Seite:Die Gartenlaube (1880) 702.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


ihm zur zweiten Natur geworden sein. Allmählich vorschreitend, überall die Terrainverhältnisse studirend, jedes Mittel der Wissenschaft, jede Erfindung der Technik und Industrie benutzend, so weit es angeht, wird ein solcher Polarforscher sicherlich zum Ziele gelangen; rechnen wir zur Lösung der Aufgabe auch ein volles Menschenalter – mit einer Schaar ähnlich geschulter Mannschaften wird ein solcher Führer nach dreißig Jahren der ernsthaftesten Vorbereitungen bestimmt den Nordpol erreichen.“

Nordenskjöld war wieder stehen geblieben.

„Ja, er wird ihn erreichen,“ wiederholte er noch einmal.

Es lag in diesen Worten des gefeierten Forschers eine rückhaltlose, umfassende Anerkennung der riesengroßen Erhabenheit der hocharktischen Natur und das Bekenntniß unserer eigenen bisherigen Schwäche, zugleich aber auch die feste, absolute Zuversicht, daß endlich doch des Menschen Geist und Energie alle diese sich ihm entgegenthürmenden Hindernisse der Natur überwinden werde. Mir fielen hierbei unwillkürlich die Worte ein, mit denen Virchow wenige Tage vorher in einer Congreßsitzung den Forscher begrüßt hatte: „Nordenskjöld ist jetzt Freiherr geworden, äußerlich; innerlich war er es schon lange.“

Die Idee, den Nordpol wirklich zu erstreben, ist bekanntlich in den letzten Jahren mehr in den Hintergrund gedrängt worden, und die gegenwärtig geplante neue Polarforschung stellt als Hauptaufgabe die Erforschung der physikalischen Verhältnisse der Polargebiete an bestimmten arktischen Stationen und nach einem gemeinsamen durch internationale Uebereinkunft festzusetzenden Plane aus. Natürlich steht Nordenskjöld vollständig auf dem Standpunkte dieser neuen Idee, wie er ausdrücklich bemerkte, als ich das Gespräch darauf lenkte. Aber seinem kühnen Muthe, der es so oft gewagt hat, mitten in die starren Eislabyrinthe des Nordens einzudringen, scheint es wenig zu entsprechen, wenn man von vornherein auf die Erreichung des höchsten Zieles, das der Nordpol immer bleiben wird, verzichtet.

Wir sprachen über den Antheil, welchen Deutschland bisher, dank der Opferwilligkeit seiner Bevölkerung, an der Lösung der Polarfrage genommen hat. Der Führer der beiden deutschen Nordpolexpeditionen, Capitain Koldewey, lebt bekanntlich gegenwärtig in Hamburg in der sehr geachteten Stellung eines Abtheilungsvorstehers der deutschen Seewarte. Auf ihn hinweisend, sagte Nordenskjöld:

„Ich liebe Koldewey sehr.“ Dann fuhr er fort: „Machen Sie immerhin von Deutschland aus noch eine Polarexpedition! Der Plan dazu muß gut ausgearbeitet werden.“

Das Gespräch wendete sich jetzt auf das schon seit Jahren von dem Capitain Cheyne in England geplante Unternehmen – das schon im vorigen, spätestens aber in diesem Jahre ausgeführt werden sollte – vermittelst dreier zusammengekoppelter Ballons den Nordpol zu erreichen und alsdann einige Tage weiter zu fliegen und in Petersburg zu landen. Wiederholt hatte ich in verschiedenen Zeitungsartikeln auf das Abenteuerliche dieses Planes, den unbegreiflicher Weise selbst Coxwell für ausführbar hält, hingewiesen. Nordenskjöld hält Cheyne für einen ehrlichen Mann, der wohl nicht die Absicht habe, zu täuschen, der sich aber vielleicht in seinen Voraussetzungen irre. Indessen – meinte er – könne man in einem Ballon immerhin große Strecken überfliegen, wohin man aber gelange und ob man landen könne, das hänge vom Winde und den localen Verhältnissen ab. Mittlerweile war die Zeit herangekommen, wo die Theilnehmer des Festes sich allmählich einfanden. Der freundliche Wirth, Herr Schönlank, und Professor Torell erschienen; ein Diener brachte einen Stoß Briefe, welche Nordenskjöld sofort durchflog; eine Dame, Frau Lina Morgenstern, gab für den gefeierten Forscher ein prächtiges Rosenbouquet nebst einem Verschen ab. Gegen neun Uhr waren die Gäste versammelt, die Einen in Frack und weißer Binde, die Anderen in einfachem Anzuge.

