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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

aber auch mit patriotischen Pflichten, denen die meisten Gesellschaften möglichst Genüge zu thun suchten. Die Leipziger dehnte die Gültigkeit der bestehenden Versicherungen bis zu einer Summe von höchstens 5000 Thalern gegen eine Extra-Prämie von 5½ Procent für Combattanten und 3½ Procent für Nichtcombattanten bis zum 31. März 1871 aus und sah in der Verwendung der Post-, Eisenbahn- und Telegraphenbeamten im Felde nicht eine Theilnahme an Kriegsereignissen im Sinne der Gesellschafts-Statuten.

Mitten im Kriegssturme ging die Gesellschaft in ihr fünftes Jahrzehnt, von 1871 bis 1880, über. Da aber dieser Krieg nur ein Sieg war und mit dem günstigsten Frieden schloß, so äußerte dies auch auf die Lebensversicherungen eine günstige Wirkung. Namentlich dehnte nun das Beamten-Cautions-Geschäft sich über die Reichslande mit ihrem zahlreichen neuen Beamtenstande aus und führte ihr bald viele Mitglieder aus denselben zu. Desgleichen traten, in Folge eines Vertrages mit dem kaiserlichen General-Postamte in Berlin vom 18. Juni 1871 bis 1. October 1880 2365 Postbeamte mit 7,196,800 Mark in die Gesellschaft ein. Durch die günstigen Folgen der Aufnahme-Erleichterungen, welche ein dritter Nachtrag zu den Statuten (vom 29. Juli 1871) darbot, stieg der Versicherungsbestand auf nahezu 25 Millionen Thaler, sodaß nunmehr, statutengemäß, als höchste Versicherungssumme 20,000 Thaler angenommen wurde.

Wenn nun die jetzt anbrechende Gründer- und Schwindelperiode sich auch nachtheilig für alle Gesellschaften erwies, so gab der Leipziger Anstalt die Ausbreitung ihres Geschäfts nach Oesterreich Ersatz. In diesen Zeitraum fällt auch eine völlige Neugestaltung der Statuten, eine Reorganisation der Verwaltung der Gesellschaft, deren Hauptänderung die war, daß künftig an der Spitze der Geschäfte mehrere geschäftsleitende Directoren stehen, an die Stelle des bisherigen Ausschusses ein aus zehn bis zwölf Mitgliedern bestehendes Aufsichtsorgan, der „Verwaltungsrath“ treten und Generalversammlungen der Mitglieder eingeführt werden sollten. – Von den gleichzeitig eingeführten Verbesserungen in den Versicherungs-Bedingungen sind von allgemeinem Interesse die, welche die Betheiligung der Versicherten an Kriegsereignissen und die häufiger, als das Publicum ahnt, vorkommenden Fälle von Selbsttödtungen Versicherter betreffen. Für letztere Fälle, deren die Leipziger Lebensversicherungs-Gesellschaft allein von 1831 bis 1879 nicht weniger als 180 verzeichnet, hat dieselbe die Bestimmung getroffen, daß, im Falle die Selbsttödtung eines Versicherten als die Folge einer Geistes- und Gemüthsstörung oder eines Fieberparoxysmus nachzuweisen ist, auch ein Betrag bis zum vollen Belaufe der Versicherung gewährt werden könne.

Endlich haben wir hier noch einer neuen Einrichtung von ganz besonderer Wichtigkeit zu gedenken: der Dividenden-Vertheilung nach einem neuen System.

Wie es drei Hauptquellen sind, aus welchen die zu vertheilenden Ueberschüsse entspringen: 1) aus den Verwaltungskosten-Aufschlägen, 2) aus der Zinseneinnahme des Reservefonds und 3) aus dem Untersterblichkeitsgewinne – so bestanden, und bestehen bei den deutschen Lebensversicherungen im Allgemeinen noch, auch drei Systeme von Dividenden-Vertheilung. Das erste und älteste, auch von der Leipziger Anstalt gehandhabte vertheilt die Jahresüberschüsse einfach nach Maßgabe der gezahlten Jahresprämie. Dieses System hat den Vortheil, daß sofort beim Eintritt in den Dividendengenuß sehr hohe Procente (jetzt z. B. 40 %) gewährt werden können, aber den Nachtheil, daß die Prämie in gleicher Höhe durch die ganze Versicherungszeit fortbezahlt werden muß. Das zweite vertheilt die Ueberschüsse nach Maßgabe der Prämienreserve. Da aber die Prämienreserve mit den Jahren wächst, so nimmt auch die Anwartschaft des einzelnen Versicherten am Gewinn von Jahr zu Jahr zu, sodaß die Versicherten die Aussicht haben, mit der Zeit ganz beitragsfrei zu werden. Das dritte System vertheilt nach Verhältniß der Summe der gezahlten Prämie, ist im Erfolg dem vorigen ziemlich gleich und hat den Vorzug der Allgemein-Verständlichkeit dem Publicum gegenüber.

