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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


nicht fehlen, das Hauptvergnügen wird aber sicherlich das Schießen und „Pöllern“ bleiben, das die Tiroler aus dem Grunde verstehen und mit seltener Ausdauer üben. Vielleicht, daß dieser oder jener Alpenfahrer und Freund wahrer Volksfeste aus Deutschland den Weg in’s Passeyer und auf die Brantacher Alpe nicht scheut, um an dem jedenfalls erhebenden, dem Andenken des beliebtesten Helden der Tiroler gewidmeten Feste theilzunehmen und Herz und Sinn zu erfrischen. Er wird willkommen sein.

August Zapp.




Die „Gehturniere“ und der „Autoren-Carneval“ in San Francisco.
Von Theodor Kirchhoff.
I.


San Francisco ist eine Großstadt, in der sich die Bewohner fast unaufhörlich in einer intensiven, aber verhältnißmäßig harmlosen Aufregung befinden, welche für einen echten San Franciscaner gleichsam zur Lebensexistenz gehört. Heute ist es eine wilde Minenspeculation, welche alle Gemüther erhitzt und Jedermann zum Millionäraspiranten macht; morgen predigt der hirnverbrannte Agitator Bearny vor vielen Tausenden Mord und Verwüstung gegen alles Bestehende in fulminanten Reden, welche ihn in jedem andern Lande der Welt hinter Schloß und Riegel setzen würden, während man hier die Gluth durch ihre eigene Hitze sich austoben läßt; bald sind es die unliebsamen Chinesen, gegen welche man in gewaltigen Volksversammlungen Rache schnaubt, die aber nie zur Ausführung kommt; bald setzt eine Wahlcampagne Alles außer Rand und Band; oder ein öffentliches Vergnügen, ein patriotisches Fest, wie z. B. der Empfang des von seiner Weltumseglungsreise heimkehrenden Grant, reißt die ganze Bevölkerung mit sich fort, wie in einem Taumel.

Jedermann betheiligt sich an diesen Aufregungen (Excitements). Die spießbürgerliche Ruhe einer deutschen Stadt würde einen San Franciscaner vor Langerweile tödten. Es scheint etwas in der Luft dieser Metropole zu liegen, was das Blut hier so schnell pulsiren läßt; denn die Neu-Ankömmlinge sind bei der geringsten Veranlassung bald in dieselbe fieberhafte Aufregung versetzt, wie die alten Bewohner der Goldstadt. Dabei nehmen die sogenannten höheren Classen der Gesellschaft in San Francisco durchaus nicht eine so reservirte Stellung ein, wie ihres Gleichen in anderen Ländern und Städten. Bei einem öffentlichen Vergnügen irgendwelcher Art drängt sich Alles zusammen, ohne Unterschied von Reichthum, Bildung oder Stand. Selbst die elegante Damenwelt wird bei einem echten „Excitement“ demokratisch und vergißt die bevorzugte Stellung, welche das schöne Geschlecht sonst überall in Amerika vor den Männern zu wahren versteht.

Wer während des letzten Jahres San Francisco besucht hat, der wird ohne Zweifel sehr oft über die aufgeregte Unterhaltung gestutzt haben, welche er dort tagaus tagein aller Orten mit anhören mußte. Monatelang bildeten die sogenannten „walking matches“, Gehturniere, hier das Stadtgespräch. Die Zeitungen jeder Farbe und Tendenz ergingen sich täglich in langen Leitartikeln über die Vorzüglichkeit dieses oder jenes Laufhelden mit einem Ernste, als ob es gälte, die Verdienste eines berühmten Staatsmannes oder eines großen Feldherrn zu preisen.

Zuerst marschirten die leichtfüßige Französin Madame La Chapelle und ihre amerikanische Rivalin Fanny Edwards wochen- und wochenlang um die Wette, unter einem stets wachsenden Volksenthusiasmus; dann betritt eine ganze Reihe von Männern die Gehbahn; dann wieder waren es ein Halbdutzend ruhmsüchtiger Frauen und Jungfrauen, welche einen Wettmarsch anstellten; in abwechselnder Reihe folgten Männer und Frauen demselben Beispiel, und zuletzt war es ein Kampf von Ausdauer und Schnelligkeit zwischen Männern und – Pferden.

Die beiden vorhin genannten Wettläuferinnen marschirten länger als einen Monat jede Viertelstunde eine viertel englische Meile in der Plattshalle um den Siegespreis der Ausdauer. Die halbe Stadt hatte für die Französin, die andere Hälfte für die Amerikanerin Partei genommen, und aufgeregte Menschenmassen strömten Tag und Nacht nach der Arena, um die beiden Heldinnen dort anzustaunen und das Ergebniß des wichtigen Streites mit eigenen Augen zu verfolgen.

