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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)

Im Zimmer herrscht Nacht, tiefste, schwärzeste Nacht. Rothbart hat mich vergessen. Der Fünf-Uhr-Zug ist über alle Berge.

Vernichtet sinke ich auf mein Lager zurück. Rothbart hat mich vergessen, Rothbart, der Schutzengel, der mich den ganzen Tag behütet hat, Rothbart, auf dessen Treue ich Häuser gebaut hätte. Vielleicht liegt er jetzt daheim im weichen Bett und schnarcht den Schlaf des gerechten Dieners der Gerechtigkeit und denkt nicht einmal im Traume an die Unglückliche, die er bis morgen früh an das knüppelharte Ledersopha in dem schrecklichsten aller Wartesäle gefesselt hat. Bis morgen früh! Entsetzlicher Gedanke! Bis morgen früh! Nein, ich halte es nicht aus. Komme, was da wolle, ich klopfe so lange an die Thür, bis ich mir Hülfe und Befreiung herbeigeklopft habe.

Entschlossen springe ich auf und suche im Finstern nach der Thür. Ich finde nach einander sämmtliche Ledersophas und unzählige Mal den großen Tisch, die Thür jedoch erst, nachdem ich mir am Kaminsims beinahe den Kopf zerschmettert habe. Aber was lange währt, wird endlich gut, sehr gut ! Ein schwacher Lichtschein fällt durch das Schlüsselloch – ein heller Hoffnungsschimmer in mein Herz; denn wenn draußen noch Licht brennt, so ist Rothbart noch nicht fort; wenn er noch nicht fort ist, so fahren noch Züge; wenn noch Züge fahren, so ist es ja nicht unmöglich, daß sich jetzt bei Nacht und Nebel einer von ihnen der kleinen Stadt W. erbarmt, an der man den Tag über so hochnasig vorbeigefahren ist.

Ich klopfe, rüttele, schüttele – ohne jegliches Resultat – schüttele, rüttele, klopfe – und höre ein fernes, leises Kichern, wenn mich mein Ohr nicht täuscht, ein Kichern aus weiblicher Kehle. Es kommt näher und näher. Ganz sachte legt sich von außen etwas auf den Thürgriff und bewegt ihn leise hin und her.

„Wer ist da?“ frage ich und halte den Athem an.

„Ich!“ kichert es durch das Schlüsselloch[WS 1].

Um Vieles klüger fahre ich fort:

„Ach bitte, öffnen Sie mir!“

Das unbekannte Ich dreht wieder ohnmächtig am Thürgriff und kichert dazu.

„Nein, das hilft Ihnen nichts,“ rufe ich. „Seien Sie so freundlich und sehen Sie sich nach dem Polizisten um, der mich hier eingeschlossen hat! Er ist ein Mann mit feuerrothem Backenbart – und, bitte, sagen Sie ihm, er solle auf der Stelle kommen und mir aufschließen!“

Draußen ist das Kichern verstummt. „Polizist – eingeschlossen – O, wie schrecklich!“ murmelt das Ich.

Das fehlte noch! Das Ich glaubt, ich befinde mich hier in polizeilichem Gewahrsam. In fliegenden Worten reinige ich mich durch das Schlüsselloch von dem schwarzen Verdacht. Das Ich kichert zufriedengestellt, verspricht meine Bitte zu erfüllen und geht. Lange, lange stehe ich da und warte. Endlich nähern sich Schritte, schwere, langsame, wohlbekannte. Die Thür öffnet sich. Rothbart steht vor mir.

Statt bei meinem Anblick zurückzufahren, sich mit der Hand vor die Stirn zu schlagen, sich beispielloser Vergeßlichkeit anzuklagen, mich fußfällig um Verzeihung zu bitten, lächelt er unschuldig wie ein Kind und spricht:

„Ah! Sie wünschen Licht, Ma’am? Verzeihen Sie! Ich hatte vergessen – war ein bischen eingenickt.“

Damit streicht er ein Schwefelholz an und nähert sich dem Kronleuchter. Ich bin empört ob solcher Gemüthsruhe, halte aber für’s Erste noch meinen Zorn in Schranken und sage nur sehr ernst:

„Haben Sie die Güte, einmal nach Ihrer Uhr zu sehen!“

„Im Augenblick,“ antwortet er, entzündet mit großem Phlegma drei Gasflammen, trägt das verkohlte Ueberbleibsel des Schwefelhölzchens bei Seite und zieht dann die riesige Taschenuhr hervor: „Fünf Minuten nach drei Uhr, Ma’am.“

„Drei Uhr!“ wiederhole ich entrüstet. „Und Sie sagen das mit einer Gleichgültigkeit, einer Seelenruhe, als ob es das Natürlichste von der Welt wäre, daß Sie mich den Fünf-Uhr-Zug und Gott weiß wie viele Züge nach diesem haben verschlafen lassen?“

Verschlafen lassen?“ sagt er und sieht mich verblüfft an.

„Ja, verschlafen lassen!“

„Aber, mein Gott – es ist ja erst drei Uhr.“

„Und der Zug ist gestern Nachmittag um fünf Uhr abgefahren.“

Rothbart sieht mich groß und starr an, als fürchte er, ich habe den Verstand verloren.

