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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


Düstere Wolken ziehen über den Himmel; nur manchmal tritt der Mond grell hervor und gießt einen zitternden Schein über das schwarze Wasser. Johannes lehnt am Geländer und blickt in die Wogen hinab. Er möchte einen Strich unter die Vergangenheit machen, und doch läßt sie ihn nicht los.

„Es muß im Blute liegen, daß man an einem Tage so anders fühlt, als am anderen; es wird vorüber gehen.“

Und dann tauchen plötzlich wieder die Vorgänge zu Greifswald in seinem Geiste auf, als durchlebte er sie noch einmal: Wieder geht er den Rubenow-Platz auf und ab, an dem altmächtigen Universitätsgebäude und der Jacobi-Kirche vorüber und sagt sich, daß er es sein wird, dessen Orgelspiel in den nächsten Jahren berühmte und erleuchtete Magister und begeisterungsfrische Jünglinge der vornehmen Hochschule lauschen werden. Und wieder läßt er sich von dem alten Custos Marianus, der ihm weitläufig verwandt ist, vorrechnen, was die Organistenstelle an St. Jacobi bringt. Es ist viel, mehr, als er verbrauchen kann, auch wenn er bald heirathet; davon läßt sich zurücklegen zu einem Orgelcursus in Berlin oder Dresden und zu weiteren Unternehmungen.

Endlich geht er zum Herrn Pastor selbst und stellt sich ihm vor. Der originelle alte Herr empfängt ihn zuvorkommend freundlich und wird im Laufe ihrer gegenseitigen Unterhaltung immer herzlicher. Darauf läßt er ihn in Gegenwart des Herrn Präpositus und einiger alter Magister in der Kirche die Probe singen und überzeugt sich von seinen Fähigkeiten auf der Orgel. Diese ist ein selten schönes Instrument. Johannes kann sich nicht satt daran hören und fühlt sich zum ersten Mal in seinem Leben über sich selbst emporgehoben. Dann aber, als er sich nach beendetem Spiel noch einen Augenblick tief aufathmend über die Tastatur beugt, glaubt er ein dumpf getragenes Brausen zu vernehmen. Es quillt nicht aus der Orgel hervor; sie ist verhallt; es steigt aus seiner eigenen Brust herauf, und dennoch vernimmt er es wie eine Fluth fern anbrandender Töne: das Meer der Welt schlägt in allmächtigem Ruf an seine ehrgeizige Seele.

Mit dem Bewußtsein einer großen Zukunft erhebt er sich und wird von den im Schiffe seiner Harrenden theils mit gemessener Würde, theils feurig und herzlich anerkennend beglückwünscht. Auch erfährt er, daß in Zukunft an St. Jacobi die Küsterei von der Organistenstelle getrennt sein wird, und höher, denn zuvor, erhebt Johannes sein Haupt: keine kleinlichen Dienste werden also von ihm gefordert, und es wird ihm vollauf Zeit bleiben, hier den Contrapunkt und das weitere Wesen der Composition zu studiren, wozu ihm auf seinen Reisen Ruhe und Gelegenheit gefehlt haben. Mit jedem Schritt, den er auf dem Greifswalder Pflaster thut, erschließen sich ihm neue ungeahnte Vortheile.

Sobald er wieder in die Wohnung des Pastors zurückgekehrt ist, werden endgültig die gegenseitigen Bedingungen zum äußeren Abschlusse des Geschäftes erörtert. Alles ist schon bis zur Unterschrift fertig, und Johannes wüßte nicht, daß er irgend etwas in den vorgelegten Bestimmungen anders wünschen könnte. Er ist sich überhaupt nur des einen Wunsches bewußt, so bald als möglich seine Ernennung zum Organisten in Händen zu haben. Da sagt der geistliche Herr behäbig:

„Und nun noch Eines, mein lieber Organiste in spe: es betrifft die Conservation der Wittwe; sie ist eine sanfte, liebenswürdige Frau, sodaß Er in dieser Sache gar nicht so gar schlecht fährt. Sie ist mein Beichtkind von altersher, und bei dem Tode ihres seligen Eheherrn habe ich ihr zugesagt, ich wolle die Vacanz nur durch Den beseitigen, der sich nach gegebener Formel des onus conservationis schwarz auf weiß bei mir vereidigte, sie zu freien. Setze Er sich also flugs nieder und schreibe! Die Frau ist zwar etwas kränklich, aber fleißig und sparsam und bringt Ihm ein ansehnlich Vermögen und nur ein Kind, ein Mädchen von sieben Jahren zu. Will Er aber, wie mir scheint, die Katze nicht im Sack kaufen, so geh' Er hinüber und sehe sich das Frauenzimmerchen an!“

„Es wäre mir lieb,“ sagt Johannes vollständig gefühllos und verabschiedet sich vorläufig.

Als er unten die Dom-Straße betritt, tanzen die Gegenstände bunt vor seinen Augen. „Die Stelle! Die Stelle!“ Alle Fibern seines Gehirns drängen diesem einen Gedanken entgegen und halten ihn fest umklammert. Aber – kann er denn von Dorette lassen? Doch sein Herz ist wie todt und leer; nur der gewaltige Ruf der Welt dröhnt durch seine Brust, wie durch eine verödete Stätte. „Die Stelle! Die Stelle!“ Es ist sein einziger Gedanke. Sogleich kann er sie nicht fahren lassen; wenigstes hinübergehen muß er. Und er geht und findet in der Wohnung des verstorbenen Küsters und Organisten eine blasse Frau mit hektischen Flecken auf den Wangen und krankhaft glänzenden Augen. Sie hat schon von seiner Ankunft gehört und empfängt ihn ohne Weiteres als Denjenigen, welcher sie heirathen wird.

