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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


sein und die Sippschaft Erasmorum hätte ihm nach seinem Tode auch noch ein Standbild aufgerichtet. „Nichts als seine Feder!“ Man meint das verachtungsvoll-mitleidige Lächeln zu sehen, welches dieser Nachruf unsern „liberalen“ Gründern und Gründergehilfen, welche die patriotische Phrase so hübsch mit der einträglichen Jobberei und Gimpeljagd zu verbinden verstanden, auf die Lippen lockt. Sie wußten und wissen besser für sich zu sorgen, diese Herren „Realpolitiker“ und Redenseilgaukler, welche es glücklich dahingebracht haben, daß völlige Grundsatzlosigkeit für das Hauptmerkmal eines normalmäßigen deutschen „Reichsfreundes“ gilt …

Etliche Jahre später als Hutten besuchte sein berühmter Zeitgenoß Theophrastus Paracelsus den Heilquell im Taminaschlund und entwarf eine Beschreibung desselben. Diesen ersten Versuch einer sachkundigen Untersuchung und Würdigung der wohlthätigen Naturgabe ließ der Abt von Pfäfers drucken und veröffentlichen, wodurch der Ruf des Bades immer weiter in die Welt ausging. Die junge Anstalt hatte übrigens Schweres durchzumachen. Wiederholt, 1611 und 1629, brannte das Badhaus ab. Ein andermal war das nach der ersten Einäscherung wiederhergestellte durch den Herabsturz von Felsblöcken zertrümmert worden. Nach dem zweiten Brande verschritt man zu der dazumal sehr schwierigen Untersuchung der Taminaschlucht ihrer ganzen Länge nach, um einen passenderen Platz zur Anlage der Badgebäude ausfindig zu machen, und unter dem Regimente der beiden Aebte Jodocus und Johannes wurde der Bau des Bades Pfäfers da in Angriff genommen, wo das seitdem vielfach umgebaute und vergrößerte noch jetzt steht, und zugleich wurde mit unsäglicher Mühwaltung die erste Röhrenleitung von der Quelle bis zum Badhaus hergestellt. Am Pfingstfest von 1630 strömte das Quellwasser zum erstenmal durch diese an den Felswänden der Schlucht aufgehängte Röhrenleitung. Der Grundstock der jetzigen Badbaulichkeiten, deren klösterlicher Stil viele Besucher zu der ganz irrthümlichen Ansicht verleitet, das Haus wäre ursprünglich ein Kloster gewesen, rührt von dem Abte Bonifaz dem Ersten her (1704).

Alles hat seine Zeit, das Bergesteigen wie das Dasein von Klöstern. Das Kloster Pfäfers-Pirminsberg hatte im Jahre 1838 so abgewirthschaftet, daß die Säcularisation räthlich, ja nothwendig geworden war. Einer der „aufgehobenen“ Konventualen hat mir seiner Zeit auf dem Wege zwischen Mels und Flums erzählt, die Mehrzahl der letzten Mönche von Pfäfers wäre entschieden für die Aufhebung gewesen. Der Abt hätte die Rede, welche er im Kapitelsaale inbetreff der Frage: Sein oder Nichtsein? an den versammelten Konvent gerichtet, in die Schlußworte zusammengefasst: „Die Sachlage, meine Brüder, ist so, daß wir entweder zur strengen Regel unseres heiligen Stifters Benediktus zurückkehren oder aber die Regierung von St. Gallen um Aufhebung angehen müssen“ – und darauf wäre zur Antwort ein lautes: „Aufheben! Aufheben!“ erschollen. Man willfuhr dem Wunsche. Der Staat versorgte die Mönche – es waren ihrer, wenn mein Gedächtniß mir treu ist, noch 13 oder 15 – auskömmlich, richtete das Kloster zu einer Irrenanstalt her, erweiterte das Bad Pfäfers und machte dasselbe eigentlich erst recht zugänglich. Denn bislang hatte man von Ragaz her nur auf dem Umwege entweder über Valens oder über Dorf Pfäfers und nur mühsälig zu dem Bade gelangen können. Die St. Galler Regierung baute, in den Besitz der Klostergüter gelangt, die kühne und schöne Straße längs der Tamina von Ragaz aufwärts bis Pfäfers, von wo sie mittels einer Röhrenleitung einen Theil des Quellwassers zum „Hof Ragaz“ herabführte, welcher zeitweilig die Residenz der pfäferser Aebte gewesen war und jetzt ebenfalls zu einer Badanstalt eingerichtet, sowie in den nächsten Jahren mittels beträchtlicher Anbauten zu seiner jetzigen Gestalt gebracht wurde. Am 31. Mai von 1840 eröffnet, gedieh die Kuranstalt „Hof Ragaz“ bald außerordentlich, besonders vom Jahre 1844 an, wo die Gebrüder Hauser als Pächter der ganzen Staatsdomäne Ragaz die Bewirthschaftung übernahmen. Die beiden Eisenschienenwege, deren einer vom Bodensee, deren anderer vom Walensee heraufführt, haben selbstverständlich zum Aufschwunge des neuen Badorts viel beigetragen. Als ich die ersten Male nach Ragaz kam, existirte die Eisenbahn noch nicht, und dazumal durfte man, ohne beleidigend sein zu wollen, den Ort wohl ein Nest nennen. Heute ist Ragaz mit seinen Hôtels und Pensionen, mit seiner schönen „Dorfbadhalle“, mit seinen hübschen Privathäusern und Gärten ein stattlicher Flecken, den eine „Stadt“ zu nennen Fremde nicht anstehen.

