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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


Bild, das die hölzernen Wände der Hütte umrahmten, ein Bild zum Malen. Das Haupt gedankenvoll gesenkt, saß das Mädchen in graciöser Lässigkeit wie träumend da. Eine Fülle üppigen Goldhaars fiel ihr frei und ungebunden in langen Wellenlinien auf die Schultern herab und wob um das leichte, knapp anschließende Mieder, welches volle und doch zarte Formen verrieth, aus tausend Fäden einen glitzernden, goldigen Schleier. Wie die Sonne aus ihrem eigenen Strahlenkranze, blickte Karin aus dem leuchtenden Rahmen ihres metallisch schimmernden Haares hervor – aber sie blickte nicht sonnenhaft; denn wie Wehmuth und Sorge lagerte es ihr über Stirn und Wangen; sie hatte die Hand dem erprobten Cameraden, dem treuen Rustan, der nicht von ihrer Seite gewichen, auf’s Haupt gelegt, und das kluge Thier blickte sie mit klaren schwarzen Augen verständnißvoll an, als trüge es in der Brust eine fühlende Menschenseele. Aber Karin’s Blick begegnete nicht dem des treuen Gefährten; bange und unruhvoll lag er auf dem stummen Schläfer zu ihren Füßen, dessen Athem sich mehr und mehr belebte. Heimlich zuckte es ihr dann und wann um den kraftvoll schwellenden kleinen Mund, und ihr sinnendes Auge, in dem sich Unschuld und bewußtes Denken, Schwärmerei und prüfender Verstand wunderbar mischten, schien unter den langen, dichten Wimpern müde nach innen zu schauen. Wo waren die Gedanken des Mädchens?

Wenn ein Ungeahntes plötzlich in unsern Kreis tritt, fremd und neu, wie ein Gebild aus einer andern Welt, für das uns jedes Maß und jede Norm fehlt, dann wissen wir nicht, wie es empfangen, wie es begrüßen? Wird es uns Heil bringen oder Unheil? Karin waren die Tage bisher in wechsellosem Gleichmaß dahingeflossen. Auf der öden Klippeninsel, allein mit den Eltern und den drei Burschen, die in des Vaters Sold standen, hatte sie die Jahre hindurch ihr Leben getheilt zwischen dem steten Kampf mit der rauhen Natur des Nordens und stiller Arbeit, zwischen selbstgeschaffenen lustigen Abenteuern und weltverlorenen Träumereien, je nachdem das gewaltige Nebeneinander von See und Fels ihr bewegliches Gemüth heute in kindischer Thatenlust in’s Weite gelockt, morgen verschüchtert und scheu in sich selbst zurückgedrängt. In der Hütte hatte sie gewirkt und geschafft, Segel genäht und Netze geflickt und die beiden Alten gehegt und gepflegt. Draußen aber in der frischen, weiten Natur, da war es ihr stets gewesen, als wäre sie hier in ihrem eigentlichen Elemente. Im Sommer war sie rastlos durch die Tiefen und über die Höhen der kleinen Insel geschweift; bald hatte sie dem Echo der Felsen gelauscht; bald war sie unwegsame Abhänge wagelustig hinangeklettert zu den Klippenhorsten der Seevögel, hatte die bunten Eier grausam geraubt und die nackte, zappelnde Brut heimgetragen. Oder sie hatte beim Fischfang geholfen, war mit den Männern hinausgesegelt in die offene schäumende See, hatte das Ruder geführt, das Netz geworfen und gejubelt und gejauchzt, wenn über ihr in der reinen blauen Luft die Möve weithinschweifend ihre langen Schwingen ausbreitete und niedertauchte und die Brust in der kühlen Salzfluth badete und dann wieder emporschoß und in großen Kreisen aufstieg und im Aether verschwand. Wenn nun aber die stille, laue Nacht kam mit Sternenschimmer und Mondesglanz, dann war sie, da Alles schlief, leise an den Strand hinabgestiegen, hatte die Kleider abgeworfen – und das blaugrüne Meer küßte die alabasternen Glieder der einsamen Schwimmerin. Fernab vom Lande, auf der hohen See, da leuchtete silberbetropft ihr goldenes Haar, wie das Haupt einer Meerjungfrau, und dann hub sie zu singen an, und es tönte ihr Lied weit herüber, lockend und bestrickend wie Sirenengesang. – Aber auch im Winter, im langen, düsteren Winter, wenn die Hütte unter dem grau behangenen Himmel tief in Schnee und Eis gebettet lag und der letzte Halm auf den Felsen erstarrt war, auch dann immer war die Natur Karin’s liebste Vertraute gewesen. Auf den blanken Schlittschuhen, den treuen Rustan als flinken Cameraden zur Seite, war sie hinausgeglitten auf die glitzernde, unabsehbare Eisfläche und hatte die junge Stirn gekühlt in dem frischen, kräftigen Seewind. Wenn dann am frühen Abend im fernen Westen die Sonne sank und im röthlich blendenden Lichte, weit ausgreifend, unzählige Strahlen über die weiße schimmernde Fläche ausgoß, dann, in der schweigenden Oede, war es oft heimlich über sie gekommen wie ein unbegreifliches Sehnen, ein Sehnen ohne Gegenstand und Ziel. Dort hinten, wo der feurige Ball versank, sah sie eine ihr unbekannte Welt erstehen, jene Welt, von der nur dunkle Kunde, wie zerrissene Klänge, die der Wind daherträgt, in ihre Einsamkeit gedrungen war. Häuser malte sich ihre dichtende Phantasie, Häuser und Straßen und ganze Städte und viele, viele Menschen darin, und sie selbst wandelte unter diesen Menschen, und sie waren gut mit ihr, und sie hatte sie lieb. Dann aber, schnell wie es gekommen, versank das Bild wieder, das sie sich erträumt, ohne das Urbild zu kennen. Es blieben nur Nebel und Schatten. Aber was wir geschaut mit den Augen des Herzens, das kann uns niemals auf immer verblassen. Ob sie am winterlichen Feuer saß und das Holz auf dem Herde knistern hörte, ob sie hoch auf dem Uferfelsen stand und hinausblickte auf die märchenhafte Linie des Horizonts, wo Himmel und Wasser sich begegnen, immer wieder, in Augenblicken des Sinnens wie der Erhebung, schauete Karin im Abglanze einer purpurn versinkenden Sonne dasselbe lockende Bild, die ferne, ferne Menschenwelt jenseits des Wassers.