„Sie werden ein bequemes und sorgsames Wesen an mir finden. Ich habe meinem seligen Caspar das Leben auch nicht schwer gemacht,“ sagt sie. „Und das Kind ist auch gut. Das Geld steht bei der schwedischen Bank und ist Alles wohlangelegt.“

Er verhält sich starr und schweigsam und ist noch nicht im Stande, sich gleich entscheidend zu äußern. Aber je mehr er in den folgenden Stunden die Sache überlegt, desto annehmbarer scheint ihm Alles. Wohl tritt Dorette's schönes Bild noch schmeichelnd und lockend vor seine Seele, aber mit kräftigem Entschluß drängt er die gaukelnde Gestalt zurück. Die Neigung zu ihr war ein Jünglingstraum, eine rasch verwelkende Blume des heißen Sommers, an der er sich wohl kurze Zeit berauschen konnte, die ihn jetzt aber nichts weiter angeht; denn – er muß vorwärts. So geschieht es, daß er der blassen Frau die Hand zur Verlobung reicht und sie zum Zeichen der Vereinigung einen Ring, den sie aus verschlossenem Kasten holt, an seinen Finger schiebt.

„Und Sie schicken mir einen Ring, sobald es Ihnen möglich ist, von Stralsund aus,“ sagt sie, „damit ich beweisen kann, daß wir versprochen sind!“

Er sagt es zu und küßt das kleine Mädchen, das sie ihm als ihr Kind vorstellt, zum Abschied auf die Stirn. Dann geht er zum Pastor und – schreibt.

Damals kam ihm dies Alles so natürlich vor; warum jetzt nicht mehr? Was hat er denn verloren? Die Ehre? Er hat Doretten nie ein Wort gesagt, das ihn bände. Die Ruhe des Gewissens? Die Base wird sich trösten. Das Glück? Ein oft genannter Mann sein, seine Gaben verwerthen, die Mittel einer sorgenfreien Existenz besitzen – ja, das ist Glück, und doch, das Glück hat er verloren, das Glück, das Glück!

Schauerlich braust der Nachtwind über die offene Bucht; wie ein klaffendes Grab gähnt die gepeitschte Fluth zu seinen Füßen. Laut seufzend, mit unsicheren Schritten verläßt er die Brücke und kehrt zur Stadt zurück. Er will nicht durch das Fährthor die gewohnte Straße hinaufgehen, und doch zieht es ihn unwiderstehlich auf diesen Weg. Als er an des Thorschreibers Haus vorüber muß, sieht er, wie eben eine kleine Gestalt in der Thür verschwindet; das ist der alte Mann, der nicht mit ihm unter einem Dache sein wollte, und der ihn manchmal „mein Sohn“ genannt hat. Ihm ist weh zu Muth. Nun wird sie sich an der Brust des Vaters ausweinen, und er steht draußen. Fast packte ihn ein Grimm gegen den alten Mann, der das Mädchen, welches er geküßt und verlassen hat, jetzt in seinen Armen hält; denn nie ist ihm Dorette begehrenswerther erschienen, als heute Abend, wo sie so stolz vor ihm stand, ihn mit harten lügnerischen Worten von sich wies und sich dann in der ganzen Gluth ihrer jungen, empörten Liebe vor ihm bloßstellte; nie hat er sie so geliebt, wie jetzt, wo er sie für immer verloren hat. Sein Blut kocht, und zugleich schüttelt ihn der Frost; heute erst weiß er, was es heißt, ein Mädchen lieben – und drüben in Greifswald hat er seine Ehre verpfändet.

Er irrt sich aber, wenn er denkt. daß Dorette jetzt schluchzend am Herzen ihres Vaters liegt. Das ist nicht ihre Art; selbst heute nicht. Als sie den Vater kommen hörte, rafft sie sich auf von der Stelle, an welcher sie niedergesunken war. Nun verräth kein Wort, keine Thräne, was in ihr vorgeht. Trotzdem weiß es der Alte, und es schnürt ihm das Herz zusammen; er sieht es nicht an ihrem entstellten Gesicht; denn er fürchtet sich noch immer, ihr in die Augen zu schauen; er sieht es an dem wankenden Gange und den zitternden Fingern des Mädchens und an ihren puppenartigen Bewegungen. Johannes' Name wird nicht zwischen ihnen genannt; schweigend gehen sie neben einander her; nur der Alte seufzt manchmal dumpf auf.

Erst als Dorette hinausgeht, um, wie er meint, das Nöthige in der Wirthschaft zu besorgen, langt er den unseligen Brief hervor, den ihm Johannes gab: da steht es denn schwarz auf weiß, daß Johannes Strohmeyer dem königlich schwedischen Generalsuperintendenten von Greifswald, zur Zeit auf Reisen, zur gefälligen Confirmation überwiesen werde. Er habe die Probe gesungen, ein vorzügliches Orgelspiel vernehmen lassen und sei in allen Stücken

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 831. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_831.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)