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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)

die Civilehe zu sprechen. Wir haben zwar seit fünf Jahren das Reichscivilstandgesetz; wir haben es zum Heil und Segen des Volkes, aber fast scheint es, als ob wir um dasselbe noch ringen müßten; denn mit seltener Kühnheit laufen die Feinde der Duldung gegen dasselbe Sturm; denn die bunt zusammengewürfelte Reaction führt eine Sprache, die zu dem Zweifel berechtigt, ob bei uns zu Lande wirklich die Civilehe eine bereits abgeschlossene Thatsache bildet.

So benutzen wir die Gelegenheit, die sich uns doppelt darbietet, um rückwärts in die Geschichte zu schauen und von ihr, der Lehrmeisterin der Völker, zu erfahren, ob es wirklich wahr ist, daß durch die bürgerliche Eheschließung die Moral des Volkes gefährdet wird, ob es erwünscht ist, zu dem alten System der Trauung umzukehren.




In einer wilden Orgie schritt das siegestrunkene Rom auf der weltgeschichtlichen Bühne seinem Untergange entgegen. Wie die altbewährte Rechtlichkeit in dem öffentlichen Wesen, so ging auch die Sittenreinheit in der Familie verloren, und bevor noch die schamlose Wollust der Imperatoren das eheliche Leben in Rom um die letzten Reste von Ehrbarkeit gebracht, hat schon Julius Cäsar im Senate beantragt, es solle den Römern gestattet sein, in Bigamie zu leben! So rang die heidnische Welt mit dem Tode. Da trat das Christenthum auf und brachte der Menschheit das allein richtige Princip der Ehe und des Familienlebens; es verkündete durch den Mund der Apostel: „Die Männer sollen ihre Weiber lieben als ihre eigenen Leiber; denn wer sein Weib liebt, liebt sich selbst“; es lehrte: „Weder der Mann ohne das Weib, noch das Weib ohne den Mann sind in dem Herrn“; an die Stelle des äußeren Bandes der heidnischen Ehe setzte es das innere Band der Liebe. Bevor aber seine Forderung erfüllt, bevor die christlichen Ehen Gemeingut der Christen wurden, vergingen Jahrhunderte. Denn die sinnliche Verworfenheit der heidnischen Welt erweckte in den ersten christlichen Gemeinden eine leicht erklärliche Verachtung der irdischen Güter und Genüsse, welche aber die naturgemäßen Schranken überfluthete und die Kirche auf verhängnißvolle Bahnen leitete. „Derjenige, den Engel im Himmel anbeten, verlangt auch Engel auf Erden“, schrieb Hieronymus, und Augustinus lehrte. „Nur derjenige ist vollkommen, der geistig und leiblich von der Welt geschieden ist“. In solchem asketischen Streben entstand das Gelübde der Keuschheit, und die Ehe selbst wurde als etwas Unsittliches und Unheiliges betrachtet, der Cölibat dagegen als „die Nachahmung der Engel“ gepriesen. Da aber auch damals die Ehe „schon der Erhaltung des Menschengeschlechts wegen“ als ein nothwendiges Uebel geduldet werden mußte, so sah sich die siegende Kirche genöthigt, „dieses durch die sündhafte Natur des Menschen herbeigeführte Verhältniß“ zu heiligen, und so begründete sie die Lehre vom heiligen Sacrament der Ehe.

Durch eine lange Reihe von überspannten, frömmelnden Vorschriften wurde das eheliche Leben normirt, und die Maßlosigkeit, mit welcher die Päpste vorgingen, offenbarte sich am deutlichsten in den kirchlichen Ehehindernissen. Schießlich wurde die Ehe bis auf den siebenten Grad der Verwandtschaft und Schwägerschaft verboten. Dies erzeugte aber eine solche sittliche Entartung, vornehmlich in kleineren Orten, wo man sich gar nicht mehr heirathen konnte, daß sich die Kirche selbst veranlaßt sah, schon auf dem vierten Lateranischen Concil (1216) das Eheverbot auf den vierten Grad canonischer Verwandtschaftsberechnung zu beschränken.

In der ganzen Christenheit bestanden im Mittelalter die peinlichen Vorschriften der römischen Kirche zu Recht; mit Hülfe des Pöbels zwang Gregor der Siebente die Priester zum Cölibat; die Ehe der Laien ward zu einer kirchlichen Institution. Wie war es nun zu jenen Zeiten um die Sittlichkeit bestellt? Es verlohnt sich wahrlich bei den unausgesetzten Angriffen auf die „sittenverderbende“ moderne liberale Gesetzgebung diese Frage zu beantworten.

Der sittliche Zustand der durch den Cölibat „geheiligten“ Priester blieb nach wie vor ein entarteter, schaudererregender, und die Laien selbst wünschten feste eheliche Verbindungen der Priester, um vor der Verführung ihrer Weiber und Töchter gesichert zu sein.

Vielleicht aber bot die Ehe der Laien, die nach den peinlichsten Vorschriften des Canons geregelte Ehe des Mittelalters, das sittliche Ideal, zu dem wir Kinder des angeschwärzten, gott- und sittenlosen Jahrhunderts zurückkehren sollten?

