Seite:Die Gartenlaube (1881) 118.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

in der Unsicherheit der Gegenwart und Zukunft des Arbeiters, in dem mangelnden Schutze gegen Arbeitslosigkeit, Krankheit und Alter. Unter allen Mitteln, die Lage der arbeitenden Classen zu heben und den Gefahren der sogenannten socialen Frage zu begegnen, verdient deshalb wohl keines größere Beachtung, als die Versuche, Versicherungscassen für Arbeiter und deren Wittwen und Waisen zu errichten, und so den Arbeiter über seine eigene Zukunft, wie über diejenige seiner Hinterbliebenen zu beruhigen. Dürfen wir es thatenlos mit ansehen, daß Tausende von Invaliden der Arbeit, denen es nicht gelang, mehr zu erringen, als zum täglichen Lebensunterhalt nothwendig war, am Ende ihrer Tage der öffentlichen Unterstützung anheimfallen? Liegt es nicht im Interesse der Harmonie der bürgerlichen Gesellschaft, erscheint es nicht als eine offensichtige Aufgabe des Volkes, hier einzugreifen? Manche Haushaltung wird bereits durch eine vorübergehende Krankheit ihres Hauptes aus dem Gleichgewicht gebracht und dadurch für alle Zukunft gefährdet, wogegen 1876 die Reichsgesetzgebung durch Regelung des Krankencassenwesens für Arbeiter schützend eintrat. (Vergl. „Gartenlaube“, 1878, S. 556)

Weit wichtiger aber erscheint aus den oben betonten Gründen die Fürsorge für die Zeit der Erwerbsunfähigkeit in Folge von Alter und Gebrechen; sicherlich kann den Arbeiter nichts mehr Herabdrücken als der Genuß von Almosen, und umgekehrt hebt ihn nichts höher als das Bewußtsein, daß er Alles sich und seiner eigenen Kraft verdanke und als vollberechtigtes Glied des Staats- und Gemeindewesens erscheine. Die Bedeutung der Errichtung von Hülfscassen für Arbeiter hat in einem Artikel der „Gartenlaube“ von 1878 (S. 655) ein bewährter Fachmann bereits kurz und schlagend nachgewiesen, und herrscht heute kaum noch ein Zweifel über die Nothwendigkeit, dem Versicherungswesen der arbeitenden Classen mit Hülfe der Gesetzgebung zur weiteren Entwickelung zu verhelfen. Dagegen stehen sich die Ansichten über die Wahl der Mittel zur Erreichung des gewünschten Zieles scharf gegenüber. Die Einen halten die Errichtung der Alters und Invaliden, Wittwen und Waisencassen für Arbeiter nur auf Grund einer gesetzlich einzuführenden allgemeinen Beitritts- und Beitragspflicht der Betheiligten für möglich, während die Gegner dieses sogenannten Cassenzwanges das Zustandekommen aus dem Wege der freiwilligen genossenschaftlichen Vereinigungen der Arbeiter erstreben, deren Bildung die Gesetzgebung nur zu fördern und zu erleichtern hätte.

Seit der Reichskanzler mit Antritt seines neuen Amtes als preußischer Handelsminister die endliche Lösung der Streitfrage in Aussicht gestellt hat, ist der Kampf der Vertreter des Cassenzwangs und der Verfechter der Cassenfreiheit immer heftiger entbrannt, weshalb wir unseren Lesern ein übersichtliches Bild darüber geben wollen, wie das wichtige Problem in den einzelnen Ländern gelöst wurde und was auf dem Wege des Cassenzwangs oder der Cassenfreiheit erreicht werden konnte.

Wie bei allen hervorragenden Erscheinungen auf dem Gebiete des gewerblichen Lebens und der socialen Stellung der Arbeiter richten sich unsere Blicke mich in diesem Falle zunächst auf England, wo besondere wirthschaftliche Verhältnisse den Arbeiterstand zuerst zur Erreichung einer ökonomischen Selbstständigkeit in allen Lebenslagen durch Vereinigungen drängten, welche auf dem echt germanischen Grundsatze der Selbsthülfe beruhten. Solange die Zünfte bestanden und Schutzverbrüderungen für alle Lebensverhältnisse bildeten, fand der Arbeiter in Krankheit und Noth bei der Gesellenverbindung, der er angehören mußte und zu deren Casse er Beiträge zahlte, Hülfe. Als die Gilden mit Ende des achtzehnten Jahrhunderts ihre Bedeutung verloren, die Beschränkungen der Coalitionsfreiheit und Freizügigkeit zusammenbrachen, entstanden, nach einem vergeblichen Versuche den Cassenzwang einzuführen, überall, durch die Gesetzgebung gefördert, freiwillige Hülfscassen der Arbeiter zur Unterstützung in Krankheitsfällen, für die Zeit eingetretener Arbeitsunfähigkeit etc. und wurden zu einem Institut von wahrhaft nationaler Bedeutung.

Als ferner in der Armenpflege der strenge Grundsatz Annahme fand, alle arbeitsfähigen Hilfsbedürftigen auf Kosten der Gemeinde in Arbeitshäusern zu beschäftigen, mußten die Arbeiter auf’s Aeußerste angespornt werden, aus eigener Kraft sich gegen Unglücksfälle zu sichern. Seitdem gewann das englische Hülfscassenwesen eine noch größere Verbreitung, da auch die Gesetzgebung den Unterstützungscassen der Arbeiter alle Vortheile öffentlicher Verbände und Gesellschaften gewährte, namentlich das Recht Eigenthum zu erwerben, Rechtsgeschäfte aller Art durch ihre Vorstände abzuschließen und klagend aufzutreten.

