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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

daß zwei unserer ersten Physiker sich ihm gegenüber dahin ausgesprochen hätten, daß eine streng wissenschaftliche Lösung des Problems vor der Hand unmöglich sei, weshalb auch der Beobachter selbst die Hoffnung auf eine befriedigende Lösung aufgegeben hat. Wir halten indessen den Fall keineswegs für so hoffnungslos und glauben vielmehr, daß sich aus den genauen Beobachtungen unseres Gewährsmanns eine wenn auch nicht mathematisch beweisbare, so doch vorläufige Erklärung ableiten läßt. Wiederholt und mit Nachdruck spricht derselbe sich dahin aus, daß die vernommenen Töne zwar aus der Schlucht kamen, aber keineswegs das hergewehte Tönen des Windes in der Schlucht gewesen seien. Sie ergaben sich vielmehr nach den stundenlang fortgesetzten Beobachtungen als „selbsttönende Luftgebilde oder tönende Körper, welche gleich unsichtbaren singenden Schwänen durch die Lüfte segelten“, aber sämmtlich aus dem mehr als 1200 Meter von dem Standpunkte des Beobachters entfernten „Mundloche“ des Thales heraufzogen. So konnte er sich denn nur denken, daß diese Töne von kleineren isolirten Luftwirbeln gebildet würden, die er nach Flug, Richtung, Schnelligkeit und Entfernung ebensowohl oder besser schätzen und verfolgen konnte, wie einen an unserem Ohre vorüberschwirrenden Pfeil. Meist segelten sie an der gegenüberliegenden Thalwand dahin; manchmal kamen sie dicht bei ihm vorbei, ja er ging unter den langsam vorüberziehenden Wirbeln hindurch und vernahm jedesmal das Anschwellen der sich nähernden Töne, die gleichmäßige Stärke beim oft sehr langsamen Vorüberziehen und das seufzerartige Dahinschwinden bei der allmählichen Entfernung der Wirbel. Keine andere Ursache als wirklich im Fluge weitertönende Massen, also muthmaßlich Luftwirbel, können nach des Beobachters Ueberzeugung diese durch das Thal ziehenden Glockentöne erzeugt haben.

Wie aber könnten derartige Wirbel entstehen? Der Urheber dieser wahrscheinlich richtigen Wirbeltheorie zweifelt ernsthaft daran, daß man ihre Entstehung demonstriren könne; machen wir also selbst einen Versuch! Er spricht von kurzen unvermittelten und länger andauernden Windstößen, welche, durch die enge Schlucht gepreßt, in das Thal strömten, und wir glauben, man kann experimentell nachweisen, daß sich dabei sehr eigenartige Luftwirbel bilden mußten. Wir verfertigen uns aus Spielkarten einen Hohlwürfel, schneiden in die Mitte der einen Fläche ein beliebig gestaltetes Loch und füllen durch dasselbe den Würfel mit Tabaksdampf. Wenn wir jetzt einen kurzen Stoß gegen die dem Loche gegenüberliegende elastische Wand ausführen, so tritt aus dem Loche eine Portion Tabaksrauch und zwar in Gestalt eines ringförmigen, in der Stoßrichtung fortschreitenden Wirbels.

Durch kurze Windstöße aus der Lunge kann man bekanntlich dieselben Wirbel oder Rauchringe direct aus dem Munde senden, und es ist dabei ganz unnöthig, den Mund so rund zuzuspitzen, wie es gewöhnlich geschieht, denn aus einem vollkommen quadratischen Loche kann man aus dem Kartenwürfel ebenso schön gerundete Ringe hervortreiben, wie aus einem kreisrunden. Die Bildung der Ringe ist, wie E. Reusch gezeigt hat, eine Folge des Austritts der Luftmasse aus einer engern Wandöffnung in einen ganz freien Raum. Rings um die Oeffnung entsteht an der Wand eine Luftverdünnung; von allen Seiten strömt Luft nach, und es bildet sich ein Luftkegel, der, hinter der ausgestoßenen Rauchmasse hereilend, sie in der Mitte durchbohrt und dadurch einen Ring erzeugt, der sich fortschreitend erweitert, während die Rauchtheilchen um seine kreisförmige Ringachse rotiren. Dieselben Gesetze gelten für Flüssigkeiten aller Art, und wir können durch einen dem Kartenwürfel ähnlichen Apparat Ringe aus gefärbtem Wasser erzeugen, die in ungefärbtem Wasser fortschreiten.