Für diesen Aufschwung ist ohne Frage der Uebergang der Staatsdomäne Pfäfers-Ragaz in Privatbesitz geradezu epochemachend gewesen. Der Staat St. Gallen hatte die Verpachtung doch auch gar zu wenig einkömmlich, die Verzinsung dem Kapitalwerth der großen Domäne nicht entfernt einsprechend gefunden und finden müssen. Er suchte einen vertrauenswürdigen und tüchtigen Käufer und fand einen solchen in der Person des Architekten Bernhard Simon aus Niederurnen im Glarnerland, eines self-made man im besten Sinne des Wortes, wie es nur jemals einen gegeben. Kaufweise erwarb dieser ein- und umsichtige Mann von wahrhaft nordamerikanischer Thatkraft und Arbeitsfähigkeit die ganze Domäne Ragaz erb- und eigenthümlich, dazu die pfäferser Heilquelle, die Quellschlucht, das Bad Pfäfers und die Straße von dort nach Ragaz auf 100 Jahre (vom 1. Januar 1868 bis zum 31. December 1967). Der neue Besitzer, früher Erbauer der berühmten Eisenbahn-Sitterbrücke bei Winkeln und des neuen Stadtquartiers in St. Gallen, griff das Werk der Um- und Neugestaltung energisch an und führte dasselbe in großem Stile durch. Der mächtige „Quellenhof“, der Kursaal mit seinem imposanten Säulenportikus, die schönen neuen Bäder mit der höchst wohlthätigen Wandelhalle wurden erbaut, Gärten- und Parkanlagen mit Springbrunnen und Teichen geschaffen, zu den Ruinen und Aussichtspunkten Wartenstein und Freudenberg, wie hinunter an den mittels kolossaler Steindämme gebändigten Rhein und hinauf in den Buchenwald bequeme Wege geführt. Eine große Wohlthat für die Insassen des Quellenhofes und des Hofes Ragaz ist es auch, daß der Besitzer – wir Stammgäste pflegen ihn scherzend den „Tyrannen“ (natürlich im altgriechischen Sinne des Wortes, nicht im modernen) zu nennen – eine hoch droben am Piz Alun gewaltig hervorsprudelnde Quelle herrlichen Trinkwassers erworben und sorgfältig in eisernen Röhren zu Thale geleitet hat. Die neueste Schöpfung des rastlosen Mannes ist die katholische Kapelle, welche er über der die beiden Höfe verbindenden Galerie erfindungsreich gewölbt hat, den Wünschen gutkatholischer Französinnen und Franzosen zu Gefallen, welche ihre tägliche Messe möglichst bequem hören wollen. Ein protestantischer Betsaal findet sich in Hof Ragaz. Das nächste Jahrhundert sieht vielleicht in Ragaz auch eine Synagoge, eine Moschee und eine Pagode erstehen, vorausgesetzt, daß bis dahin die europäische Menschheit auf ihrem dermaligen Krebsgange nach Kanossa und wahlverwandten Orten nicht in dem riesigen Schafestall angelangt sein werde, welcher die Aufschrift trägt: „Ein Hirt und eine Heerde.“

Ragaz ist nachgerade ein Weltbad geworden, aber – Dank den Göttern! – kein geräuschvolles Vergnügungsbad. Hierher kommt man nicht mehr oder minder läppischer Zeitvertrödelungen wegen, sondern um seiner Gesundheit willen. Für Kurgäste von jener Sorte, welche die Schweizer sehr treffend „Lustigmacher“ zu nennen pflegen, ist der Boden von Ragaz zu heiß oder vielmehr zu kühl. Von Lärm und Tumult keine Rede! Die Kurgesellschaft besteht aus ernsten und gesetzten Leuten, welche ihre Leiden lindern, ausruhen, sich auffrischen wollen in diesem wunderbar schönen Alpenthale. Am vollsten wird der Ort im Juli und August in Folge des Touristenzuges. Am angenehmsten ist der Aufenthalt und Kurgebrauch im Juni oder im September. In diesen beiden Monaten trifft man dort auch die meisten deutschen, deutschschweizerischen und deutschösterreichischen Familien, während im Hochsommer Engländer, Amerikaner, Russen und Franzosen vorherrschen, durchsprenkelt mit Italienern und Spaniern, Polen und Skandinaviern. Seit 1870-71 hat auch das jährliche Kontingent deutscher Offiziere sehr zugenommen, und es gereicht mir zur besonderen Freude, sagen zu können, daß ein wissender und merkender Mann im Umgange mit diesen Männern unschwer herausfühlen kann, warum und wieso Deutschland in seinem großen Jahre Frankreich besiegen konnte, mußte.

Wär’ ich ein orthodoxer Heide oder ein orthodoxer Christ, so hätte ich, dankbaren Gemüthes, längst in der Quellschlucht eine Votivtafel aufhängen müssen. Da ich aber nur ein leidlich frommer Mensch im Sinne des Lucretius bin, so durfte ich mich begnügen, dir, o hilfreiche Najade von Pfäfers-Ragaz, dieses bescheidene Weihgeschenk in die „Gartenlaube“ zu stiften.



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 618. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_618.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)