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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


wahrhaft entzückt hat. Der Belgier ist übrigens mäßig im Genuß von Spirituosen – trotz der großen Zahl von Restaurants und Cafés und des bunten Treibens, das sich vor letzteren auf Stühlen und Bänken bis mitten auf die Straße hinaus geltend zu machen pflegt und spät in die Nacht hinein dauert. Nur Bier wird in Brüssel mehr consumirt, als selbst in München oder irgend einer deutschen Stadt, und das will gewiß viel sagen.

Was dem Aufenthalt in Belgien einen besonderen Reiz verleiht, das sind neben den in Kirchen und Museen gehäuften Kunstschätzen die sich fortwährend aufdrängenden Erinnerungen an die große Vergangenheit des Landes, die sich allerdings zumeist auf die spanische und habsburgische Zeit beziehen.

Den ersten Nachmittag und Abend nach meiner Ankunft in Brüssel verwandte ich dazu, mir einen Ueberblick über die Stadt zu verschaffen und das herrliche, nahe gelegene „Bois“ zu besuchen, das die Brüsseler gern ihr Bois de Boulogne nennen, einen Park mit mächtigen Bäumen und breiten Wegen. Am folgenden Tage wohnte ich der Eröffnung des literarischen Congresses bei, zu welchem ich eine Einladung erhalten hatte. Hierbei, wie während meines ganzen Aufenthaltes in Belgien, hatte ich Gelegenheit, zu beobachten, in welch hoher Achtung daselbst die Presse steht. Die Städte wetteiferten, einmal die Vertreter der europäischen Tagesliteratur als Gäste bei sich zu sehen. Zu allen Festen wurden wir geladen; zu allen Schaustellungen erhielten wir die besten Plätze, und die gesammte Bevölkerung, vom König herab bis zum letzten Schaffner der Eisenbahn, bezeigte uns Wohlwollen und Achtung. Manch stiller Seufzer des Neides wurde da gehört – Belgien ist eben ein freies Land, und nur ein solches vermag den Werth der Presse zu schätzen.

Der Congreß versammelte sich in dem prächtigen, am Parke gelegenen Palast der „Künste und Wissenschaften“; eine mit Statuen und Blumen geschmückte Marmortreppe führte hinauf zu den Sälen, deren schönster, mit Marmorsäulen und zwölf großen allegorischen Gemälden von Slingeneijer geschmückt, heute die Versammlung aufnahm. Im Zuhörerraum befand sich eine stattliche Gesellschaft von Damen und Herren; am Präsidialtische saßen unter Anderen Mr. Graux, der Finanzminister, und Dr. Rolin-Jacquemyns, der Minister des Inneren; unter den Mitgliedern des Congresses fanden wir die berühmtesten Namen: die Herren Henri Conscience, den Nationalökonomen Demeures, den Generalprocurator des Cassationshofes Faider, den Feuilletonisten Frédérix, den Volksschriftsteller Gilon, den Romanschriftsteller Greyson, den Journalisten Hymans, den Kunstkritiker Lemonnier, den Führer der Freidenker Belgiens Potvin, den Repräsentanten der vlämischen Literatur Sleeckx, den Maler Wanters und viele Damen, so die junge, begabte Schriftstellerin Fräulein Van de Wiele, die Malerin Madame Potvin, Madame Popp, die Redactrice des politischen Theils des „Journal de Bruges“, und Andere.

Zur bestimmten Zeit erschien auch der König, und der begeisterte, jubelnde und zugleich herzliche Empfang, der ihm zu Theil wurde, gab mir einen ersten Beweis der großen Liebe, welche derselbe bei seinem Volke genießt; sein freundliches, frohes Grüßen zeigte andererseits, wie wohl er sich unter seinem Volke fühlt und wie gern er mit demselben verkehrt. Er blieb auch bis zum Schlusse der Feier.

Zuerst hielt der Präsident des Congresses eine Rede, dann der Finanzminister, welcher die Bedeutung der Presse für Belgien, ihre Theilnahme an dem politischen und besonders dem geistigen Befreiungswerke hervorhob, von ihrer jetzigen Aufgabe sprach und mit einem begeistert aufgenommenen Hoch! auf den König schloß. Dann verlas der Secretär des Congresses, B. Greyson, seinen Bericht, nannte die eingeladenen Fremden und trug darauf an, diejenigen darunter, welche sich zur Theilnahme an den Arbeiten des Congresses bereit erklärt hatten, zu Vicepräsidenten zu ernennen, ein Antrag, der mit Acclamation aufgenommen wurde. Mit erneutem Hoch! auf den König schloß die Eröffnungsfeier.

Zum Abend waren wir Alle zu einem Essen in den Räumen des ebenfalls dem Künstler- und Literatenverein gehörigen „Vauxhall“ geladen. Die Zwischenzeit benutzte ich, um zuerst die Ausstellung von Werken des Malers Wanters in dessen Hause zu besuchen; der Zutritt zu dieser wie zu der großen Industrie-Ausstellung, zu den Museen wie zu den besten Theatern stand uns Allen auf unsere Einladungskarte frei; ebenso war uns auf allen belgischen Bahnen jeder Zeit freie Fahrt gewährt. Die Theater hatten übrigens alle für diese Zeit eine Reihe von Festvorstellungen arrangirt, denen nach Belieben beizuwohnen Jedermann gestattet war.

