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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

ich zwei gleichlautende Briefe, den einen an Dessoir, den andern an Döring, in welchen ich meinen unbesiegbaren Drang zur Kunst hervorhob, von meiner Reise sprach und um Hülfe bat. Ich wollte von beiden Meistern, nach vorhergegangener Prüfung, die schriftliche Bestätigung haben, daß ich „talentvoll“ sei, um mit dieser Empfehlung meine Carriere zu beginnen. Jedem der Briefe schloß ich ein kleineres Couvert bei, das, mit einer Freimarke versehen, meine Adresse trug. Ich ersuchte „um gütigen Bescheid, um Bezeichnung einer Stunde, in der ich am wenigsten zur Last falle“, und bat, die Antwort „in das beiliegende Couvert zu stecken“. Zwei lange Tage vergingen. Endlich erschien der Briefträger. Sofort erkannte ich an meiner Adresse meine eigene Schrift. Ich öffnete, fand ein Zettelchen, das die wenigen, für mich aber berauschenden Worte enthielt:

„Besuchen Sie mich morgen zwischen elf bis zwölf Uhr!

Ergebenst Dessoir.“

Wer war glücklicher als ich? Im Hause, wo ich logirte, wohnte auch ein Dr. B., dessen drei erwachsene Söhne studirten. Der älteste, jetzt in Berlin als Arzt thätig, bettelte mir sofort das verheißungsvolle Zettelchen als einen hochinteressanten Beitrag zu seiner Autographensammlung ab. Die Zukunftsdoctoren luden mich nun ein, ihnen in ihren Zimmern etwas vorzudeclamiren; es mußte dasselbe sein, was ich Dessoir vorzutragen gedachte.

Als ich Schiller’s liebeglühenden, schwärmerischen „Mortimer“ zum Besten gab, war meine Zuhörerschaft sofort überzeugt, der morgige Tag werde entscheiden, ich werde mit Hülfe Dessoir’s eine glänzende Carriere machen. Nach einer unruhig verbrachten Nacht erhob ich mich am nächsten Morgen zeitig, unternahm einige Gedächtnißauffrischungen durch Recitirung einiger Scenen aus dem „Don Carlos“; feurig forderte ich ferner „von meinem Vater, daß er mir Etwas zu zerstören gebe, da es heftig in meinen Adern braust, da ich sogar schon dreiundzwanzig Jahre alt sei und noch immer nichts für die Unsterblichkeit gethan habe.“ Aber der alte, wackelige Großvaterstuhl in meinem Zimmer, an den ich meine Worte richtete, blieb kalt und ungerührt, wie die meisten Darsteller des eisigen Philipp bei dem anfängerischen Lallen der unbeholfenen Don Carlosse auf den deutschen Bühnen. Indem ich dem undankbaren Lehnstuhl noch nach vieler Wortverschwendung mitgetheilt, „daß mein Geschäft aus sei“, begab ich mich frisch und fröhlich an die Vollendung meiner Toilette, um mich dann dem berühmten Dessoir vorzustellen.

Am folgenden Tage gegen halb zwölf Uhr stand ich pochenden Herzens vor einem Hausthore auf dem Leipziger Platze. In meiner Todesangst empfahl ich meine Seele Gott, schritt in das Haus, machte eine Wendung links, stolperte einige Stufen aufwärts und zog leise, mit hörbarem Herzklopfen, die Klingel, die zu Dessoir’s im Hofparterre gelegener Wohnung führte. Ein Mädchen ließ mich eintreten, fragte nach meinem Namen und verschwand in einer Thür rechts. Nach einer peinvollen Minute erschien der große Schauspieler aus derselben Thür. Forschend betrachtete er mich eine Secunde. „Sie sind also der junge Mann, der mein Urtheil wünscht?“ begann der anscheinend kranke Dessoir mit leisem, umflortem Tone. Ich verbeugte mich stumm, verlegen zur Erde blickend. „Treten Sie näher!“ ermunterte er mich, da ich noch immer in der Nähe der Thür stand, durch die ich eingetreten war. Meine Befangenheit begann zu schwinden, als ich in das stillernste Antlitz dieses leidenden Mannes schaute. Er ermuthigte mich zum Sprechen, als er meine Verlegenheit bemerkte. Nach einigen Fragen und Antworten, während deren Austausch ich ungefähr in der Mitte des Salons stand, in welchem wir uns befanden, lud mich der ernste Mann ein, an einem breiten Fenster Platz zu nehmen. Ein großes Trittbrett vor demselben gewährte Raum für zwei sich gegenüberstehende Fauteuils.

Nachdem Dessoir sich gesetzt hatte und ich ihm gegenüber Platz genommen, redete er mich, mit verschränkten Armen sich zurücklehnend und mich ruhig betrachtend, also an:

„Ich habe Ihnen blos deshalb geschrieben, daß Sie mich heute besuchen mögen, um Ihnen zu sagen, daß die Erfüllung Ihrer Bitte eine absolute Unmöglichkeit ist. Kein Mensch auf dieser bewohnten Erde kann Ihnen sagen, daß Sie talentvoll sind, kein Mensch, daß Sie nicht talentvoll sind.“

„Aber,“ erlaubte ich mir bescheiden einzuwenden, „sobald Sie mich ‚sprechen‘ gehört, können Sie sich ja über den Grad meiner Begabung ein Urtheil bilden. Gestatten Sie, daß ich Ihnen Etwas vordeclamire!“

