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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Mann – kurz, Herr Rommel, oder etwas weitläufiger: „Herr von Rommel“ genannt (weil er sich, mir auch ein Greul, vor einigen Jahren adeln ließ), warb um die Stellen, zu deren keiner er durch Kenntnisse befähigt war, und erlangte sie, mit Beibehaltung seiner früheren, weil er keinen der hier üblichen Wege verschmähte. Wir (die beiden Grimm) wurden mit einer schnöden Zulage abgespeist. Das war mir doch zu arg. Wir haben seitdem bis heute vor vierzehn Tagen diesem Oberbibliothekarn alle Bücher, deren er nicht wenige für seine „Geschichte“ forderte, suchen und herausgeben müssen, da er sie selber nicht finden kann.“

Kurz, die beiden Grimm, bisher wirkliche Bibliothekare, wurden zu Amanuenses und Expedienten heruntergedrückt von einem Manne, welchem sie wissenschaftlich weit überlegen waren. Bei dem Minister von Meysenbug fanden sie kein Gehör. Der Name des Herrn war eigentlich Rivalier. Er war mit „Roi Jérome“ in das Land gekommen und mit einem hessischen Rittergute Meysenbug beschenkt worden. Er spielte à deux mains. War es Deutsch, dann war er der Baron Meysenbug. War es Französisch, dann war er wieder der Chevalier Rivalier.

Da entschlossen sich denn die Brüder, einem Rufe nach Göttingen Folge zu leisten, obgleich die ihnen von dorther angetragene Stellung auch nicht gerade sehr glänzend war; Jacob wurde ordentlicher Professor und Bibliothekar mit tausend, Wilhelm Bibliothekar mit fünfhundert Thalern.

„Dieser Ausgang und diese neue Einrichtung sind mir fatal,“ schreibt Jacob Grimm an Meusebach. „Ich hänge mit allen Geschwistern von Kindheit auf gewaltig an Hessen. Wir hatten das so von Eltern und Großeltern geerbt. Ich weiß nicht, ob ich Ihnen, einem ‚abtrünnigen Nassauer‘, das so recht fühlbar machen kann. Wir betrachteten noch als Jungen die benachbarten Fuldaer, Mainzer und Ysenburger wie wildfremde Menschen, mit denen wir keine Gemeinschaft haben mochten. Ferdinand copirte sich die Landkarte der Gegend und vergrößerte sichtbar alle hessischen Flüsse und Städte, damit sie mächtiger erschienen. Später ist mir noch lange ganz undenkbar vorgekommen, in einem anderen Lande zu leben, und meine Eltern hätten es nie zugegeben. Den größten Theil meines Lebens habe ich hier zugebracht, und alle meine Phantasie und Erinnerung bleibt in Hessen zurück.

Unsere gute Schwester Lotte (damals schon verheirathet) hat, seitdem sie wußte, daß etwas im Werke war, mir, ohne dabei etwas zu sagen, alte Halstücher und Ueberreste von wohlbekannten Kleidungsstücken unserer seligen, über Alles geliebten Mutter, die hier begraben liegt, gleichsam heimlich abmahnend vorgelegt. Aber auch sie muß aufgegeben werden. Es ist nun einmal unabänderlich. Der Ende des vorigen Monats geforderte Abschied wurde uns auf der Stelle verwilligt. Man eilte sich damit so, damit die Besoldung schon vom 1. November an aufhören könne. Montag den 2. dieses, auf Allerseelen-Tag, habe ich alle Schlüssel und Siegel – darunter auch eins, das ich mit besonderer Genugthuung abgab, nämlich das eines zwölf Jahre lang umsonst bekleideten Censor-Amtes – ausgehändigt und gedenke ich, nun nie wieder den langen Saal (der Bibliothek) zu betreten, dessen viele Fenster mich wie wehmüthige Augen ansehen, wenn ich vorüber gehe, und zwischen denen ich selbst von außen her die Bücher weiß, wie sie stehen.

Diese Woche reisen wir, drei Mann hoch, nämlich Dortchen (die Frau Wilhelm Grimm’s), Wilhelm und ich, über den Lütternberg (nach Göttingen), um uns dort ein Haus (Wohnung) zu suchen, kehren nach einigen Tagen zurück und werden gegen Neujahr endlich mit Sack und Pack abziehen. Dies ist also mein letzter Brief aus Kassel an Sie.

Der ‚Professor‘ gemahnt mich immer noch seltsam. Aber die Dienstmädchen Lieschen und Lisbeth, die Beide mitziehen, werfen schon ganz fertig damit herum, und meine Schwägerin Dortchen kommt mir ordentlich wie meine Frau vor, weil ich nach der ‚Frau Bibliothekarin‘ und nicht mehr nach der ‚Frau Secretärin‘ fragen höre. Hermännchen (Wilhelm’s Sohn, jetzt Professor an der Berliner Universität) gedeiht vortrefflich und macht uns alle Tage Freude mit seinem Geschwätz.“

Soweit Jacob Grimm in seinem Briefe vom 15. November 1829. (Bekanntlich ist Jacob Grimm Junggeselle geblieben, hat aber mit seinem verheiratheten Bruder Wilhelm stets einen gemeinsamen Haushalt geführt.) Kann man ein besseres Bild geben von dem selbstlosen, arbeitsfreudigen, bescheidenen deutschen Gelehrten?

