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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)

drückte; sie beschlossen endlich alles von einer Unterredung des Vaters mit Jonathan abhängig zu machen, und Carmen trat den Heimweg an; denn es war nach acht Uhr geworden.

Als sie die Treppe herunterkam, blieb sie unter dem Thorbogen des Hauses stehen. Es graute ihr vor dem Vater, vor sich selbst, vor der ganzen Welt. Es war ihr, als habe sie neben diesem Vater selbst kein reines Gewissen mehr. Und was sollte nun werden? Seine Schuld und ihre Kindespflicht drängten sie unabweislich in’s Elend, in die Arme dieses Jonathan. Nirgends wollte sich ein Ausweg zeigen. Sollte sie ausscheiden aus der Brüdergemeine? Das wäre gleichbedeutend mit der Trennung vom Vater; denn bei seiner Seelenstimmung, die in Reue sich quälte und in Buße allein Befriedigung fand, würde er nimmer in ein Losreißen von seiner alten Glaubensrichtung und von der Gemeinschaft der Brüder sich finden. Den Vater verlassen? Nimmermehr! Wohl lockte sie ein Gedanke – der Gedanke an Wollmershain und an Frau von Trautenau, aber sie verwarf ihn sofort wieder – sie konnte, sie durfte nicht: dort gehörte sie Keinem, hier ihrem Vater. Ach, wie ihr doch das arme Herz ächzte! Sie dachte: wenn sie nur weinen könnte, müßte doch ein wenig der bedrückenden Last mit hinwegrinnen, aber keine befreienden Thränen wollte in ihr brennendes Auge kommen.

Sie hatte sich auf einen Mauervorsprung in dem großen Thorbogen des Hauses niedergesetzt, nur um noch ein Weilchen allein zu sein und sich zu sammeln, ehe sie den schweren Gang nach dem Schwesternhaus antrat. Es hatte nun endlich aufgehört zu regnen. Eine trübe brennende Laterne, die vereinzelt auf dem Platze stand, lichtete etwas die Finsterniß und warf einen unsicheren Schein von Helle über die nassen Steine des Pflasters zu Carmen hinüber.

Es war still in den Straßen geworden; von den Dächern nur tropfte eintönig noch das Naß des gefallenen Regens herab; hin und wieder schallte auch einmal verloren der Schritt eines einsam Dahingehenden aus einer der Seitengassen hervor – dann herrschte wieder tiefe Stille, und die fallenden Tropfen bildeten das einzig hörbare Geräusch. Es lag etwas Besänftigendes in dieser Ruhe und in dem monotonen Fall der Wassertropfen, etwas, wie wenn man mit leiser Stimme ein müdes Kind zum Schlafen einsingt. Carmen fühlte sich wie in einen süßen Zauberkreis gebannt; sie zauderte lange und immer länger.

Jetzt ertönte aus der Ferne ein Schritt; ein Mann ging über den Platz, und als er in die Nähe der Laterne gelangte, blitzte es da und dort an seiner Kleidung wie Funken auf, und bei seinen Schritten, die fest und eilig auftraten, klirrte etwas nebenher – Carmen sah und hörte es wohl, aber ohne sich dessen bewußt zu werden; sie träumte in sich hinein; bewegungslos starrte sie in das Dunkel hinaus und ihr Herz, ihr armes Herz schien todt zu sein, todt und starr. Da – schien nicht der blitzende, klirrende Wanderer gerade auf den Thorbogen zuzuschreiten? Er näherte sich wirklich, und als er nun in dem unsicheren Licht deutlicher aus dem Dunkel hervorwuchs, klopfte plötzlich ihr Herz, das arme Herz, das eben noch so starr und todt in der Brust gelegen, heftiger auf – sie drückte sich dichter an die Wand zurück und starrte dem Kommenden mit weitgeöffneten Augen entgegen.

Jetzt stand er unter dem Thor und gewahrte im hellen Licht die zusammengedrückte Gestalt an der Seitenwand; er stutzte, schien zu forschen, und grüßend die Hand an den Rand seiner Kopfbedeckung legend, rief er freudig:

„Fräulein Carmen, Sie sind es wirklich? Ich komme noch zu so später Stunde, Sie zu begrüßen und Ihren Herrn Vater kennen zu lernen, da ich nur diese Nacht hier bin. Adele sagte mir soeben, daß ich seine Wohnung in dem Hause mit dem großen Thorbogen finden würde und daß Sie sicherlich bei ihm wären.“

Er sprach in lebhafter Bewegung, und hielt ihr die Hand zum Gruße hin; sie waren in Wollmershain mit herzlichem Händedruck von einander geschieden, und nun machte er das gewonnene Recht bei ihr wieder geltend.

