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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


Corridor hinein. Da öffnete sich eine Zimmerthür, ein prachtvoller Christbaum schimmerte; Gestalten bewegten sich drinnen – –

„Mein Gott!“ sagte die Arme, und der Korb fiel ihr knisternd aus den Händen auf die Diele nieder.

„Ach!“ machte eine silberklare, wohlbekannte Stimme in der Thür – „o weh, sie bringt den Korb zurück – Mama, es ist schrecklich, das arme Fräulein bringt den Korb wieder. Nein, das dürfen Sie nicht. Laura, schließen Sie rasch den Corridor, oder warten Sie –“

Und leichtfüßig flog die glänzende Gestalt auf die Thür zu, schloß sie, drehte den Schlüssel um und zog ihn ab.

„Mathilde!“ sagte Jemand, weich und schmerzlich, und zwei schlanke Frauenhände streckten sich der starr und fast besinnungslos Dastehenden entgegen. „Gehen Sie in die Küche, Laura, und Du, Luise, laß mich einen Augenblick allein mit dem Fräulein! Ich will selbst mit ihr reden.“

Das junge Mädchen trat zögernd in das Zimmer zurück; die Dienerin schlüpfte den Gang hinunter und verschwand, nicht ohne einen neugierigen Blick zurückzuwerfen.

Die beiden Cousinen standen einander allein gegenüber.

„Nicht hier, Mathilde!“ begann die Präsidentin. „Nicht mit der Fremden auf dem Corridor will ich reden. Folge mir –“

„Ich bedaure, Frau Präsidentin – ich bin eine Fremde; die arme Näherin hat in Ihren Zimmern nichts zu suchen,“ klang es herb unterbrechend zurück. „Haben Sie die Güte, mich zu entlassen!“

„So nicht, so bei Gott nicht, Mathilde! Ich will so lange nach Deiner Hand fassen, bis Du sie mir überläßt. Komm, wir reden ohne Zeugen und ohne Lauscher; sage mir, was Du willst, aber nicht hier!“

Das war die alte, weiche, bestrickende Stimme. Aber sie wollte sich nicht bestricken lassen – um keinen Preis! Nun gut; – sie hatte mit dieser Frau zu rechten: – warum nicht in einem Zimmer?

„So führen Sie mich!“

„Sie schritten schweigend den Corridor hinab, und die Präsidentin öffnete eine Thür. Ein elektrisches Feuerzeug flammte auf, dann die Gasflamme einer Lampe. Ein reizendes Zimmerchen, wohl ein Damenboudoir – schwellende französische Möbel, mit bordeauxrothem Wollatlas überzogen, ein wundervoller geschnitzter Tisch mit Intarsia-Arbeit – ah, was ging die Näherin diese Pracht an?

Sie ließ die Aufforderung, sich zu setzen, unbeachtet.

„Was befehlen Sie, Frau Präsidentin?“ sagte sie ironisch.

„Mathilde – und keine Saite Deines Herzens hat noch einen Klang für mich? Unser Groll soll nicht über Sonnenuntergang währen, und Du hast den Deinen festgehalten über lange Jahre? Klingt kein Lied aus unserer Jugend, kein Liebeswort mehr in Dir nach, das sich durch die Verbitterung in Dir, Du Trotzige, bis auf diesen Tag gerettet?“

„Nein!“ war die rauhe Antwort.

„Nicht – o mein Gott, was kann ich dafür, daß ich ihn liebte, daß ich zu spät erfuhr, wen ich mit meiner Liebe beraube? Hast Du mir je ein Wort gesagt, um mich aufzuklären, was Ewald Dir war? Erst als Du verschwunden, wie von der Erde verschlungen warst, kam mir eine Ahnung, und er hat mir gestanden, daß er sich für Dich interessirt hätte, bevor er mich gesehen, und daß Du das gemerkt haben möchtest –“

Die Näherin lachte bitter auf. „Ob ich das gemerkt habe? Freilich, es wäre ja möglich gewesen, daß ich es nicht gemerkt hätte –“

Sie schwieg plötzlich. Wenn das nicht erlogen war, wenn er wirklich seiner Gattin niemals – nein, wie durfte er ihr sagen, daß er sie, die arme Cousine, geküßt hatte, daß er um ihretwillen versprochen hatte, die Tante aufzusuchen! Ah, da konnte sie ja Rache nehmen, konnte die Geschichte dieser Verlobung erzählen, konnte dieser Frau hier das Andenken ihres Gatten –

