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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


'Hast Du ihr noch einmal davon gegeben? Ich sehe, es sind mehr als fünfzehn Tropfen heraus.'

Ich nickte mit dem Kopfe.

'Nach zwei Stunden?' fragte er abermals und steckte das Fläschchen ein; ich aber nickte wieder bejahend. Er betrachtete nochmals aufmerksam die Todte, befühlte sie und hob ihr die Augenlider empor. 'Sonderbar,' begann er wieder, 'Du hast ihr etwa um zwölf Uhr die erste Anzahl der Tropfen gegeben und dann um zwei Uhr die anderen; jetzt haben wir erst drei Uhr, und diese Leiche ist schon seit mehreren Stunden kalt; Dein Weib muß mindestens schon vor zwei Stunden verschieden sein – wie geht das zu?'

Er sah mich erstaunt an; ich fühlte, wie ich unter seinen fragenden Blicken immer mehr erbleichte; die Füße hielten mich nicht länger, und ich sank ohnmächtig hin. – – –

Die Todte war beerdigt; ich war krank geworden und hatte mich wieder erholt; es waren zwei Wochen verstrichen – da kam ein Bote, der mich sogleich zu Don Manuel rief, welcher dringend meiner bedürfe. Er war bei einem Ritt mit dem Pferde gestürzt, hatte innerliche Schäden erlitten und man erwartete stündlich seinen Tod. Ich wurde an sein Lager geführt, an welchem Inez' liebliche Gestalt kniete, das Gesicht in des Vaters Kissen gedrückt; am Fußende aber stand der Arzt, Bruder Jonathan. Don Manuel winkte mich zu sich heran.

'Don Mauer,' sagte er mit schwacher Stimme, 'ich muß sterben, möchte aber vorher noch für mein Kind sorgen, das schon ohne Mutter ist. Ihr habt sie neulich im Sturm errettet, und sie hat mir anvertraut, daß sie Euch liebe und denke, Ihr liebt sie wieder. Daher frage ich Euch jetzt, wo der Tod mich drängt: könnt Ihr sie lieben und wollt Ihr sie als Euer Weib an Euer Herz nehmen und sie ehren und hochhalten? Sie war mir immer eine gute Tochter; sie wird Euch auch eine gute Gattin sein.'

Da hob Inez den Kopf empor, und die schönen dunklen Augen, die in ihrer Unschuld ihre Gefühle nicht zu verbergen verstanden, sahen heiß und flehend zu mir auf. Ich legte die eine Hand auf dieses holde, reine Haupt, die andere in Don Manuel’s Rechte.

'Ja, ich werde sie ehren und behüten als mein köstlichstes Kleinod,' sagte ich feierlich, 'denn ich liebe sie über Alles in der Welt.'

Da sank Inez an meine Brust, und der Sterbende segnete uns. Er drang darauf, daß ein schnell herbeigerufener Priester uns noch gleich an seinem Sterbelager traue, damit er Inez sicher geborgen wisse. Kaum war der bedeutungsvolle Act vorüber – verschied er.

Das Ueberraschende, Ueberwältigende dieses Ereignisses drang so mächtig auf mich ein, daß ich außer dem einen Gedanken: 'Inez ist mein!' nichts dachte, nichts erwog. – Als ich nach dem Verscheiden des Vaters das weinende, erschöpfte Mädchen der Obhut der treuen alten Sara übergeben hatte und ich wieder heim nach meiner Plantage ritt, gesellte sich Jonathan zu mir.

'Bruder Michael,' sagte er und blickte mich dabei finster und drohend an, 'nun weiß ich, welcher sündhaften Liebe wegen Julie, Deine Frau, die doppelte Anzahl der betäubenden Tropfen von Dir erhalten hat und warum, als ich am frühen Morgen zu Dir kam, die Leiche schon seit mehreren Stunden erkaltet war.'

Als ich erbleichte, lachte er höhnisch, wendete sein Pferd und ritt in die Mission. Seitdem wurde mir Jonathan’s Anblick zur Folter; ich las immer die entsetzliche Anklage auf seinem Gesicht, obschon er dieselbe nie ausgesprochen hat. Auch Inez, meinem geliebten Weibe, war Jonathan unheimlich, ja sie haßte ihn; hatte er ihr doch, wie sie mir erzählte, glühende Liebesanträge gemacht, jetzt und schon früher, bevor ich noch zu Don Manuel gekommen war. Sie vermied ihn, wo sie nur konnte, sobald er in die Hacienda kam, und es war ihr wie mir eine willkommene Nachricht, als er uns sagte, er könne das Klima nicht mehr vertragen, und hätte er Geld genug, so würde er nach dem Norden gehen. Da gab ich ihm mehrere Tausende von meinem Vermögen, damit wir frei von ihm würden; er ging mit seinem Thomas nach Bethlehem in Pennsylvanien, und zu meiner Erleichterung sah ich ihn nicht wieder. Er schrieb mir nach einiger Zeit, ich aber antwortete nicht darauf, und nun hörte ich nichts wieder von ihm.

