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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


Größe der Hoffnungslosigkeit, wie sie den Scenen einer Flußüberschwemmung nicht im gleichen Grade eigen sein kann.

Da aber die Mehrzahl der Sturmfluthen in das Winterhalbjahr fällt, so treten zu den Schrecken der Fluth noch die eisige Kälte, die Schneeböen und manchmal sogar das Treibeis, dessen Schollen die Wogen dann wie Sturmböcke gegen die Deiche und Häuser schleudern. Nicht immer aber wächst die Sturmfluth so allmählich an, sondern oft ist sie plötzlich da, wie aus dem Ocean emporgestiegen, und die Vernichtung kommt dann um so schrecklicher über die nichts ahnende Landschaft.

Neben den entsetzlichen Scenen des Kampfes mit den Fluthen – manchmal tritt sogar das vom Sturm erreichte und angefachte Herdfeuer als vernichtender Bundesgenosse des Wassers auf, ja die Gräber speien ihre Todten aus – finden sich Fälle der wunderbarsten Errettung. Die Kinder in der Wiege fehlen auch hier nicht; dagegen sind Rettungen, wie z. B. die folgenden, merkwürdig genug: So wurde einmal ein Bürgermeister von Tönningen in einem Braubottich schwimmend an die Dithmarschen getrieben; eine alte Frau von den Meereswogen in ihrem Bette an den Strand getragen, „ohne daß die Oberdecke naß wurde“, wie die Chronik ausdrücklich bemerkt; ja ein Ehepaar mitsammt dem Hause fortgeführt und ganz gemüthlich auf einem Deiche abgesetzt.

Ein Irrthum wäre es, wollte man die Zerstörung des Landes und den Untergang zahlloser Menschen als die alleinige, grauenhafte Wirkung einer Sturmfluth ansehen; nicht weniger unheimlich ist sie in ihren Folgen für die Ueberlebenden. Nicht allein die Aussaat wird zerstört, die eingeheimste Ernte vernichtet, die Heerde ertränkt, sondern auch das Land ist, soweit die See wieder abgelaufen, durch die „salze Fluth“ auf Jahre hinaus unfruchtbar geworden, zum Theil versandet; die Brunnen sind verdorben, und aus dem Schutt und Wust steigt ein anderes Gespenst empor – die Seuche. Oft sind nach einer Sturmfluth ganze Ortschaften ausgestorben. Und doch ist das noch nicht Alles. Wenn die unermüdlichen jahrelangen Versuche, das Verlorene dem Meere durch neue Eindeichungen abzugewinnen, sich als vergeblich herausstellen oder die Hülfsmittel zur Neige gehen, dann müssen diejenigen, welche einst hier als freie Hausmänner auf stattlichen Höfen saßen, in die Fremde wandern, in Seedienst gehen oder wohl gar bei Fremden, die, mit Mitteln und Privilegien ausgestattet, Besitz von ihrer alten Heimath nehmen, sich als Knechte verdingen. –

Die Sturmfluthen, welche der naive Volksglaube zu allen Zeiten als göttliches Strafgericht über menschliche Sündhaftigkeit aufzufassen liebt, sind auch der Stoff, an welchen die sonst wenig fruchtbare Sagenbildung in den Küstengebieten anknüpft. Ja die Sage greift in die Zukunft hinüber, indem sie von untergegangenen Ortschaften erzählt, welche dann wieder auferstehen sollen – hier ahnungsvoll vielleicht mit dem geologischen Thatbestand zusammentreffend. Ebenso berichtet das Volk – freilich immer erst hinterher – von drohenden Vorzeichen, welche der Sturmfluth vorausgingen, von den landesüblichen Unheilpropheten, den Kometen, dann von Mißgeburten, wunderbaren Thieren und anderen Erscheinungen, welche die Chroniken aufzählen.

Das Bild der Sturmfluth wächst zur Riesengröße empor, wenn wir den Jahrhunderte langen Kampf auf der ganzen Linie unserer Nordseeküste zu einem historischen Ganzen zusammenfassen: dies zeigt uns den Menschen nicht mehr als das den Fluthen hülflos verfallende Pygmäengeschlecht, sondern – ein großartiger Gedanke – als den ebenbürtigen, ja oft siegreichen Gegner des Weltmeeres, und was diesen Kampf unserem Herzen noch näher rückt, ist der Umstand, daß es germanisches Blut, daß es ein Bruderstamm und der besten einer, der Friese, ist, welcher denselben Jahrhunderte lang durchgekämpft hat. „Deus mare, Batavus litora fecit!“ („Gott schuf das Meer, der Holländer die Küste!“) – dieser verwegene Spruch sagt trotz der Kühnheit des Gedankens doch nur die Wahrheit: das Auge auf den Ocean gerichtet, schuf sich der Mensch hier Land und Staat.

In den frühesten Berichten, denen des Plinius, finden wir die Küstenbewohner schon mitten in diesem Kampfe, und zwar auf ihren einzeln liegenden Wurten der ganzen Willkür des Meeres preisgegeben. Dann, nach schwachen Einzelversuchen, beginnt erst in späten Jahrhunderten der Deichbau und schafft die Grundlage zu einem höheren Gemeinwesen: Kein Land ohne Deich, kein Deich ohne Land – in diesem Satz gelangt auf’s Deutlichste der Gedanke zum Ausdruck, daß der Deich das Rückgrat alles Culturlebens bildet.

