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verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


Und kaum hat die Glocke auf Sanct Nikolai acht geschlagen, da schließt sich auch des Thorschreibers kleine Hausthür hinter dem davoneilenden Paare.

„Base, Sie laufen aber wie der Seewind. Frieren Sie? Kommen Sie – ich nehme Sie mit unter meinen Mantel.“

„Danke, meiner hält vielleicht wärmer, als Ihrer,“ und sie richtet sich wieder so stolz neben ihm auf, wie an dem ersten Abend, da er sie sah. – Sie hat es lange nicht mehr gethan, aber es beunruhigt ihn nicht; es macht ihm höchstens Vergnügen. Er weiß jetzt besser, als damals, was dergleichen zu bedeuten hat.

Dann gehen sie weiter durch die engen, spärlich erleuchteten Straßen, Arm in Arm, in gleichem Schritt. Und nun folgt ein Abend mit herrlichen, glücklichen Stunden für Dorette Rickmann und auch für ihn, wenn er gleich nicht, wie sie, wähnt, das Licht des Himmels und nicht das eines irdischen Saales umfluthe sie Beide, so oft sie mit einander durch die Reihen fliegen.

Es ist das erste Mal, daß ihr Johannes öffentlich den Hof macht, und durch sein Beispiel angefeuert, zeichnen sich auch die anderen jungen Männer in Aufmerksamkeiten gegen Dorette noch mehr aus, als es sonst schon ihre Gewohnheit ist; denn unter den vielen Dingen, die ansteckend sind, steht voran das Hofmachen.

Unter ihren Verehrern befindet sich heute Abend auch wirklich ein junger Officier. Es ist, beiläufig gesagt, derselbe, dessen Aufmerksamkeit sie schon vor einem halben Jahre im Kaffeegarten auf sich zog. Was würde Putzbach bei diesem Anblick empfinden, hätte er es nicht verschmäht, zum Tanze auf’s Stadthaus zu kommen; wenn sich der Officier Doretten nähert, um sie zum Reigen zu holen, oder wenn sie ihn gnädig entläßt, lächelt sie allemal auf besondere Weise.

„Was lächeln Sie wieder so, Base?“ fragt einmal auch Johannes, der sie nicht aus den Augen verloren hat.

„Ich dacht’ an’s Fortschwimmen,“ antwortet sie mit leise zuckender Lippe. Da umschlingt sie Johannes und führt sie in rauschendem Tanze davon.

„Base Doring, Sie sind meine Gefangene!“ raunt er ihr zu, daß sie seinen Athem an ihrer Wange spürt.

O Dorette Rickmann, wie kann ein Herz so viel Glück tragen?! Tanzend trägt es sich noch am besten, meinst du; da fühlt man die goldene Last nicht; da fliegt man in den Armen des Geliebten wie ein Vogel der Morgensonne entgegen.

Aber dann ist endlich der Tanz vorüber. Man sagt sich „gute Nacht“, versichert, wie sehr man sich ergötzt hat, hüllt sich in seine warmen Sachen und steigt mit seinem Ritter und den betreffenden Müttern, Muhmen oder Basen die Treppe hinab.

Johannes und Dorette sind außer Seiler’s, welche noch oben zu thun haben, die letzten der Davongehenden. Als sie unten auf die Straße treten, sieht das Mädchen noch einmal zu den Fenstern des Saales, den sie eben verlassen haben, auf.

„Sie löschen schon die Lichter,“ sagt sie. „Armes Geschäft! Ich möcht’ diese herrlichen Lichter nicht ausblasen.“

„Wenn sie immer brennten, würden sie nicht so herrlich sein. Unser Gemüth gefällt sich am Wechsel.“

„Was kauf’ ich mir für den Wechsel, wenn der Augenblick schön ist?“

„Ich finde auch diesen Augenblick schön. Komm’, Base, gieb mir Deinen Arm fester, Du gleitest sonst.“

„Vorwärts!“ flüstert sie, „es ist Niemand, Johannes; es ist nur der Nachtwächter, der hinter uns geht. – Nein, hier links müssen wir gehen.“

Die Straßen, durch die sie schreiten, sind finster und einsam. Der Himmel ist schwer bewölkt; kaum zwei oder drei Sterne schimmern ab und zu hindurch. Er hält ihren Arm mit sicherem Druck in dem seinen, und Dorette hat Lust, die Augen zu schließen, damit es noch dunkler um sie her werde. Der kalte Decemberwind fährt ihr manchmal mit leisem Frösteln durch die Glieder, aber sie athmet ihn aus voller Brust ein. Wie im Traume geht es vorwärts; ab und zu klingt es noch wie ein ferner schmetternder Nachhall der Tanzweisen durch ihr Ohr. Und daneben steigt eine andere Musik gleich leisen, eintönigen Weihnachtsmelodien in ihrer Seele auf und strömt hinaus in die Nacht – das ist das „Du“ von den Lippen ihres Führers. Dieses Du erfüllt ihr die ungestüme Brust mit seligem, nie gekanntem Frieden, daß ihr Herz wunschlos und feierlich still wird. Sie hört es fort und fort, als wäre sie verzaubert und könnte nun in alle Ewigkeit nichts weiter hören und denken.