Wohl klingen aus jenen alten Zeiten die Lieder der Minnesänger märchenhaft zu uns herüber. Damals gelangte ja das weibliche Geschlecht zu einer Achtung und Verehrung, wie sie solche noch nie in der Welt genossen. Merkwürdig! Nachdem die Kirchenväter erklärt hatten, daß das Weib nicht das Ebenbild Gottes sei, und während die Canones der Frau in der Ehe den Platz einer Dienerin des Mannes anwiesen, trug die Verehrung der heiligen Jungfrau Maria, des zugleich göttlichen und menschlichen Weibes, der Beschützerin der Pilger, Städte und Länder, der man Kirchen und Capellen erbaute, so unendlich viel zur Anbetung der Frauen bei! Der Ritter lieh seinen gewappneten Arm nicht allein der Ewigreinen, sondern auch dem ganzen Frauengeschlechte und der Erkorenen seine Minne dazu, die sinnlich reine, vertrauensvolle Anbetung. Aber neben dieser Minne, welche in gewisser Hinsicht eine Reaction gegen die kirchlichen Begriffe der Ehe bildete, machte sich auch die sinnliche Seite geltend, und „der Ritter gab sich bald mit den kindischen gage d’amour sans fin (Liedesbetheurung ohne Ende) nicht zufrieden. Voll Ungeduld strebte er nach der zärtlichen Umarmung seiner Dame“. Diese freien Wahlumarmungen wurden derart zur Sitte, daß es selbst als Verletzung weiblicher Ehre galt, gäbe sich die Frau ihrem Geliebten nicht hin. Und so kam es, daß die Gräfin von Champagne einen Streit entschied:

„Ich will sprechen zu Recht und bestätigen mit beständigen Worten, daß keine rechte Liebe noch Minne sein möge zwischen zwei vermählten Eheleuten.“

Unsittlichkeit neben dem Cölibate, Liebe außer der Ehe, sie wucherten gar üppig, als das stürmische Jahrhundert der Reformation herannahte.

Nicht an uns liegt die Schuld, daß wir diese Zerrbilder aus der staubigen Kammer der Geschichte an’s Tageslicht bringen müssen. Die heutigen verleumderischen Angriffe gegen die Civilehe richten sich nicht etwa gegen einen todten Buchstaben; sie treffen alle freisinnigen Wähler, welche den Männern im Reichstage zur Einführung der Civilehe die Vollmacht ertheilt hatten – und um uns zu vertheidigen, rufen wir dem Volke, vor welchem wir angeschwärzt werden, laut zu: Das dort war die Sittlichkeit jener Zeit, in welcher die unumschränkte Herrschaft der kirchlichen Ehegesetzgebung den Zenith ihrer Macht erreichte!

Da, in die geknechtete Menschheit hinein, erscholl der zündende Ruf des Wittenberger Mönches, der auch das widernatürliche Dogma von der sündhaften Ehe über den Haufen warf. Indem Luther gegen den Cölibat ankämpfte, erklärte er im Gegensatz zu der päpstlichen Lehre, der Ehestand sei heilig und nach der Religion der „fürnehmste Stand auf Erden“. Begeistert rief er aus:

„Was soll’s doch sein, daß man die Ehe verbeut und verdammt, die doch natürlichen Rechtes ist? gleich als ob man verbieten wollte essen, trinken, schlafen. Das sei ferne, denn was Gott geschaffen und geordnet hat, das steht nicht in unserer Willkür, daß wir es ändern oder verbieten möchten.“ Dabei aber drang in der ersten Zeit der Reformation die Anschauung durch, daß die Ehe „ein weltliches Ding sei“, und der Württembergische Reformator Brentz lehrte: „der Eelich Contract, gleich wie sonst andere weltliche contract möcht auch wol auff den Rathsheusern oder andern gemeinen offenlichen, ehrlichen und burgerlichen orten verrichtet werden.“

In dem Streit mit der römischen Lehre stellte sich Luther auf den Boden des ursprünglichen Christenthums, nach welchem die Ehe allein durch Einwilligung der beiden Parteien als geschlossen und gültig erachtet wurde, und diese Meinung haben auch die meisten protestantischen Theologen des sechszehnten Jahrhunderts angenommen. Denn das Wittenberger Consistorium entschied gegen eine Klage, daß es unter den Leuten „sehr gemein einreißen wolle“ und die Verlobten vor der Trauung zusammenzögen und lebten, es sei nicht empfehlenswerth dagegen mit Strafmaßregeln einzuschreiten, „sintemal nach beschehener Verlöbniß zwischen jenen eine rechte Ehe ist und sie wie Eheleute zu halten.“ Aus diesem Grunde wurde auch von den Lehrern der Reformation der kirchlichen Trauung gar keine andere rechtliche Function zugeschrieben, als daß durch sie eine schon bestehende, vollgültig geschlossene, rechtlich durchaus wirksame Ehe lediglich öffentlich bestätigt werde. Ja, sie sprachen sogar von der kirchlichen Trauung als von einer Forderung des Staates, der sich die Kirche nicht entziehen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 775. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_775.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)