Aber mit dem Widerstande wächst der Kampf und der Verlust – hinter dem Deiche finden die Fluthen immer mehr zu zerstören, als vordem, und so wachsen die einzelnen Katastrophen zu gesteigerter Höhe – mit ihnen wächst aber auch der Kampfmuth, der Trotz, und staunend blicken wir auf die fast unglaubliche Zähigkeit der um ihre Existenz ringenden Stämme. Was der Großvater dem Meere abgewinnt, wird dem Enkel wieder entrissen, und von seinem rückwärtsgeschobenen Deiche aus blickt er auf die Gewässer, welche über den Gräbern seiner Väter, über seiner Geburtsstätte, über den Triften seiner Heimath wogen. Doch unverdrossen beginnt er von Neuem die Deiche vorzuschieben, wieder und wieder zurückgeworfen, von Neuem vordringend, bis er endlich festen Fuß gefaßt und ein blühendes Heimwesen hinter seinen Deichen geschaffen hat – um dann mit ergrautem Haare in einer einzigen Sturmnacht das Werk seines Lebens mit Kindern und Enkeln in den Fluthen versinken zu sehen, den wenigen Ueberlebenden es überlassend, da wieder zu beginnen, wo er, wo der Urgroßvater begann. Wahrlich, es gehörten Menschen von hervorragenden Eigenschaften dazu, solches zu leisten. Schon Tacitus rühmt die Tugenden gerade unserer Küstenbewohner, und so hat auch die Nordsee im Verlaufe der weiteren Geschichte viele derjenigen Stämme in’s Binnenland gesandt, welche sowohl als Staatenzerstörer, wie als Staatengründer mit Ruhm genannt werden. Ebenso prächtig wie treffend charakterisirt ein Chronist des siebenzehnten Jahrhunderts diese Küstenbewohner, indem er sagt, sie seien „stark von Leib, hoch von Geist, steif von Sinnen, ernsthaft und landbegierig“.

Wie die Geschichte dieser Menschen und ihrer Gemeinwesen, so ist aber auch die Gestaltung unserer Küste selbst eine Riesenchronik der Sturmfluthen. Jahrtausend um Jahrtausend hat das Meer dem Lande neues Land zugeführt, in jeder Stauzeit eine neue, fruchtbare Schicht ablagernd, aber es hat sich auch als furchtbarer Wucherer erwiesen, was es gab, hat es nur allzu oft mit Zinseszinsen in einer einzigen Sturmnacht zurückgenommen.

Wollten wir ein Bild der Küste entwerfen, wie sie einst war, so müßten wir den Leser theils weit hinaus in’s Watt oder in die See führen, theils an der Küste allenthalben Verlorenes ersetzen. Hier riß das Meer die Küste aus einander und schuf Inseln daraus; dort zerriß es Inseln und häufte den Ueberrest als Dünen an’s Festland; hier drang es meilenweit in’s Land ein; dort spaltete es Flußmündungen zu breiten Meerbusen aus einander; wo einst stattliche Viehheerden auf üppigen Wiesen weideten, zieht jetzt Fluth und Ebbe durch eine viel befahrene Seestraße, wo reichbevölkerte Städte und Dörfer lagen, streckt sich jetzt ödes, graues Watt – kurz, unsere ganze zerklüftete Küste bietet das Bild der Zerstörung. War doch z. B. zu Karl’s des Großen Zeit das Land der Friesen doppelt so groß wie jetzt; wird doch der Gesammtverlust der Niederlande auf 125 Quadratmeilen berechnet. So ist das jetzige Nordfriesland nur der Ueberrest glücklicher Marschlande, und wenn der mythische Südstrand wirklich existirte, konnte man einst trockenen Fußes bis eine Meile vor Helgoland gelangen. Wer vom Felsen Helgolands in die See und Dünen hinausblickt, denkt schwerlich, daß hier einst vieh- und kornreiche Ländereien, viele Kirchspiele mit Kirchen und Klöstern sich weit hinaus erstreckten; von Wilhelmshaven blickt man auf ein Gebiet, wo jetzt die „salze Fluth“ wogt, auf den Jahdebusen, wo einst blühende Ortschaften lagen, von denen jetzt nur als trauriger Rest die oberahnischen Felder wie ein grüner Grabhügel über dem Versunkenen emporragen, und so wird man, Meile um Meile an der Küste hinschreitend, allenthalben auf die Spuren der Sturmfluthen treffen – besteht doch der ganze Inselkranz nur aus Ruinen, aus den zerrissenen Ueberresten einer zusammenhängenden Dünenkette.

Bei diesen Zerstörungen sind zwei Erscheinungen aus einander zu halten – einerseits die einfache Ueberschwemmung des Landes durch die See und andererseits der wirkliche unmittelbare Substanzverlust, wenn man so sagen darf. Es wäre ganz unbegreiflich, wie Hunderte von Quadratmeilen vollständig aus der Küste herausgerissen werden könnten, wenn die Erklärung nicht in einer geologischen Erscheinung läge, die sich längs der ganzen Küste wiederholt: in den Unterwassermooren. Zur Zeit einer früheren Senkung der Küste ist die darauf befindliche Vegetation zu Torf umgebildet

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 839. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_839.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)