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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


„Aber, Kind,“ fällt ihr Johanne in’s Wort, „hier ist er. Ich habe ihn selbst gestern gesehen.“

„Wo?“ fragt Dorette auffahrend.

„Um Gott, Doring, Du erschreckst mich ja mit Deinem Gesicht. Ich meine, es war auf dem alten Markt; er schien wunderbar eilig und sah mich kaum an, als er grüßte.“

Dorette ist ganz blaß geworden.

„Dann hat er die Stelle nicht bekommen,“ sagte sie ärgerlich. „Aber warum nicht, begreif’ ich nicht. Der Präpositus oder der Pastor von Sanct Jacobi muß ein Pinsel sein. Aber kommen hätte er doch können,“ und sie stampft zornig mit dem Fuße auf. „Das ist sein Stolz und Ehrgeiz, daß er nicht kam. Nun, mir ist es gleich – es ist mir nur für ihn leid, daß er unverrichteter Sach’ zurückkommt. Mir ist es Vaters wegen gar nicht so sehr um’s Bald-Heirathen. Und wir werden schon anderswo ankommen; denn das kannst Du nicht bestreiten, seine Person hat ’was Großes und Bestechliches, wo er nur hinkommt.“

„Ja, man sieht, daß er gescheut ist.“

„Neulich auf Euerm Ball spielte er auch die erste Violine und war doch dem Stand’ nach der Niedrigste,“ fährt Dorette hastig beredt fort. „Es ist gut, wenn ein Mann Alles sich selbst verdankt. Was, Hanne: wie arm und ungraziös machte sich die Aufführung Eurer anderen Herrlein, wenn man sie mit ihm verglich! Aber ich will eilen, daß ich nach Haus’ komme; er könnte da sein! Hanning ... nein, laß nur, adieu!“ – – –

Johannes läßt sich bei Rickmann’s nicht blicken.

„Vating, gehen Sie doch mal zu ihm!“ bittet am Abend des dritten Tages Dorette. „Ich weiß, daß er in der Stadt ist; er muß krank sein.“

„Gott woll’ uns gnädig bewahren! Warum redest Du denn nicht eher, Doring?“ ruft der Alte und macht sich zum Ausgehen bereit. Aber noch ist er nicht völlig fertig, als die Hausthür geht. Dorette ist gerade auf dem Flure. Sie erkennt Johannes sofort, obgleich es fast völlig dunkel ist.

„Guten Abend, Johannes!“ Dann ist es mehrere Secunden todtenstill; denn Johannes antwortet nicht gleich.

„Guten Abend, Dorette! Sind Sie’s, Base?“

Seine Stimme klingt unsicher und gekünstelt.

„Wir haben Sie eher erwartet,“ sagt sie beklommen.

„Eher!“ und ein wunderlich kurzes Lachen trifft das Ohr des Mädchens; dann sagt er hastig, wie obenhin: „Ich – ich hatte recht viel zu thun, wissen Sie“ – und sie merkt wohl, wie er das „Sie“ halb verschluckt – „ich bin ja auch erst eben zurückgekehrt. O, es giebt entsetzlich viel Geschäfte,“ setzt er dann noch unnatürlich laut und recht breitspurig hinzu.

Diesmal weiß Dorette nichts mehr zu erwidern; mit langsamen, abgemessenen Schritten, als verlöre sie bei jeder anderen Bewegung das Gleichgewicht, geht sie ihm in’s Zimmer voran.

„Na, Johannes, da seid Ihr ja glücklich wieder heim!“ begrüßt ihn der Alte. „Eben zog ich mir schon die Stiefeln an, um zu Euch zu gehen; wir dachten, es sei Euch was Uebles begegnet.“

„Guten Abend, Ohm.“ Und Johannes reckt sich zu seiner ganzen Höhe auf, als er dem Alten die Hand giebt. Dann setzt er sich, ohne einen Blick auf Dorette, in die erste beste Ecke nieder. Seine Augenbrauen ziehen sich seltsam zusammen, und er wechselt mehr denn einmal die Farbe.

„Nun,“ fängt er endlich langsam an, „wie ist es Ihnen die Zeit über gegangen, Ohm?“

„Uns – o, uns, wie immer,“ antwortet Rickmann und steht ganz verwirrt da; „aber Euch, Johannes! Ihr müßt nun erzählen! Ihr habt sie doch, die Stelle?“

„Ja, ich habe sie,“ antwortet die schneidende Stimme des jungen Mannes; die Worte kommen ihm nur langsam von den Lippen, „und alles lebende und todte Inventar dazu!“

„Schön, schön, um so viel besser, mein Sohn! Also eine zugerichtete Amtswohnung hat der Organist zu Sanct Jacobi? Es wundert mich nur, daß alle die Trödelei mit der Uebergabe so gar schnell gegangen ist.“

„O,“ antwortet Johannes höhnisch, „das machen der Herr Pastor und Präpositus Alles ab!“

Dorette hat sich Johannes gegenüber gesetzt; nur die Länge des Tisches und das kleine flackernde Licht, das auf ihm brennt, ist zwischen ihnen. Unsicher fällt sein Schein auf ihr Gesicht, das eine tödtliche Angst ausdrückt. Sie meint, der Wahnsinn laure hinter des Vetters abgebrochenen Worten, und ein Gemisch von Entsetzen und kaum dagewesenem Mitleid brennt aus ihren Augen, die fest auf ihn gerichtet sind.