Und nun, als hätte ein Zauber den Traum zur Wirklichkeit gemacht, sah sie in Fleisch und Blut einen Abgesandten jener Welt vor sich, deren Bild ihre Träume erfüllt hatte. Wunderbar – sie war seine Pflegerin, seine Hüterin. Und was war es nur, das ihren Blick so mächtig, so unwiderstehlich an die Züge des Schlafenden fesselte? Was war ihr der Fremdling – ihr? Vor wenigen Stunden erst, in dunkler Nacht, hatte der Sturm ihn an diesen Strand geworfen, und schon sprach es zu ihr aus seinen Mienen, wie ein Verwandtes, längst Gekanntes. Wie sollte sie das Gefühl nennen, das sie so geheimnißvoll beschlich? Mitleid mit dem Schicksal des Fremden war es nicht – das fühlte sie. Auch nicht unedle Neugier, den Schleier zu lüften, der über seiner Person lag. So war es leise Regung des Herzens, unergründlich, unfaßbar? Fast war es etwas – seltsam genug! – wie die Zärtlichkeit einer Schwester für den Bruder. Und doch war es wieder etwas ganz Anderes. Dieser Mund, diese Stirn, wo war sie ihnen schon zuvor begegnet?

Karin stützte das Haupt in die Hand und sann in sich hinein. Draußen wuchs das Unwetter; ein dicht fallender Regen trieb in den Pfützen des Gesteins flüchtige Blasen und schlug mit großen Tropfen an das Gebälk der Hütte. Drinnen war Alles still. Nur Rustan knurrte manchmal leise, wenn am Gestade ein Felsstück sich polternd löste und klatschend in die See hinabfiel. Dazwischen klang es mitunter, wie wenn der Schlafende schwer aufseufzte. Karin ließ den Blick nicht von ihm; sie sann und sann und fuhr sich über die Augen, als wollte sie ein Schleiergewebe von Gedanken davor hinwegthun.

„Ich hab’ es,“ sagte sie plötzlich und griff hastig an ihr Mieder. Sie zog ein goldenes Medaillon hervor, das einen seltsamen Contrast bildete zu der ärmlichen Kleidung des Mädchens; in reicher Perlenfassung zeigte es das Bild eines älteren Mannes. Nun blickte sie von dem Bilde auf den Schläfer zu ihren Füßen und wieder von ihm auf das Bild. Dieselbe edel gewölbte Stirn hier wie dort, nur daß hier weiße Locken sie umrahmten, während dort volles Blondhaar auf sie herabfiel. Der Mund hier glich dem Munde dort, aber was ihn hier als Friede und Ruhe des Alters umspielte, das prägte sich dort als ein tiefes Ungenügen am Leben, als eine räthselhaft unbestimmte Sehnsucht aus, untermischt mit dem herben Zuge jugendlichen Trotzes.

„Ich hab’ es, und doch – wie find’ ich den Zusammenhang? Dieses Bild, ich trag’ es, so lang’ ich denken kann. Wie kommt es nur an meinen Hals? 'Trag’ es, und frage nicht!' sagt Vater Claus, so oft ich forsche. Wie soll Karin das deuten und fassen?“

Wieder umflorte sich ihr Auge, und wieder versank sie in das alte Träumen. Auf einmal fuhr sie zusammen; eine Bewegung des Schlafenden hatte sie aufgeschreckt. Er regte die Lippen, als wollte er sprechen, und ein leises Zucken ging durch seine Züge. Nun öffnete er wirklich den Mund.

„Ha, wie die wüthenden Wogen die Schiffsplanken peitschen!“ rief er, die Augen noch immer geschlossen, angstvoll und wie im Fiebertraum.

„Es ist der Regen, der an’s Fenster prasselt,“ beschwichtigte ihn Karin mit zitternder Stimme. Sie hatte sich dicht zu ihm niedergebeugt.

„Dumpf ächzt das Gebälk,“ stöhnte er. „Mein Weib, schmiege Dich fest an mich! Das ganze Fahrzeug bebt.“

„Das ist der Wind, der die Hütte erschüttert.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 747. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_747.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)