„Behalten Sie Platz!“ sagte Dessoir, leise lächelnd, ohne seine Stellung nur irgendwie zu verändern, als ich mein Fauteuil verlassen wollte. „Sie können hier im Zimmer declamiren wie ein Gott und werden auf der Bühne stets ein Stümper bleiben, wenn es Ihnen an Darstellungstalent fehlt. Es ist das Urtheilen eine eigenthümliche Sache. Wenn ich zum Beispiel die Hantirungen, die Tüchtigkeit eines Tischlers zu beurtheilen habe – wo werde ich ihn aufsuchen? In seiner Werkstatt! Umgeben von seinen Geräthen und Werkzeugen, von seinen Hobelspähnen und Materialien, die er be- und verarbeitet, wird er mir durch sich selbst und durch das unter seinen Händen werdende Werk ein anschauliches Bild von seiner Tüchtigkeit geben. Ich werde den Tischler in seinem eigentlichen Elemente zu beobachten haben, und dann erst über ihn und sein Werk urtheilen. Um wie viel mehr ist es einleuchtend, daß ich einen Schauspieler nur da, wo er in seinem eigentlichen Elemente ist, nur auf der Bühne, werde richtig beurtheilen können, da ich überdies sein Werk, seine Darstellung, nicht festhalten, nicht als greifbaren Gegenstand meiner Kritik unterwerfen kann, wie das Erzeugniß des Tischlers. Ich werde ihn, nicht umgeben von all den Erfordernissen der Bühnentäuschung, nur halb verstehen können. Woran soll ich mich also halten, wenn ich mir hier im Zimmer ein Urtheil über Sie bilden soll? Sie können unglücklicher Weise ein herzlich schlechter Rhetoriker sein. Ist es darum schon ausgemacht, daß Sie auch ein recht schlechter Schauspieler werden? Und ist denn das auch nur annähernd etwas ‚Schauspielerisches‘, was Sie mir hier vorsprechen könnten? Sie kennen ja noch gar nichts. Woher sollten Sie das auch, der Sie noch nie auf einer Bühne gestanden! Und wieder muß ich Sie auf den Tischler verweisen. Zuerst war er einige Jahre Lehrling, dann Geselle und später erst Meister. Ihr jungen Leute hingegen denkt mit einem kühnen Sprunge aus dem Privatleben in’s Künstlerthum hinüber zu voltigiren, und ein ehrlicher Mann soll Euch jetzt schon anhören und ansehen, ob Ihr auf der Bühne reussiren werdet. Wer das kann, leistet Unmögliches oder betrügt wissentlich.“

„Aber wenn Sie mich sprechen hörten,“ warf ich ein und fühlte dabei einen unangenehmen Druck auf den Kehlkopf, als wenn ich einen Aerger unterdrückte, „dann könnten Sie mir doch wenigstens sagen, ob meine Mittel ausreichen.“

Und wieder wollte ich aufspringen, um sofort zu beginnen, Dessoir aber hielt mich zurück, seine beiden Hände auf meine Schulten: legend, mich sanft in das Fauteuil drückend.

„Die Mittel! Die Mittel!“ erwiderte er in etwas lebhafterem Tempo, und seine Züge, die bis dahin fast unbeweglich geblieben, bewegten sich leicht und fingen an, jedem seiner nun lauter gesprochenen Worte charakteristische Färbung zu verleihen: „Lieber Herr, wenn alle Diejenigen, welche Mittel haben, auch den dazu erforderlichen Verstand hätten, dieselben auf der Bühne richtig anzuwenden, so hätten wir keinen Mangel an guten Schauspielern. Der Geist muß die Materie zu durchdrängen wissen; er muß das Fehlen der Mittel unsichtbar machen; er muß, mit dem Gemüthe vereint, das Herz des Hörers gefangen nehmen und Diejenigen aus dem Felde schlagen, die nur zum Ohre sprechen.“

Einen Augenblick umgab uns feierliche Stille. Dessoir blickte zum Fenster hinaus. Die mit Nachdruck gesprochenen letzten Worte wirkten mächtig auf mich. Der Meister richtete seine Augen wieder auf mich.

„Und was nützt Ihnen auch eine Vorhersagung,“ fuhr er fort, „die doch nicht eintrifft?“ Dabei stützte er gedankenvoll das Haupt in seine Rechte, die mit ihrem Ellbogen auf dem Fensterkissen ruhte. „Sehen Sie mich an, junger Mann!“ setzte er hinzu. „Als ich mich der Bühne widmete, waren es gerade die Wohlmeinenden, die mir den ehrlichen Rath ertheilten, doch diesem unseligen Berufe zu entsagen, für den ich nun einmal ,gar nichts‘ hätte. Aber ich ließ mich nicht beirren und strebte mit rastlosem Eifer meinem Ziele zu – und ich bin zufrieden. Andere, die mit mir zugleich ‚angefangen‘, haben mit den glänzendsten Vorhersagungen den Weg zum Ruhme betreten; man prophezeite ihnen goldene Berge; sie sollten phänomenale Erscheinungen am deutschen Kunsthimmel werden – – und heute kommen die vor Jahren Vielgepriesenen zu mir, um ‚Collecte‘ zu machen. Wer will etwas voraussagen!? Die Zeit, lieber Herr, straft uns Lügen.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 82. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_082.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)