Immer näher rückt indessen das Ende ihres Weges. Da befällt das Mädchen eine furchtbare Angst, daß sie dem Vetter weinend an die Brust sinken möchte. Es ist ihr, als sollte sie stillstehn, damit die Nacht und das verrauschende Glück auch still stünden. Aber sie gehen mit einander vorwärts, und nach wenigen Minuten stehen sie vor des Thorschreibers Thür.

Johannes schließt die Hausthür auf.

„Gute Nacht, Dorette! Schlaf gut aus! Wo bist Du denn? Ha, hier!“ und er legt seinen Arm auf ihre Schulter.

Es ist, als stände ihr Herz einen Moment still; sie wagt nicht sich zu rühren und starrt schweigend durch’s Dunkel: er wird sie schon loslassen. Da brennt ein heißer Kuß auf ihre Wange. Sie hat ein Gefühl, als falle sie taumelnd zu Boden; der Athem will ihr vergehen, und doch steht sie noch aufrecht und hört die leisen Laute: „Gute Nacht, schöne kleine Base!“

Und dann hört sie weiter, wie der Schlüssel sich kreischend umdreht, wie sie ihn herauszieht, die Thür öffnet und sie drinnen wieder zuschließt. Scheu huscht sie über den Flur, löst ihre schönen Kleider mit zitternden Händen, wirft sie von sich, und nachdem sie eine Weile halb bewußtlos am Bette geknieet hat, versinkt sie tief aufathmend in die schützenden Kissen.

Der Tag nach dem ersten Kusse ist ein wunderlicher Tag. Dorette fängt tausend Sachen an und legt tausend Sachen wieder hin, und doch fühlt sich ihre ganze Person seltsam geweiht: wie sie geht und wie sie steht, ihr ist, als wäre sie größer geworden, als müsse sie sich bücken, um die wohlbekannten Gegenstände um sich herum zu erreichen.

Wohl erwartet sie mit fieberhafter Ungeduld den Abend; denn nun will sie auch mehr: nun will sie auch hören, daß er sie liebt, daß er ohne sie nicht leben kann; nun will sie den brennenden Kuß auch brennend zurückgeben. Aber sie meint, daß es noch nicht geschehen wird, daß seine Zeit noch nicht gekommen ist, und sie sagt lächelnd zu sich selbst, daß der beruhigende Klang ihr voll auf Ohr und Seele fällt: „Er ist Dir ja sicher, Dorette!“

Endlich kommt der Abend, die gewöhnliche Zeit von Johannes’ Besuchen, aber schon als Johannes eintritt, sieht sie, daß es etwas Besonderes giebt; sonst würde er nach dem, was gestern geschehen ist, nicht so ungestüm, nicht mit so eiliger Geschäftigkeit, die seinem Wesen fremd ist, zu ihr kommen; denn zu ihr kommt er ja, wenn auch der Thorschreiber im Zimmer ist.

„Guten Abend, Dora! Gott zum Gruß, Oheim! Ich habe eine Nachricht,“ beginnt er und wendet sich ausschließlich an die Base. Eine Nachricht für sie und die überbringt er so? Dorette wundert sich und starrt ihn fragend an.

„Ja, eine Nachricht!“ bestätigt er, indem er auf sie zutritt und ihr erregt die Hand schüttelt. „Ich habe gar keine Zeit – muß noch heute Abend Alles fertig machen ...“

„Ja, mein Sohn, aber setzt Euch doch!“ bittet der alte Rickmann, der gern Alles gemüthlich bespricht. „Ihr tragt mir ja sonst die Ruh’ zur Stube hinaus, Johannes Strohmeyer.“

„Sitzend oder stehend, Vater Thorschreiber, wie Sie wollen!“ erwidert Johannes und schiebt sich einen Stuhl herbei. „Ich reise morgen früh mit erster Gelegenheit nach Greifswald.“

„Sieh, sieh, was giebt’s denn so schleunig in der hochwürdigen Stadt?“

„Viel, Oheim, viel! Mir ist die Organistenstelle an Sanct Jacobi offerirt,“ und Strohmeyer’s wohlklingende Mannesstimme erbebt unter der Wucht dieser Worte. „Der Herr Graf haben mich beim Herrn Präpositus, seinem Freunde und ehemaligen Stubengesellen, empfohlen und dieser will mir das Organistenamt vermitteln. Nun hat man mich eilig citirt, auf daß ich mich dem Pastor an Sanct Jacobi vorstelle.“

Der alte Thorschreiber hat bei dieser Kunde still die Hände gefaltet, und seine voll scheuer Ehrfurcht zu Strohmeyer aufblickenden Augen glänzen feucht.

„Gott segne Euch Euer gutes Brod, Johannes!“

Johannes aber beachtet die Worte kaum; denn er blickt auf Dorette, die schon secundenlang mit niedergeschlagenen Augen dasitzt. Doch wie sie jetzt die Blicke des Vetters auf sich ruhen fühlt, sieht sie hastig auf.

„Ich gratulire Ihnen, Johannes!“ stammelt sie, und ihr muthiger Blick richtet sich voll heißer Liebe auf ihn.

„Ja, es ist ein guter Anfang,“ antwortet er. „Die Stelle ist wie für mich geschaffen. Die Greifswalder Herren halten etwas

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verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1880, Seite 818. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_818.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)