Auf ein alle Viertelstunden erschallendes Glockensignal trat die – wie im Programm gedruckt stand – nur hundertneunzehn Pfund wiegende, kokett gekleidete Französin behende aus ihrem Zimmerchen hervor, durchmaß im Geschwindschritt eine viertel englische Meile und verschwand unter dem Applaus der versammelten Menge wieder hinter dem blau-weiß-rothen Vorhang ihrer Privatwohnung. Ihre kräftiger gebaute Nebenbuhlerin Fanny nahm das Marschiren weit phlegmatischer. Mit einer Reitgerte in der Hand spazierte sie, ohne sich zu echauffiren, ihre viertel Meile um die Arena.

In den für die beiden Damen wohnlich eingerichteten Privatzimmern wurde ihr körperliches Wohlbefinden nach jedem Marsche von den „Trainers“ regelrecht untersucht; die Dauerläuferinnen streckten sich gemüthlich auf ihr Kanapee und erhaschten ein kurzes Schläfchen, oder sie erquickten sich mit Speise und Trank, bis die Glocke sie wieder in die Gehbahn rief. Die Vorhänge der beiden Zimmer waren meistens zurückgeschlagen, sodaß das Publicum zusehen konnte, wie die „Trainers“ das Schuhwerk der beiden Damen sorglich prüften, ihre Füße und Knöchel mit stärkenden Essenzen einrieben, die Schlummernden mit Wolldecken einhüllten etc. Auf jeder Seite des Saales prangte eine herrliche Blumenflora von vielen Hunderten prächtiger Sträußer, welche die Anhänger der beiden Damen denselben als Tribut spendeten. Die Wettläuferinnen musterten diese Blumenschätze mit neidischen Blicken, falls die Gegnerin ungebührlich vom Publicum bevorzugt wurde. Wenn die Nacht weit vorgeschritten war, pflegten die Fußgängerinnen, von einem Begleiter am Arm festgehalten, während des Marsches oft fest zu schlafen, was einen seltsamen Anblick gewährte. Der ursprünglich auf dreitausend viertel englische Meilen in ebenso vielen Viertelstunden festgestellte Wettgang wurde von den beiden Gegnerinnen noch um einige hundert viertel englische Meilen ausgedehnt und zuletzt als unentschieden beschlossen. Dies Gehturnier war der Beginn von den nun monatelang folgenden großen „walking matches“.

Der Schauplatz der Dauermärsche wurde nach dem „Mechanick’s Pavillon“ verlegt, einem riesigen Holzgebäude von fünfhundert Fuß Länge und zweihundert Fuß Breite. Der Unternehmer der Gehturniere setzte für Denjenigen, welcher innerhalb sechs Tagen und Nächten die größte Meilenzahl zurückzulegen vermöchte, einen Preis von tausend Dollar aus und für die nächstbesten Marschirer respective fünfhundert und zweihundertfünfzig Dollar, wozu noch ein Theil von der Einnahme kam. Ein mit Diamanten besetzter californischer Siegesgürtel wurde außerdem von einigen Enthusiasten als Belohnung für den ruhmreicher Gewinner angeschafft. Jedem der Fußgänger stand frei, zu gehen oder zu laufen, wie er Lust hatte, und er durfte zwischendrein schlafen, so oft und so lange er wollte.

Etwa ein Dutzend wie Circusleute gekleidete Männer betraten die Arena unter dem Jubel der dort versammelten Menge, und fort ging die lange Pilgerfahrt, stets im Oblong herum auf der mit Sägemehl bestreuten Bahn. Eine lange Reihe von Zelten stand an der einen Seite des gewaltigen Raumes, die Wohnungen der verschiedenen Fußgänger. Jedes Zelt war mit einer Nummer und dem Namen seines Eigenthümers zur Orientirung für das Publicum bezeichnet. Dorthin konnte der Wettrenner sich nach Belieben zurückziehen und den leiblichen Adam durch Schlaf, Essen und Trinken, Abreiben der Beine und Füße etc. stärken, wenn die Muskeln und Sehnen ihm den Dienst versagten, oder der erschöpfte Körper den Schlaf peremptorisch forderte.

Auf einer hohen Tribüne saßen die Richter und Unparteiischen, welche die zurückgelegte Meilenzahl genau controllirten; an einer großen schwarzen Tafel wurden die Meilen jede Stunde zur Kenntnißnahme für das Publicum verzeichnet. Innerhalb der langgestreckten Arena wogten die nach Tausenden zählenden Zuschauer auf und ab, wie eine lebendige See; auf den amphitheatralisch aufgestellten Bänken saßen Männer, Frauen und Kinder in buntem Gemisch, und Kopf an Kopf drängte sich die Menge an das die Gehbahn abschließende leichte Holzgitter.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 606. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_606.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)