Aber Rache wofür? Der Schuldige war todt; die, welche für ihn hätte büßen müssen, konnte wenigstens völlig unschuldig sein. War sie es wirklich? Ein weiches Gefühl kam über die zum Schlag Bereite, aber mit dem weichen Gefühl zugleich die volle Empfindung alles dessen, was sie gelitten die langen Jahre her, all der stummen qualvollen Kämpfe, der Enttäuschungen, der Noth und Entbehrung. Immer heißer und heftiger wogte es in ihr und schmolz, was starr war, und brandete, daß sie zu zittern begann und die Hände auf die Brust preßte. Der ganze Jammer eines verfehlten Lebens sprach zu ihrer Seele. Und stöhnend sank sie zu Boden und warf das Gesicht in die dunkelrothe Gluth eines Stuhlpolsters und begann zu schluchzen wie ein Mensch, dem der Himmel das Letzte genommen, was er liebte, und dies Letzte war ihr Recht, jemand zu hassen, jemand anzuklagen, jemand verantwortlich zu machen für ihre tiefe Noth.

Sie hörte kaum, wie es neben ihr raschelte, und, indeß ein weicher Arm sich um ihren Nacken legte, mit thränenerstickter Stimme neben ihr sprach:

„Bleibe bei mir, Mathilde! Ich will Dich für Alles entschädigen, was Du gelitten hast, soweit ich das vermag. Ich weiß es, ich bin lange Jahre hindurch glücklich gewesen auf Deine Kosten, und das hat genug an meiner Seele genagt bis heute. Laß uns Frieden schließen – er ist ja todt, und der Tod löscht selbst die Schuld des Verbrechers. Bleibe bei mir, Mathilde!“ wiederholte sie heiß und innig.

Die Arme neben ihr schluchzte weiter, stumm, geschüttelt von ihrem Schmerz. Endlich ward sie ruhiger, hob den Kopf, löste sanft den Arm der Präsidentin von ihrem Nacken und stand auf.

„Nimm mich hin, Luise!“ sprach sie müde. „Ich kann ein wenig Sonnenschein gebrauchen. Komm!“

Sie reichte der Knieenden die Hand.

„Mathilde!“

Es war so still, wie sie sich umschlungen hielten; nur die Gasflamme der Lampe zischelte leise, wie befriedigt über das, was sie sah.

„Weißt Du, wo Du Dich befindest, Liebe?“

„Bei Dir!“

„In Deinem Zimmer,“ sagte strahlend die Präsidentin. „Es ist längst für Dich hergerichtet.“

„In meinem Zimmer?“ Die Versöhnte sah sich wie im Traume um. Dann wurde sie einen Augenblick nachdenklich. „Mein Zimmer – meine kleine Burg droben unter dem Dache der schwarzen Ecke, ich denke an sie und an die guten Menschen dort, die armen und doch glücklichen. Für sie hatte ich Dein Geschenk angenommen, Luise, und ihnen gehört es. Laß den Korb wieder hintragen! Sie können die Sachen zum Theil gebrauchen, zum Theil verkaufen. Sie mögen sich auch in meine Hinterlassenschaft theilen. Bis auf meinen gestickten Wahlspruch,“ fügte sie erröthend hinzu.

„Ein Wahlspruch? Wie heißt er?“

„Lieber darben, als ducken!“

„Das sieht Dir ähnlich. Aber nicht ducken, Liebe, nicht ducken – ja nicht an so etwas denken, wenn Du bei mir bist! Und nun komm zu den Kindern! Deine Nachbarn sollen das Ihre haben, und mehr als das.“ – – –

Welch ein Weihnachtsfest gab es heute noch unter dem Dache der schwarzen Ecke! Der Schneider pries der Frau Brenner bis spät in die Nacht hinein seine Philosophie, die ihm erlaube, sich zehnfach zu freuen, weil sie das Wünschen ausschließe; er that es, obwohl er gänzlich als Prediger in der Wüste sprach; denn die Wittwe verstand kein Wort von seinen Deductionen und musterte glückselig wieder und wieder mit den Kindern die reichen Spenden, welche der Diener noch in später Stunde gebracht.

Nur für den kranken Schriftsetzer war die Gabe zu spät gekommen; er war inzwischen hinübergeschlummert. Die stillen Sterne der Weihnacht blinkten neugierig-mitleidig in die eisigkalte Kammer des Todten, dessen regungsloses Gesicht noch immer die Hoffnung auf Genesung verklärte.



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 850. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_850.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)