Um ihre Mitglieder der Vortheile beider, des alten wie der beiden jüngeren Systeme theilhaft zu machen, stellten Directorium und Verwaltungsrath neben dem alten, das in seinem Rechte blieb, ein neues System auf. Alle Mitglieder, welche sich letzterem anschließen, bilden innerhalb der Gesellschaft eine besondere Vereinigung, welche die Gesammtsumme aller Dividenden, die ihnen statutengemäß alljährlich zufallen, unter sich nach Maßgabe der Summe der von jedem Mitglied gezahlten ordentlichen Jahresprämien vertheilen. Als Maximum des Dividendensatzes ist 3 Procent festgesetzt und aus dem nach der Vertheilung der Dividenden sich ergebenden Ueberschuß ein Dividenden-Reservefonds gebildet, der die Bestimmung hat, bei Schwankungen der Ueberschüsse zur Ausgleichung zu dienen. Das Resultat dieses Versuches ist, daß die „Vereinigung“ Ende 1879 bereits 1838 Mitglieder mit einem versicherten Capital von 10,504,800 Mark zählte. Die Probe auf das neue Exempel ist somit als gemacht anzusehen.

Einen interessanten Maßstab für den bescheidenen Anfang und das großartige Wachsthum des Gesellschaftsgeschäfts bieten auch die Localitäten desselben zu Anfang und heute dar. Während für den Anfang ein für 125 Thaler gemiethetes Local von zwei Zimmern für die drei Anstaltsbeamten genügte, baute die Gesellschaft sich von 1874 bis 1876 für 371,500 Thaler ihr eigenes Haus, in welchem nun ihre dermaligen 69 Beamtete zweckmäßige Arbeitsräume besitzen und welches, wie unsere Vignette wenigstens ahnen läßt, eine Zierde des Leipziger Theaterplatzes ist.

Ein Gang durch diese Geschäftsräume eröffnet uns einen lehrreichen und erhebenden Einblick in den für Unzählige noch so geheimnißvollen Bienenstock des zusammentragenden Fleißes, in welchem die Vielgestaltigkeit der Arbeit aus Tausenden von Fächern und Büchern uns entgegenblickt, von der ersten Anmeldung der Versicherung bis zu den grauen Todtenlisten. Zuletzt stehen wir im Cassenzimmer vor dem riesigen Schrank, dessen wohlverwahrtes Innere nicht weniger als 25 Millionen aufgespartes Volksvermögen birgt, aus dem der Segen hervorgeht, welcher der letzte Trost so vieler in Liebe für die Ihrigen sorgender Väter ist.

Solcher Schränke stehen 39 in Deutschland. Wie der Inhalt derselben beschaffen ist, und in welchem Verhältniß sie neben einander wirken, ist am kürzesten und einfachsten nur in Tabellenform darzustellen. Da uns aber unser Raum nicht gestattet, eine derartige ganze Tabelle abzudrucken, so beschränken wir uns darauf, auf die alljährlich erscheinenden, umfangreichen statistischen Arbeiten des „Bremer Handelsblattes“ und der „Berliner Börsenzeitung“ zu verweisen, welche über die Bewegung des Versicherungsbestandes der deutschen Lebensversicherungs-Gesellschaften eine umfassende Uebersicht geben.

Das gesammte deutsche Lebensversicherungswesen nimmt neben den Gesellschaften der übrigen Culturstaaten eine durchaus günstige und achtunggebietende Stellung ein. – Ein Zeugniß des Wohlstandes kann aber unsere Durchschnittssumme für eine Versicherung uns noch nicht ausstellen, denn während dieselbe Ende 1879 in Amerika 9673 Mark, in England 7950 Mark, in Frankreich 8076 Mark betrug, steht sie bei uns auf 3404 Mark. Dieses Mißverhältniß entspringt theils aus dem Umstande, daß bei uns gerade die wohlhabenden Kreise noch viel zu wenig den Nutzen der Lebensversicherung erkennen, theils aus der noch immer bestehenden Unsitte, große Summen lieber in England, und dort oft bei recht zweifelhaften Anstalten, als bei unseren deutschen Gesellschaften zu versichern.

Betrübend ist auch die große Zahl der durch Rückkauf oder wegen unterlassener Prämienzahlung erlöschender Versicherungen. Fast die Hälfte des neuen Zuganges geht auf diese Weise wieder verloren und viele Tausende von Familien sind es, denen dadurch die Wohlthat der Lebensversicherung wieder entzogen wird. Sind auch in sehr vielen Fällen Sorglosigkeit und Leichtsinn oder Genußsucht der Grund, daß die bereits erworbene Versicherung wieder ausgegeben wird, so zwingt doch auch in sehr vielen Fällen die bittere Noth, der „Kampf um’s Dasein“ dazu, und so zeigt sich uns auch in dieser Beziehung ein wenig erfreuliches Bild von dem Zustande unserer volkswirthschaftlichen Verhältnisse.

Die Lebensversicherung aber ist eines der wirksamsten Mittel, diese Verhältnisse zu bessern, und deshalb muß dahin getrachtet werden, sie zu dem Gemeingut Aller zu machen. Freilich nicht auf dem Wege, den man jetzt zu Gunsten des Arbeiterstandes einzuschlagen beabsichtigt, dem Wege der Staatshülfe. Niemals wird der Staat im Stande sein, die Ausgaben der Altersversorgung, der Versorgung der Hinterbliebenen nach dem Tode so zu lösen, wie diese Aufgabe durch unsere Lebensversicherungs-Anstalten bereits gelöst ist und in Zukunft noch weit mehr gelöst werden muß. Daß sie es vermögen, zeigt uns der großartige

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 39. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_039.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)