Von den Anthropologen sah man Virchow (vergl. das umstehende Bild; 6), ferner den verdienstvollen und liebenswürdigen Generalsecretär der Deutschen Anthropologischen Gesellschaft, Prof. Johannes Ranke aus München (4), und den Reisenden Dr. Jagor aus Berlin (8); von den Geologen, welche in den letzten Tagen gleichfalls ihre Jahresversammlung gehabt hatten, war außer Professor Torell (9) und dem jungen Baron De Geer (14) vom Geologischen Bureau in Stockholm (Sohn des bisherigen schwedischen Staatsministers) noch der Director der Geologischen Landesuntersuchung des Königreichs Sachsen, Prof. Hermann Credner (5), von den Geographen Dr. G. Nachtigal (2), Präsident der Gesellschaft für Erdkunde in Berlin, Dr. von Boguslawski (3), Sectionsvorstand der kaiserlichen Admiralität, und Dr. Güßfeldt (1), der Führer der Loango-Expedition, vom Centralverein für Handelsgeographie außer William Schönlank (12) noch Dr. Henry Lange (11) und Capitain-Lieutenant Darmer (10) erschienen; außerdem sind zu nennen ein in Berlin lebender Vetter des gefeierten Reisenden, Gerichtsrath von Nordenskjöld (13) und Herr F. d'Adelborg (15) von der skandinavischen Gesandtschaft. Einige Herren waren leider am Erscheinen verhindert worden, so Director A. Bastian vom königlichen Museum in Berlin, der erst einige Tage vorher von seiner so und sovielten ethnologischen Reise um die Welt zurückgekehrt war, und Andere. Die Unterhaltung nahm sofort jenen ungezwungenen feinen Ton an, der den deutschen Gelehrten so sehr auszeichnet; die Thüren zu den im prächtigsten Blumenschmuck prangenden Speisezimmern öffneten sich; ein kaltes Buffet, mit einfachen, schmackhaften Speisen besetzt, spendete Jedem seine Gaben, und bald saßen oder standen wir gruppenweise an besonders aufgestellten Tischen.

Welch eine kolossale Summe des Wissens und der Erfahrungen war in diesen wenigen Männern, die hier im lebhaften Gespräche ihre Ansichten über die verschiedenartigsten Dinge austauschten, verkörpert, und wie abwechselungsreich waren die Themata der einzelnen Unterhaltungen!

Hier berichtete Professor H. Credner über den Verlauf der an demselben Tage von der Geologenversammlung nach den Gletscherspuren in den Rüdersdorfer Kalkbergen bei Berlin unternommenen Excursionen, worauf Torell mittheilte, daß er in den nächsten Wochen seine im Jahre 1865 begonnenen Untersuchungen über die bei Rüdersdorf vorkommenden Gletscherspuren beendigen werde; dort theilte Virchow Einiges aber seine seitdem ausgeführte Reise durch Spanien zum internationalen Anthropologen-Congreß in Lissabon mit; hier wurde Nachtigal über die Fortsetzung seines Riesenwerkes „Sudan“ gefragt; dort gab Dr. Jagor aus dem unerschöpflichen Schatze seiner ethnologischen Studien und Erfahrungen eine Reminiscenz zum Besten, während Lange und Darmer im eifrigen Zwiegespräch handelsgeographische Angelegenheiten erörterten und J. Ranke einigen wißbegierigen Zuhörern Näheres über seine diesjährigen interessanten Höhlenuntersuchungen mittheilte.

Nordenskjöld war überall. Bald erzählte er Virchow, daß er am heutigen Tage die königliche Bibliothek in Berlin besucht habe, um die ältesten Ausgaben des Ptolemäus (des bekannten alexandrinischen Geographen und Astronomen im zweiten Jahrhundert nach Christo) kennen zu lernen; bald vertiefte er sich mit Boguslawski, Credner und Güßfeldt in die Theorie über die Entstehung der Erde. Er ist ein Anhänger jener Ansicht, nach welcher unser Planet im Laufe der seit seinem Entstehen vergangenen, unzählbaren Jahr-Billionen fort und fort durch zahllose feine Theilchen kosmischen Staubes an Größe zugenommen hat. Er erklärt diesen kosmischen Staub, von welchem man in den Polarländern und in Nordschweden auf dem Schnee wiederholt Spuren beobachtet haben will, für Verbrennungsproducte der Sternschnuppen und Meteore. Auch die Entstehung gewisser local beschränkter Gesteinsarten können vielleicht auf die Aufspeicherung solchen kosmischen Staubes zurückgeführt werden.

Weiterhin wendete sich das Gespräch auf die Frage der Veränderung der Lage vieler Gesteinsschichten. In Bezug hierauf erklärte Nordenskjöld gewisse complicirte Schichtenbiegungen, wie sie z. B. auf Spitzbergen vorkommen, als Resultat der Zusammenziehung der Schichten in Folge starken Temperaturwechsels.

Während dieses Gespräches war Dr. Jagor zufällig an denselben Tisch herangetreten. Nordenskjöld, welcher während seines Berliner Aufenthaltes für diesen ihm von früher her befreundeten Gelehrten die größte Hochachtung an den Tag gelegt und die berühmte „Indische Sammlung“ Dr. Jagor's im königlichen Museum studirt hatte, erhob sich sofort, holte selbst einen Stuhl herbei und offerirte ihm denselben. Die Unterhaltung wandte sich auch auf das neueste demnächst erscheinende Werk Nordenskjöld's über die Reise der „Vega“. Begreiflicher Weise ist die ganze gebildete Welt auf den Inhalt des Werkes höchst gespannt. Doch möchten sich Diejenigen, welche eine romanhafte Beschreibung erwarten,

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 702. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_702.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)