Das Mädchen legte ihre Hand in die seinige; diese Hand war so starr und kalt, daß es ihn fast durchschauerte, und Carmen lehnte so müde und gebrochen mit ihrem Kopf gegen die Steinwand, daß er beunruhigt fragen mußte:

„Um Gottes willen, es ist Ihnen doch kein Unglück widerfahren? – Carmen, liebes Fräulein Carmen, ich beschwöre Sie, sagen Sie mir nur ein Wort, daß ich weiß, was Ihnen fehlt, und lassen Sie mich Ihnen helfen, wenn ich es vermag!“

Sie hatte sich langsam und mühsam erhoben; die Kniee zitterten ihr und konnten sie kaum tragen – ihre Hand lag, wie sich stützend, noch immer in der seinigen. Da, bei dem tiefen Klange seiner theilnehmend bewegten Stimme löste sich plötzlich der schwere Druck ihres gequälten Herzens; ein krampfhaftes Schluchzen drang über ihre Lippen, und das heiß ersehnte Labsal befreiender Thränen kam endlich in ihre Augen. Sie wankte, und da sein Arm sie zu stützen und zu halten suchte, sank ihr Kopf kraftlos gegen seine Schulter.

„O Carmen,“ bat er, „vermögen Sie denn gar nicht mir zu sagen, was Ihnen widerfahren ist? Sie können nicht ahnen, wie mich die Besorgniß um Sie foltert. Wie soll ich Ihnen von meinen Gefühlen sprechen? Ich leide sehr – o glauben Sie es mir! – Sie in solchem Schmerze wiederzufinden.“

Sie weinte bei seinen Worten nur um so heftiger, und doch, wie wohl thaten ihr diese strömenden Thränen; wie ein Engel des Lichts erschien ihr Der, der sie ihr wiedergegeben hatte! Sie wehrte ihm nicht, da jetzt sein Arm sie umschlang, und an seiner Schulter lehnend, hatte sie nur das eine Empfinden: daß es ein rechter Mann sei, der sie da halte, daß er allein es vermöge, ihr zu helfen und sie zu stützen, und daß es wunderbare Seligkeit sei, sich von ihm stützen zu lassen. Bei dem Vater keine Hülfe, ihre eigene Kraft im tiefen Weh gebrochen – in ihm aber – das fühlte sie – in ihm lag Wollen, Muth und Kraft, ihr aus allem Weh zu helfen. Als seine Fragen sie immer drängender bestürmten, versuchte sie endlich zu reden.

„Man hat heute das Loos über mich geworfen,“ stammelte sie, „ich soll das Weib eines ungeliebten Mannes werden – durch das Loos, Herr von Trautenau!“

„Durch das Loos?“ fragte er, indem er sich verfärbte. „Sie, unsere schöne, stolze Carmen, durch das Loos verschenkt? Aber das ist ja ganz undenkbar, und Ihr Vater kann und wird solchen Mißbrauch nicht dulden.“

„Mein armer Vater!“ klagte sie. „Er kann nichts dagegen thun; er kann mich nicht beschützen.“

„Aber ich, bei Gott, ich werde es nicht dulden!“ sagte er leidenschaftlich und zog sie fester an sich. „Carmen, ich beschwöre Sie, Sie dürfen dieser schmachvollen Sitte Ihrer Gemeine sich nicht unterwerfen.“

„Nein, eher sterben als das,“ rief sie aus. Ein Theil ihres alten Muthes kehrte ihr wunderbar zurück; nun, da er bei ihr stand, fühlte sie: es mußte eine Rettung für sie möglich sein.

Sie trocknete die Thränen von den Wangen, erhob den Kopf, der so kraftlos an seiner Schulter gelehnt, um sich aus ihrer selbstvergessenen Lage, die ihr jetzt peinlich wurde, zu befreien – da aber fuhr sie erschrocken zurück; denn von ihnen ungehört war Jonathan’s schleichender Schritt genaht, und nun blickte sie in sein verzerrtes Gesicht, in seine zornfunkelnden Augen.


(Fortsetzung folgt.)




Ein Rückblick auf die Ausstellung der deutschen Wollenindustrie zu Leipzig.


Es war vor ungefähr zwei Jahren, als auf dem Delegirtentage des Centralvereins der deutschen Wollenwaarenfabrikanten zu Crimmitschau der Vorstand dieses Vereins zuerst den Gedanken anregte, eine Fachausstellung der deutschen Wollenindustrie zu veranstalten. Die Erfahrungen aus den bisherigen Weltausstellungen hatten zu der Erkenntniß geführt, daß diese großen, alle Branchen der Gütererzeugung umfassenden Ausstellungen, indem sie eigentlich nur Bruchstücke eines jeden Gewerbes enthalten, nicht denjenigen fördernden Einfluß auf das Gewerbe ausüben können, wie jene Ausstellungen, die sich auf ein einzelnes Fach beschränken. Eine Fachausstellung, alle Stadien und Richtungen einer Fabrikation vom Rohmaterial bis hinauf zu dem edelsten, gebrauchsfertigen Fabrikate vorführend, ermöglicht dem Producenten, sich über Rohstoffe, Hülfsmaschinen, Verfahrungsarten, neue Erfindungen im

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 734. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_734.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)