Seite:Die Gartenlaube (1880) 719.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)

Juden, Griechen und Germanen aufgefaßt sehen wollte (1876, Nr. 4)[1] Diesen Gedanken scheint Dr. Magnus angeregt zu haben, wenigstens wiederholte er ihn im folgenden Jahre. In einer Reihe von Schriften und Abhandlungen erhob er die Entwicklung des menschlichen Farbensinnes zu einer förmlichen Theorie und behauptete, daß der Farbensinn sich in seinen Anfängen auf die Empfindung des Rothen beschränkt habe, worauf in der genauen Reihenfolge der Spectralfarben zunächst die Empfänglichkeit für die gelbe Farbe, dann für Grün, Blau und endlich für Violett hinzugekommen sei, über welches hinaus die Menschen der Zukunft vielleicht neue Farben erkennen würden, wie denn schon jetzt einige Personen dort eine den andern verborgene Färbung sähen.

Diese Theorie wurde dann von Magnus mit gewissen Fabeln der Alten in Verbindung gebracht. Wie wir heute die Anfänge der Schrift, der Malerei und der Kochkunst in den Ueberresten des prähistorischen Menschen verfolgen, so hatten bereits die Alten sich allerlei Geschichten über den ersten Entdecker jeglicher Fertigkeit und Kunst ausgedacht. Man erzählte, wie Prometheus das Feuer, Tubal die Metallbereitung, Kadmos die Buchstabenschrift und Apollo die Musik erfunden haben, und ähnlich wie Kadmos von dem einfachen Schnörkel des Kranichzugs ausgegangen sein sollte, und, wie die Lyra anfangs nur drei auf eine Schildkrötenschale gespannte Saiten besaß, so sollte nach Plinius’ Erzählung die Malerei anfangs nur mit Roth begonnen haben, wozu dann gelbe, schwarze und weiße Pigmente kamen. Die Alten selbst betrachteten diese (bei der Seltenheit fertig gebildeter grüner und blauer Pigmente in der Natur nicht gerade abweisbaren) Erzählungen als müßige Spiele der Phantasie, und Sophokles bereits machte sich in einem von Athenäus aufbewahrten Fragmente über die Schulmeister lustig, die von Homer und andern Dichtern behaupteten, sie hätten die Farben nicht unterscheiden können, weil sie die Farbenbezeichnungen etwas willkürlich angewendet haben.

Der Schreiber dieser Zeilen hatte jener Theorie Geiger’s niemals das geringste Gewicht beigemessen, und seit langen Jahren (z. B. in einem Artikel der „Vossischen Zeitung“ vom 22. August 1874) dagegen angekämpft, anscheinend ohne Erfolg und Theilnahme; denn alle Welt liebäugelte mit dem pikanten Gedanken von der Farbenblindheit der Alten. Der schon erwähnte Artikel im Jahrgange 1876 der „Gartenlaube“, welcher die hier und da bei uns vorkommende Farbenblindheit als einen Rückschlag in den Zustand der Menschheit aus der Zeit der Bibel, Homer’s und der Veden darstellte und die Behauptung wiederholte, daß in der Bibel die blaue Farbe des Himmels nicht erwähnt werde, veranlaßte mich mit dem damaligen, nun verewigten Herausgeber dieser Zeitschrift, Ernst Keil, in eine längere Correspondenz über die besagte Theorie zu treten, in welcher ich darauf hinwies, daß die Bibel im Gegentheil an mehreren Stellen die Bläue des Himmels schildere, indem sie seine Farbe dem Sapphir vergleicht (z. B. 2. Mos 24,10), daß also jedenfalls die Empfindung des Blauen vorhanden gewesen sei, wenn auch, wie diese Benutzung des Sapphirs und andere Umstände beweisen, das Wort dafür fehlte. Ebenso wies ich die Deutung der Farbenblindheit als Rückschlag zurück, weil nicht Blaublindheit (wie sie den alten Völkern zugeschrieben wird), sondern Rothblindheit unter uns am häufigsten vorkomme. Meine ziemlich ausführliche Widerlegung wurde dem Verfasser jenes Artikels zugesandt, fand aber so wenig Zustimmung, daß derselbe noch zweimal die jetzt von ihm selbst aufgegebene Geiger’sche Theorie in der „Gartenlaube“ vertheidigt hat.

Als nun im nächsten Jahre (1877) zwei die Ideen des „Gartenlauben“-Artikels weiter ausführende Schriften von Dr. Magnus und zahlreiche in denselben Kerb hauende Artikel in verschiedenen Journalen erschienen, lieferte ich im Juniheft des Jahrgangs 1877 der von mir herausgegebenen Monatsschrift „Kosmos“ eine Widerlegung der Gladstone-Geiger’schen Theorie, der ich auch heute, trotz der zahllosen seitdem angestellten Untersuchungen über diesen Gegenstand, nichts hinzuzufügen habe. Ich bemerke im Voraus, daß ich in meiner Widerleguung jenes gelehrten Aberglaubens gar keine besondere wissenschaftliche Leistung, sondern einen einfachen Sieg des nüchternen und gesunden Menschenverstandes über die einseitige, wenn auch noch so gründliche Stubengelehrsamkeit sehe. Aber da diese fixen Ideen noch täglich in unseren Zeitschriften weiter rumoren,[2] so scheint es mir geradezu geboten, die Sache noch einmal vor das große Publicum zu bringen.