In meinem Herzen saß zwar der Wurm der Selbstanklage, aber so lange Inez lebte, war mir in ihr ein so unermeßliches Glück beschieden, daß über dieser Seligkeit selbst die Stimme des Gewissens schwieg. Jedoch als der Herr sie mir wieder nahm, da schrie es in mir auf: 'das ist Deine Strafe – sie muß sterben um Deiner Sünde willen,’ und aller Friede wich von mir. Da nahm ich mir vor, dem Herrn zu büßen mit meinem Leben; ich wollte es aufopfern, um für des Heilands Sache zu leiden und Seelen für ihn zu gewinnen. Ich ließ Dich, das Einzige, was mir von Inez geblieben, von mir gehen, verkaufte all mein Gut in Jamaica und ging, arm, wo es meinen Bedürfnissen galt, hin über die Meere nach Indien, wo noch am wenigsten für unsere Missionen geschehen war. Das Uebrige weißt Du schon, aber nicht, wie gern ich litt, so schwer auch diese Leidensjahre der Sclaverei waren; ich hoffte mir damit die Gnade Gottes wieder zu erkaufen. Und als nun der Herr mir die heiß ersehnte Heimkehr gewährte, da sah ich darin die Bestätigung, daß mir meine Missethat vergeben sei. Aber sie ist mir nicht vergeben, Carmen, denn Bruder Jonathan lebt und ist hier, und in ihm wandelt sie als fortwährende Mahnung neben mir her. Jedes seiner Worte rührt daran, vielleicht ohne daß er es weiß, und ich zucke immer schmerzhaft unter der Berührung dieser Wunde zusammen. In seine Hand ist es gegeben, jeden Tag, jede Stunde meine Schuld an das Licht zu ziehen, und war es ein Zeichen seiner großen Freundschaft für mich, daß er bisher geschwiegen hat – wenn er Dir und mir zürnt, wird er die alte Rücksicht zu meinen Gunsten nicht mehr gelten lassen. Du hast seine Drohung gehört; er wird sie erfüllen. Mag geschehen, was muß! Ich will es in Ergebung auf mich nehmen, aber ich bin auch nicht vermögend, Dich, mein geliebtes Kind, zu beschützen. Jonathan wird meine Schuld nun offenbaren, wenn Du ihn nicht zu Deinem Gefährten haben magst – ich, ein Sünder, kann nichts für Dich thun, sondern muß still tragen, was über mich kommt.“

Er schwieg und er wagte nicht, Carmen anzusehen; denn er fürchtete ein vernichtendes Urtheil in ihrem Antlitze zu lesen. Und sie saß still und in sich versunken da, die Augen mit der Hand beschattet, und athmete schwer und beklommen. Ihr war das Blut wie zu Eis geronnen unter dem Furchtbaren, was sie erfahren; sie hatte ein muthiges Herz, aber es erzitterte jetzt unter dem Weh dieses Elends, dem sie nicht zu begegnen wußte. Und doch, sie dachte daran, daß sie jetzt vor Allem ihre Liebe zeigen müsse; denn er werde dieser Liebe bedürfen; sie hatte ihm ja gesagt, daß sie ihn lieben werde, trotz seiner Schuld, und daß sie sein Leid mit ihm tragen wolle; er hatte um ihrer Mutter willen gesündigt, und diese würde ihm gewiß vergeben und ihn trotzdem geliebt haben – wie auch die Menschen ihn richten mochten; die Tochter war nicht zu ihres Vaters Richter gesetzt, Gott aber würde ihn milde beurtheilen, nach der Tiefe seiner Reue und seiner Leiden – das fühlte sie mit unumstößlicher Klarheit. So erhob sie denn den Kopf und wendete dem Vater das Gesicht zu, und ob sie auch bebte, schlang sie doch den Arm um des gebeugten Mannes Nacken.

„Sei getrost, lieber Vater, und hoffe auf Gott!“ sagte sie liebevoll, „Du hast so tief, so lange und schwer gebüßt, daß er Dir Deine Sünde gewiß vergeben hat. Er wird uns wohl auch helfen aus diesem Elend.“

Sie schwieg einen Augenblick, in tiefes Sinnen versunken.

„So muß ich wohl von meiner guten Mutter den unüberwindlichen Widerwillen gegen Bruder Jonathan geerbt haben; denn ich habe mich vor ihm gescheut, so lange ich denken kann, und es wäre mir unmöglich, ihm anzugehören. Er ist mir verhaßt wie die Sünde; ich würde alles Schlimme in ihm suchen, und doch ist, was er thut, immer gut, und er hat auch an Dir sich freundlich bewiesen. Laß uns überlegen, ob sich nicht doch noch ein Ausweg in unserer Noth finde.“

Der alte Mann lehnte weinend an dem Mädchen, das er als Vater doch hätte schützen und halten sollen, und ihr armer Kopf sann und dachte für ihn und für sich.




9.

Das Gewitter war vorübergezogen, der Regen aber strömte noch immer hernieder. Es war gegen fünf Uhr Nachmittags, als zwei Compagnien der Truppen, welche den Tag über manövrirt hatten, in ziemlich ungeordnetem Zuge auf der Landstraße daher

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