„Erlauben Sie, Ma’am,“ sagt er langsam und nachdrücklich, „der Zug fährt heute Nachmittag um fünf Uhr – das heißt: in zwei Stunden.“

„Heute Nachmittag? Um des Himmels willen; es ist ja Nacht, pechfinstere Nacht. Sie werden mir doch nicht weißmachen wollen, daß die Sonne zu dieser Jahreszeit vor sieben Uhr untergeht?“

Bei diesen Worten löst sich die Starrheit in Rothbarts Zügen.

„Also deshalb!“ ruft er, wie von einer Last befreit. „Gott sei Dank! Ich dachte schon – – Wir haben Nebel, Ma’am,“ fährt er lächelnd fort, „einen Nebel, so dick – man könnte ihn mit dem Messer zerschneiden, diesen Erbsensuppen-Nebel.“

Krampfhaft auflachend sinke ich auf mein Lederkanapee. Rothbart lacht mit, und er hat alle Ursache. Der Aermste sah sich im Geiste schon unter der unangenehmen Nothwendigkeit, mich an diesem schrecklichen Sonntage noch nach einer Irrenanstalt transportiren zu müssen; er glaubte nicht anders, als ich habe in der grausigen Einsamkeit des Wartesaals den Verstand verloren.

Nachdem ich mir die Augen getrocknet, gehe ich hinaus und sehe mir den berühmten, unheimlichen Nebel an, den sich London aus Kohlenrauch und allen möglichen Zuthaten zusammenbraut und der mit dem unschuldigen Naturkinde, das bei uns zur Herbstzeit Wiese und Wald zudeckt, nur den Namen gemein hat; denn er wallt nicht in blaßgrauen Schleiern, sondern in schweren, düsteren, schwarzbraunen Gewändern. Lichtet er sich momentan, so zeigt er einen gelben Hintergrund, genau von der Nüance und fast so dick wie die Lieblingssuppe der Kinder Albions, die ihm den schönen Namen Erbsensuppen-Nebel erworben hat.

Ein paar Stunden später sitze ich im Zuge, brause nordwärts und habe das seltsame Schauspiel, aus stockfinsterer Nacht kommend, die Sonne in rothgoldener Pracht untergehen zu sehen.


Blätter und Blüthen.


Wie die Culturvölker essen. Soll man mit der rechten oder mit der linken Hand essen? Während in den dreißiger und im Anfange der vierziger Jahre dieses Jahrhunderts Jedermann mit der Rechten aß, ist es heute bei den meisten Culturvölkern Sitte geworden, die Speisen mit der linken Hand zum Munde zu führen. Alle Reisenden unter Naturvölkern werden nun aber die Beobachtung gemacht haben, daß uncivilisirte Völker einen Unterschied von rechts und links im Gebrauch der Hände nicht kennen; ja einige unter ihnen bedienen sich häufig der Füße zu Verrichtungen, bei denen gesittete Völker nur die Hände gebrauchen. Der Beduine pflegt irgend einen Gegenstand, welcher zur Erde gefallen ist – und namentlich thut das der Targi – nicht mittelst der Hand aufzunehmen, sondern er ergreift ihn mit der großen und zweiten Zehe und hebt ihn auf.

Hieraus erhellt, daß der bevorzugte Gebrauch der Rechten, die bessere Entwickelung derselben, nicht angeboren, sondern ererbt ist. Ja, die Behauptung geht wohl nicht zu weit, daß die frühesten Menschen sich ohne Unterschied der Füße wie der Hände bedient haben; unsere eigenen neugeborenen Kinder können mit der großen Zehe noch recht kräftig greifen und mittelst derselben Dinge ebenso fest wie mit der Hand fassen.

Seit Tausenden von Jahren ist indeß die ganze Menschheit rechthändig; das heißt: die rechte Hand ist geschickter, handlicher und feinfühliger, als die Linke. Unwillkürlich bedient sich heute Jeder vorzugsweise seiner Rechten.

Ursprünglich aber haben die Menschen, wie noch jetzt die Affen, mit den Extremitäten ohne Unterschied gegessen; gewiß hat es dann Zeiträume von Zehnjahrtausenden gegeben, wo die Menschheit sich der Füße nicht mehr zum Essen bediente, sondern ohne Unterschied der Rechten und Linken, und die Jahrtausende, seitdem der Mensch sich nur der Rechten zum Essen bedient, liegen so tief im grauen Nebel der Vergangenheit, daß sie weit zurückreichen hinter unsere geschichtliche Kenntniß. Bestätigt wird dies nicht so sehr durch geschichtlich verbürgte schriftliche Documente, wie durch bildliche Darstellungen.

Es giebt kein einziges altägyptisches Bild, aus dem zu ersehen wäre, daß in alten Zeiten mit der Linken die Nahrung zum Munde geführt worden wäre, und wenn es im alten oder neuen Testament auch nirgends ausdrücklich angeführt worden ist, man bediene sich beim Essen der Rechten, so geht aus Allem hervor, daß bei den alten Völkern die rechte Hand dazu benutzt wurde. Es ist wohl unzweifelhaft, daß die Juden sich beim Essen der Rechten bedienten. Ein sehr gelehrter Rabbiner aus Nürnberg, Dr. Elwin, schreibt mir darüber: „Die Juden

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Schüsselloch
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 623. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_623.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)