Man möchte zunächst denken, es sei eine reine Unmöglichkeit gewesen, eine solche Theorie überhaupt aufzustellen, da wir ja in den alten ägyptischen, zum Theil weit vor Homer zurückreichenden Wandgemälden, an griechischen Tempelresten und in den Gemälden von Herculanum und Pompeji die besten Beweise besitzen, daß die alten Maler Grün und Blau gerade so wie wir sahen und wiedergaben, und der berühmte Aegyptologe Johannes Dümichen in Straßburg bestätigte mir obendrein, daß sich in dieser Anwendung der gesammten Farbenscala seitens der alten Aegypter das feinste und ausgebildetste Farbengefühl offenbare. Gut, antworteten mir die Geigerianer, die alten Aegypter mögen bereits entwickelten Farbensinn gehabt haben, als die Griechen das Grün noch grau und das Blau schwarz sahen. – Aber die Griechen wendeten ebenfalls Blau an. „Wenn dennoch,“ so antwortet ein neuerer Verfechter (1880) wörtlich, „die Griechen mehrfach Blau verwendet haben, wie bei der Bemalung der Triglyphen dorischer Tempel, beim Piedestal des Zeus zu Olympia etc., so beweist dies keineswegs bei dem berechtigten obwaltenden Zweifel, daß sie auch das Blau so empfunden haben, wie wir es empfinden, das heißt als Blau. Wohl möglich, daß sie in dem von ihnen angewendeten Ultramarin nur eine bestimmte Nüance von Grau wahrnahmen.“

Die in der Unmöglichkeit des Beweises, daß das Blau der einen Person nicht das Gelb oder Roth einer anderen sein könnte, sich öffnende Hinterthür war mir nicht entgangen, weshalb ich sie gleich im Beginne des Kampfes durch eine Wand verschlossen habe, durch welche man nur, wenn man weder hören noch sehen will, mit dem Kopfe durchrennen kann. Das Fundament dieser Wand lieferte mir die oben erwähnte Bibelstelle, in welcher die Himmelbläue in Ermangelung eines besonderen Farbwortes mit dem Sapphir verglichen wird, wie wir von einem azurnen Himmel sprechen. Unter diesem Sapphir ist nämlich nicht unser durchsichtiger Sapphir zu verstehen, sondern ein härteloser, undurchsichtiger Halbedelstein, der weder Farbenspiel noch einen besondern Glanz erlangt, also das Auge einzig und allein durch seine herrlich azurblaue Farbe entzücken konnte, der Lapis lazuli. Kein Stein begegnete bei den ältesten Culturvölkern, den alten Indern Persern, Hebräern, Aegyptern etc., einer höheren Werthschätzung und hat gleich lebhaften Bergwerksbetrieb und Handel hervorgerufen, wie dieser Stein, den wir jetzt centnerweise als Ultramarin künstlich bereiten. Hätte man diese wundervolle Farbe nicht zu schätzen vermocht, so hätte man statt seiner den ersten besten unscheinbaren Feuerstein ebenso gut als Schmuckstein tragen können; denn dieser Stein besitzt nicht einmal den Glanz der schwarzen Steinkohle. Daß er aber blau und nicht etwa grün oder roth empfunden wurde, dafür bürgt uns sein Vergleich mit dem physikalisch ganz verschieden entstehenden Blau des Himmels. Um die Beweiskraft dieses „Juwels“ voll zu machen, wird neben ihm z. B. Hohelied 5,14 ein ebenfalls undurchsichtiger und härteloser, hellblauer oder grünlicher Stein, der Türkis, zu einer Zeit gepriesen, wo man von Diamanten und Rubinen noch sehr wenig sprach, weil dieselben erst durch den schwierigen Schliff ihre eigenthümliche Schönheit erhalten.

Aber jene Bibelstelle liefert nicht blos den unumstößlichen Beweis, daß nicht Homer oder Moses, sondern Geiger und seine Nachbeter mit Blindheit geschlagen waren, sondern sie zeigt auch die sehr einfache Lösung jener Schwierigkeit, an welcher die Gelehrten seit zwanzig Jahren ihren Scharfsinn vergeblich erprobt

  1. Wir bemerken, daß der hier in Erinnerung gebrachte Artikel: „Die Farbenblindheit, eine Gefahr für das öffentliche Leben“ durchaus nicht den Zweck hatte, eine wissenschaftliche Erörterung über die historische Entwickelung der Farbenblindheit zu geben, sondern einzig und allein, wie auch der Titel des Aufsatzes besagt, auf die große Gefahr hinweisen sollte, welche durch die enorme Verbreitung der Farbenblindheit unter den Menschen bezüglich des Verkehrslebens damals (1876) noch bestand. Die Bemerkungen, die von unserem Mitarbeiter, Herrn Carus Sterne, bekämpft und in obigem Artikel angefochten werden, waren in jenem Aufsatze der „Gartenlaube“ durchaus nicht Zweck der Bearbeitung, sondern lediglich als Einleitung mitgetheilt. Der Zweck jener Arbeit wurde auf das Glänzendste erreicht, indem seit dem Jahre 1876 fast alle Regierungs- und Verwaltungsbehörden nicht nur in ganz Europa, sondern auch in außereuropäischen Ländern ihre Betriebs- und Verwaltungsbeamten auf Farbenblindheit prüfen ließen, um diejenigen aus ihrem Personale auszuscheiden, durch deren mangelhafte Sehfunctionen Störungen und Unglücksfälle auf dem Gebiete des öffentlichen Verkehrswesens hätten veranlaßt werden können.
    D. Red.
  2. Man sehe die Sonntagsbeilage des „Berliner Tageblatts“ 1880, S. 200, wo die Frage von einem Universitätslehrer so naiv behandelt wird, als sei seit Geiger gar nichts darüber gearbeitet worden!
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 719. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_719.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)