„Aber mein Sohn,“ sagt der Thorschreiber, der sich zu den Beiden gesetzt hat; „seid Ihr denn mit Allem zufrieden?“

Johannes wendet sich, als wolle er Dorette ansehen, kehrt sich aber schnell wieder ab; dann richtet er sich etwas auf und erwidert: „Danach wird nicht gefragt, wenn man vorwärts will im Leben. Ich wollte Ihnen doch nur sagen, Ihnen – und – der Base – daß ich auch die Wittwe des weiland Organisten mit übernommen habe.“

Er rückt etwas hin und her und versucht zu lächeln, ist aber todtenbleich geworden. Der Thorschreiber merkt noch immer Nichts.

„Es kann Euch freilich lästig werden,“ meint er, „aber es wird ja wohl ein ruhig und still Frauchen sein. Eine Stube und Kammer müßt Ihr freilich hergeben.“

Da steht Johannes auf. „Oheim, so ist es nicht gemeint. Ich habe mich verpflichtet, sie zu heirathen. Man nennt das die ,Conservation der Wittwe’. Hier ist ein Schreiben – ein offenes Schreiben an den Generalsuperintendenten, der zur Zeit auf Revision ist und nächster Tage nach Stralsund kommt. Darin können Sie’s nachlesen; es ist vom Herrn Präpositus. Ich lasse es bis morgen hier.“

„Johannes, Ihr macht keine guten Witze!“ stammelte der Alte.

„Es ist kein Witz, Oheim. Nicht jede Mahlzeit wird uns appetitlich gedeckt. Ja – warum verwundern Sie sich, Oheim? Was blieb mir anders übrig? So – so – ist das Leben, Base.“

Mit einer gewaltigen Anstrengung dreht sich Johannes um und sieht zum ersten Mal an diesem Abend Doretten in’s Gesicht. Aber der Thorschreiber sieht sein Kind nicht an; er starrt auf Johannes; dann steht er auf und verläßt das Zimmer.

An der Thür ballt er die Faust. „Gott verdamme den Schurken!“ murmelt er – aber Keiner beachtet es. Johannes wollte auch, er wäre bereits draußen. Dorette ist auf den Stuhl zurückgesunken und ihre Hände krampfen sich gegen den Tisch; sie sieht Johannes nicht an; auch rührt sie sich nicht; als wäre sie im Augenblick eines rasenden Schmerzes versteinert, sitzt sie da.

„Dorette!“ ruft er endlich.

Leise zuckt es über ihr Gesicht.

„Es war – Uebereilung. Was sollte ich thun –?“

Ein stechender Blick fliegt zu ihm hinüber.

„Ich wußte nicht, daß“ ... er macht eine kleine Pause – „daß es Dir so nahe ginge!“

Da springt sie empor und steht wieder vor ihm, wie damals, da er sie zuerst sah, nur daß ihr bleiches Gesicht im Zorne aufflammt; ihre Augen messen ihn, wie an jenem Abend.

„Sie sind ein Unverschämter,“ sagt sie mit der Ruhe und Kälte der Verzweiflung. „Denken Sie vielleicht, ich hätte Sie zum Manne genommen? Ich habe mit Ihnen gespielt, wie mit den Anderen, und Sie spielten mit mir; warum auch nicht? Ich verbitte mir Ihre mitleidige Tonart. Wir haben einander nichts vorzuwerfen.“

„Dann ist ja Alles gut, Base! Gute Nacht!“

Und schon hat er den Drücker der Thür erfaßt, um zu gehen, da wird sein Arm von zwei bebenden Händen umklammert und zwei wahnsinnige Augen glühen voll tödtlichsten Hasses und tödtlichster Liebe zu ihm empor.

„Ich hatte vergessen, Ihnen zu gratuliren,“ raunt ihm Dorette zu. Da macht er Miene, ihre Hand zu fassen; er will diese Hand küssen; er will vor dem Mädchen niedersinken und um Gnade bitten; aber, als ahnte sie es, reißt sie sich plötzlich von ihm los und läßt ihn, wie im Abscheu, fahren.

„Gehen Sie!“

Die Thür fällt hinter ihm in’s Schloß.

Minuten vergehen, ehe Dorette ein Lebenszeichen von sich giebt; dann stürzt sie ächzend zu Boden und umklammert den Stuhl, auf dem er gesessen hat.

Unterdessen entfernt sich Johannes hastigen Schrittes vom Hause, aber er kehrt nicht in die Stadt zurück; er geht zum Fährthor hinaus; denn er muß Luft haben. Weiter und weiter stürmt er in die Nacht hinein, und zuletzt steht er auf derselben Brücke, auf der an einem sonnigen Frühlingsnachmittage Dorette Rickmann stand und bei sich selber sprach: „Ich möchte wissen, wie die Liebe ist.“

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