Von Kassel nach Göttingen war damals allerdings noch eine Art von Tagereise, heute ist es eine Nachmittagsspazierfahrt von einer Stunde. Und wie schwer ist es dem guten Manne geworden, diese kleine Strecke zurückzulegen und seinen theueren kattischen Boden mit niedersächsischem zu vertauschen! Was ihn an jenen fesselt, das ist durchaus nicht politischer Particularismus, gegen den er sich noch in der Widmungsvorrede zu seiner „Geschichte der deutschen Sprache“, datirt „Frankfurt am Main (Paulskirche), den 11. Juni 1848“, mit der größten Entschiedenheit ausspricht, indem er „jene Gesinnungslosen“ verdammt, „welchen es im höchsten Grade einerlei ist, ob vor hundert Jahren Friedrich der Große Preußen erhoben habe, und welche jetzt eben dieses Preußen mit allen Mitteln erniedrigen möchten, da doch unsere Stärke und Hoffnung nur auf ihm beruht“.

Also nicht der politische Particularismus, welcher willkürliche Grenzen zieht und, wie dies Jacob Grimm an dem angeführten Orte gerade an dem hessischen Volksstamme so überzeugend und so schön nachweist, die deutschen Stämme theilt und nicht zusammenfaßt und vereinigt – sondern die Liebe zur Heimath ist es, was ihm die Trennung von dem kattischen Boden so schwer macht – die Trennung von dem schönen Kassel, welches damals noch, seiner Schönheit unbewußt, schlief, wie die Prinzessin Dornröslein im Märchen, und das erst in unseren tiefbewegten und geräuschvollen Tagen zum vollen Leben und zu reichster Blüthe erwacht ist.

Gerade aber diese Liebe zu seiner Heimath, an welcher er mit der ganzen Kraft seines kindlich-reinen und doch so männlich-tapferen Herzens hing, hat ihn zu einzelnen seiner besten Leistungen befähigt. Nur bei diesem innigen Zusammenhang mit dem Land und den Leuten des Bodens, dem er entsprossen, war es ihm möglich, z. B. ein so bewundernswerthes Werk zu vollbringen, wie die „Kinder- und Hausmärchen“, welche er in Gemeinschaft mit seinem Bruder Wilhelm gesammelt, ein Werk, um welches uns die übrigen Nationen Europas beneiden.

Selbst die Anhänglichkeit an seine Kasseler Bibliothek, die es ihm mit ihren „schönen Augen“ angethan hat, hat etwas Rührendes. Das Rührendste aber ist die Anhänglichkeit an seine Schwester Lotte und an seine selige Mutter.

Es ist dieselbe Schwester, welcher er in Gemeinschaft mit seinem Bruder Wilhelm während der Zeit ihres Aufenthaltes in Berlin auf dem alten Friedhof in Kassel ein Denkmal gesetzt hat.

Die Inschrift, welche die eherne Tafel trägt, enthält ein Stück deutscher Geschichte. Sie ist ebenso vielsagend wie einfach. Sie lautet:

Unserer hier in Gott ruhenden

lieben Schwester
Lotte Grimm
geb. 10. März 1793
verheirathet 2. Juli 1822 mit Ludwig Hassenpflug
gest. 15. Juni 1833
haben wir diesen Stein im Jahr 1843 setzen lassen

Brüder Grimm.


Ich habe diesen Leichenstein, der nur Wenigen bekannt ist, noch vor einigen Jahren auf dem alten Kasseler Friedhofe aufgesucht und die Inschrift so, wie sie oben steht, abgeschrieben. Sie sind nun Alle todt, die darauf genannt sind: sowohl die Gebrüder Grimm, die ihn gesetzt haben, wie auch Hassenpflug, der ihn hätte setzen sollen. Denn die Schwester Lotte war die erste Gemahlin dieses Ludwig Hassenpflug, oder mit vollem Namen Hans Daniel Ludwig Hassenpflug, des bösen Genius des letzten Kurfürsten von Hessen, welcher Letztere – und das ist vorzugsweise Hassenpflug’s Werk – zugleich der Letzte aller Kurfürsten der Welt wurde. Heute „kürt“ man nicht mehr den deutschen Kaiser. Es giebt wohl noch Fürsten, aber keine Kurfürsten.

Ueber diesen Leichenstein will ich dem Leser in meinem nächsten und letzten Artikel über die Gebrüder Grimm berichten.



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 11. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_011.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2023)