Dieselben Wirbel sind, natürlich unsichtbar, vorhanden, wenn die unter ähnlichen Verhältnissen austretenden Luft- oder Wassermassen nicht durch Rauch oder Farbstofflösung unterscheidbar gemacht sind. Sie mögen sich auch aus tönender Luft und, wie es scheint, unter Erhöhung der Reinheit des Klanges hervorbilden, wenn wir gleich nicht sagen können, welche complicirtere Schwingungsformen dadurch entstehen mögen. Man könnte nun zwar sagen, ein oben offener Engpaß oder eine Thalschlucht sei keine genügend abgeschlossene Ausströmungsöffnung. Allein man muß bedenken, daß der im Allgemeinen in horizontaler Richtung strömende Wind, sobald er auf einen ansteigenden Engpaß trifft, sich darin von selbst zusammenpressen muß, sodaß die Luft in demselben, wie in einem rings geschlossenen Rohre zusammengedrückt, weiterströmt. Man ersieht ferner, daß sich bei ihrem Austritte in den offenen Raum ziemlich unvermeidlich ähnliche Wirbel bilden müssen. Diese Wirbel mögen unter Umständen von beträchtlicher Größe sein; denn der Ton schien oft neun bis zehn Secunden zu brauchen, ehe seine langsam erreichte Stärke wieder abnahm, er schien in der Luft eine Weile still zu stehen, und der Beobachter deutete dies auf langgestreckte röhrenförmige Wirbel, die so lange gebraucht hätten, um vorüberzuziehen.

Nach demselben Princip würden sich auch der Harfenton auf dem Pyrenäenpaß und manche Eigenthümlichkeiten des reichen Sagenkreises, der sich um die Glockentöne der singenden Bergthäler gewoben hat, erklären lassen. In dem obigen Berichte heißt es, daß die Morgensonne, als die Reisenden aus dem Portale des Felsenpasses traten, auf die gegenüberliegende Gebirgswand geschienen habe und zur gleichen Zeit der Harfenton erschienen sei. Nichts kann aber selbstverständlicher sein, als daß sich bei der im Uebrigen ruhigen Luft ein Luftstrom aus der Felsenschlucht gegen das sonnenbeschienene Gebirge, an welchem Luftverdünnung stattfand, richten mußte, der in der Morgenstille zum sanft tönenden Wirbel umgewandelt werden konnte. An dem zweiten Tage, an welchem die Sonne und mithin auch die Luftverdünnung an der gegenüberliegenden Felswand ausblieb, konnte demnach auch kein Ton entstehen.

Wir können uns ferner erklären, weshalb in dem Glockenthal bei Carlisle die Töne alltäglich zur bestimmten Stunde auftraten. Das Thal muß der Beschreibung nach nicht weit vom Meere gelegen haben, und man weiß, mit welcher Pünktlichkeit See- und Landwinde von gleichbleibender Richtung in der Nähe der Küsten auftreten. Wie leicht würde daraus die Sage von einem versunkenen Kloster entstehen können, dessen Mönche zur Frühmette oder Vesper läuten. Ob in diesem Erklärungsversuch einer mächtig die Phantasie erregenden Naturerscheinung das Richtige getroffen wurde, ob sich der Vorgang experimentell nachahmen läßt, mögen Akustiker von Fach entscheiden. Jedenfalls glaubte ich, auf eine gemeinsame Eigenthümlichkeit der singenden Thäler die Aufmerksamkeit der Physiker richten zu sollen.




Zum Jubeljahr der Lebensversicherungs-Gesellschaft zu Leipzig.
Zugleich ein Blick auf das deutsche Lebensversicherungswesen.
(Schluß.)


Trotz aller Verluste schlugen die schlimmen Erfahrungen in Königsberg dem Lebensversicherungswesen zum Vortheil aus; denn die Vorsicht, Gewissenhaftigkeit und Energie, mit welcher man hier Rechte und Ehre der Versicherungs-Gesellschaften wahren sah, konnten dieselben in der öffentlichen Meinung nur heben.

Bemerkenswerth aus diesem ersten Jahrzehnt der Anstalt ist noch der Beschluß, Versicherungssummen bis zu 2000 Thalern den berechtigten Erben nicht erst nach dreimonatlicher Frist, sondern ohne Zinsenabzug sofort auszuzahlen. Ferner der noch wichtigere, daß nach einem bestimmten Verhältniß zu den geleisteten Einlagen Vorschüsse auf Policen gegeben werden könnten, eine Einrichtung, mit welcher die Leipziger Gesellschaft allen anderen Lebensversicherungen voran gegangen ist. Am Schluß des Jahres 1840 hatte die Lebensversicherungs-Gesellschaft zu Leipzig über 500 Agenten und 2856 mit 3,593,800 Thalern versicherte Mitglieder.

Eine andere Erfahrung machte man mit der bisher benutzten (englischen) „Sterblichkeitstabelle“. Es ergab sich, daß dieselbe insofern zu Irrungen führte, als der Unterschied der Sterblichkeit in Deutschland gegen England sich namentlich in den höheren Altersclassen erheblich größer herausstellte, als man bisher angenommen hatte. Nach gründlicher Prüfung wählte man die von dem englischen Lebensversicherungs-Fachmann Griffith Davies

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 36. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_036.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)