherndes Gelächter.

Bei dem Anblick durchzuckte mich plötzlich der entsetzliche Gedanke: Wie, wenn du dich in einem der verrufenen Theile Londons befändest, in welchem man die Leute beraubt, um sie hernach mir nichts, dir nichts verschwinden zu lassen?! Unglückskind, und dein Koffer steht mitten auf der Straße! Und du hast deine Börse wohl eine Viertelstunde offen in der Hand gehalten!

„Meinetwegen denn, zehn Schillinge,“ rief ich (in meiner Herzensangst hätte ich auch zehn Pfund gerufen) und stürzte Hals über Kopf in den Wagen. „Da steht mein Koffer! Nur recht schnell, damit ich den Zug nicht verfehle!“

Zitternd erwartete ich, daß sich der Wüthende jetzt weigern werde, mich und meine Siebensachen an das ersehnte Ziel zu befördern. Aber er war besser, als er aussah. Schwerfällig rollte er vom Bock herunter – fluchend packte er den Koffer – fluchend schob er ihn auf den Wagen – fluchend rasselte er mit mir in den Sonntagsmorgen hinein.

Wehe den unseligen Straßenjungen, die sich uns auf Peitschenlänge näherten! Wehe den tollkühnen Kötern, die uns über den Weg liefen! Alle mußten sie es entgelten, daß ich mich so schlecht gegen den Armen benommen hatte. Wie eine Windsbraut fegten wir durch die friedlichen Straßen, unbekümmert um das feierliche Läuten der Glocken, unbekümmert um die frommen Kirchgänger, welche entsetzt an uns vorüber kopfschüttelten.

Ich fand unser Benehmen nichts weniger als anständig und hätte mein schamrothes Angesicht gar zu gern in die Kissen meiner Carosse gedrückt, aber diese hatten leider nicht umsonst so manche Nacht das Haupt ihres müden Eigenthümers gewiegt. Sie glänzten von Fett und dufteten nach Branntwein.

Wenn ich nicht irre, haben sämmtliche Miethwagen der Riesenstadt vor etlichen Jahren die Revue passiren müssen, worauf eine große Anzahl derselben in den wohlverdienten Feuertod gewandert ist. Im Interesse des fahrenden London hoffe ich, daß bei der Gelegenheit auch das Exemplar, welches mich nach St. Pancras trug, in Rauch aufgegangen ist – wenn es nicht schon vor dem Zeitpunkte seine arme Seele ausgehaucht hat. Alles klirrte, klapperte und ächzte an dem unglücklichen Fuhrwerk. Jeden Augenblick erwartete ich, meinen Koffer durch die Decke zu mir niedersteigen, oder den Fußboden unter mir versinken zu sehen. Er zeigte verschiedene Risse und eine klaffende Wunde, die ein altersgraues Häuflein Stroh nur sehr nothdürftig bemäntelte. Gern hätte ich die Perle auf dem Bocke beschworen, aus Rücksicht für das ehrwürdige Gefährt doch etwas langsamer zu fahren, aber das Fenster rechts ließ sich nicht öffnen, das links war von einer derben Faust mitten in das Herz getroffen und sah seiner baldigen

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 602. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_602.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)