Was die Ausstellung Wanters’scher Bilder betrifft, so gewährte ihre Besichtigung hohen Genuß. Schon die Treppen, die Flure und das Entrée des Gebäudes, in dem sie placirt waren, machte einen würdigen Eindruck; überall Waffen, Teppiche, Decken, Schränke und Geräthe aus alter Zeit, schön geordnet und effectvoll aufgestellt. Und nun die Sammlung selbst, sechsundvierzig Nummern umfassend, die von ihren jetzigen Besitzern zu diesem Zwecke hergeliehen waren und die einen Ueberblick über die vielseitige Kunst des Meisters gestatteten: treffliche historische Gemälde, die werth befunden worden, die belgischen Museen zu zieren, Portraits, welche an Feinheit der Auffassung, an Zartheit und zugleich an Lebendigkeit der Ausführung zu den besten der Neuzeit gerechnet werden können, architektonische und landschaftliche Werke von charakteristischer Wahrheit und Aquarellen, duftig und elegant, bildeten diese interessante Sammlung, interessant auch deshalb, weil sie noch der alten Schule angehören. Auch in der neueren belgischen Kunst haben die Entwickelungsphasen rasch gewechselt. In dem neu eröffneten großartigen Museum moderner Künstler finden wir alle belgischen Schulen der letzten fünfzig Jahre vertreten, die romantische, die antikisirende, die das Mittelalter so genau nachahmende, daß man die Köpfe und Figuren den Illustrationen alter Manuskripte entnommen glaubt, und nun wieder die naturalistische, die aber sich zum Glück noch fern hält von dem jetzt so vielfach eingerissenen Unwesen des geistlosen Abschreibens der Natur. Wanters gehört dieser Richtung nicht an; er ist ein Vertreter der idealen Kunstschule.

Nach diesem Kunstgenuß besuchte ich die nahegelegene Industrie-Ausstellung, die ebenfalls dem Jubiläum zu Ehren in’s Leben gerufen worden. Der ganze Weg dorthin war besetzt mit Panoramen, Schießständen, Cafés, Estaminets etc.; die Gebäude der Ausstellung selbst, wie der dazu gehörige Park zeigten die üblichen Formen; im Garten schnurrte die elektrische Eisenbahn, auch ein Ballon captif und eine Sammlung von Turnapparaten waren vorhanden. Was aber der Ausstellung ein besonderes Interesse verlieh, das war der in den beiden Flügeln des Gebäudes veranschaulichte Gegensatz der alten und der neuen belgischen Industrie; auf der einen Seite boten sich dem Auge Gobelins, Spitzen, kostbare Holz- und Elfenbeinschnitzereien, wahre Meisterwerke der Sculptur; auf der anderen erblickte man alles Dies und natürlich noch unendlich viel Anderes in modernem Stil und in moderner Arbeit, und ich gestehe gern, daß, so sehr ich die letzteren Gegenstände bewunderte, mir doch in vieler Beziehung jene den Vorrang zu verdienen schienen. Auch der Maschinenraum imponirte, und die berühmte Brüsseler Wagenbaukunst feierte glänzende Triumphe. Ein reich ausgestattetes Lesezimmer mit einer großen Bibliothek und den Journalen aller Völker, natürlich zur freien Benutzung Aller geöffnet, sowie ein Correspondenzzimmer für die Presse waren dankenswerthe Zuthaten.

Der Abend, wie schon erwähnt, versammelte nun die Congreßmitglieder mit ihren Damen in den Sälen und den strahlend erleuchteten Gärten des Vauxhall zu heiterem, ungezwungenem Zusammensein bei stattlich ausgerüstetem Büffet. Auch hier erschien gegen zehn Uhr der König, sich leutselig unter der Menge bewegend und mit Vielen plaudernd; er verweilte bis gegen Mitternacht. Leider vertrieb ein starker Regen die im Garten Sitzenden, und so verließ auch ich das Vauxhall früher, als ich beabsichtigt.

Am folgenden Tage wohnte ich den Sitzungen des literarischen Congresses bei; derselbe hatte sich in vier Sectionen getheilt. Die erste Section verhandelte die Rechte der Schriftsteller; die zweite die äußeren Verhältnisse derselben (literarische Associationen, Staatshülfe, Aufgaben des Buchhandels, Unterstützungs- und Wittwencassen), die dritte, der ich mich hatte zuschreiben lassen, die Aufgabe der Literatur im Volks- und höheren Unterricht, und die vierte die Literatur als Kunst, wobei namentlich über Realismus und Naturalismus verhandelt wurde.

Eine höchst interessante Episode aus den Verhandlungen der letzten Section bot eine donnernde Philippika, welche ein Redner gegen Zola hielt, und die geistvolle, überwältigende Vertheidigung des Letzteren durch den Präsidenten dieser Abtheilung, den bekannten Potvin, der mit Begeisterung von diesem Schriftsteller sprach, dessen „Assommoir“ und „Nana“ Bücher von höchstem moralischem Verdienste nannte, die zwar die Nachtseiten

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 662. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_662.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)