In allen gewerblichen Hülfscassen Englands besteht vollständige Cassenfreiheit mit Selbstverwaltung; die Arbeiter beschaffen die nöthigen Mittel durch Eintrittsgelder und Wochenbeiträge, und nirgends sind die Arbeitgeber verpflichtet, Beiträge zur Gründung oder Unterhaltung der Cassen zu leisten. Charakteristisch für das englische Arbeiterversicherungswesen aber ist die Unabhängigkeit von jeder staatlichen Einmischung, welche der Rechtsanschauung der Engländer fremd ist. Nach amtlichen Erhebungen soll je eine von drei Seelen in Großbritannien und Irland an je einer Hülfscasse betheiligt sein.

Neben diesen Hülfscassen haben die in den letzten dreißig Jahren von den Gewerkvereinen für ihre Mitglieder errichteten Kranken und Altersunterstützungscassen große Bedeutung gewonnen. Die englischen Gewerkvereine sind nach ihrem wesentlichen Grundzug Verbindungen von Lohnarbeitern derselben Beschäftigung zum Schutze und zur Förderung ihrer Rechte und Interessen. Sie entfalteten sich zur wirklichen Bedeutung in der Zeit, als der kolossale Aufschwung der englischen Industrie dem Capitale ein immer größeres Uebergewicht über die Arbeit verschaffte und die allgemein anerkannten Mißbräuche, wie übermäßige Arbeitszeit, die Frauen- und Kinderausbeutung, Lohnherabsetzungen etc. herbeiführte, Ursprünglich suchten die Gewerkvereine ein Gegengewicht gegen die Uebermacht der Arbeitgeber zu Gunsten ihrer Mitglieder auszuüben und benutzten die Strikes als Hauptmittel zur Durchführung aller Forderungen. In neuerer Zeit ist die Thätigkeit der Gewerkvereine eine friedlichere geworden; an Stelle der Strikes ist die Ausgleichung der Streitigkeiten durch gemeinsame Schiedsgerichte zur Regel geworden, und tritt als hauptsächlicher Zweck der Vereine die Sicherung der Arbeiter in allen Lebenslagen hervor, weshalb auf die Regelung der Krankenunterstützung, Versorgung der Arbeitsunfähigen, Wittwen und Waisen der Mitglieder besondere Sorgfalt verwendet wird.

Den Glanzpunkt der englischen Gewerkvereinsbewegung bilden die „Vereinigte Gesellschaft der Bergleute“ in Manchester und der „Verein der Maschinenbauer“, welch letzterer 1851 seine Thätigkeit mit 5000 Mitgliedern begann und jetzt 390 Ortsvereine mit über 40,000 Genossen umfaßt. Die Einnahmen, welche in die Casse der Centralstelle in London fließen, bestehen aus den Eintrittsgeldern, regelmäßigen Wochenbeiträgen und außerordentlichen Erhebungen, falls für besondere Ausgaben die laufenden Mittel nicht hinreichen. Gehört ein Arbeiter dem Gewerkverein 12 Monate an, so erwirbt er das Anrecht auf eine Reihe von Unterstützungen, welche z. B. bei Krankheit 10 Schillinge wöchentlich, bei unverschuldeter dauernder Arbeitsunfähigkeit 100 Pfund Sterling = 2000 Mark Capitalzahlung, bei einem Alter über 50 Jahre 7 bis 10 Schillinge wöchentlich, je nach der Dauer der Mitgliedschaft, betragen.

Die Beiträge sind mäßig, jedes Mitglied hat verschieden nach dem Alter 15 Schillinge bis 2 Pfund 10 Schilling Eintrittsgeld zu zahlen und als regelmäßigen Beitrag 1 Schilling (= 1 Mark) die Woche, demnach für das ganze Jahr 2 Pfund 12 Schillinge – 52 Mark. Die Leistungen des Vereins sind ganz enorme: es wurden z. B. während der Jahre 1851 bis 1875 bezahlt für Krankenunterstützung 294,950, Altersunterstützung 111,395, Unfallunterstützung 25,900, Begräbnißunterstützung 92260, Wohlthätigkeitszwecke 25197 Pfund Sterling.

Neben den freiwilligen Vereinigungen und Unterstützungscassen der Gewerkvereine giebt es in England noch Hülfscassen, die von Eisenbahngesellschaften für ihre Arbeiter und Beamten, ähnlich wie die deutschen Fabrikcassen, errichtet sind, und welchen die Arbeiter beim Eintritt in den Dienst beitreten müssen. Da neben bestehen Sparcassen und Vereine zur Unterstützung bedrängter Arbeiter, während die Lebens- und Rentenversicherungsanstalten meistens den höheren Schichten der Gesellschaft dienen, wenn auch einzelne derselben in neuerer Zeit die Versicherung der arbeitenden Classe in den Kreis ihrer Geschäfte ziehen.

In der gewaltig aufstrebenden Republik der Vereinigten Staaten von Nordamerika genießt die arbeitende Classe zwar die volle Freiheit der Bewegung, wofür sie aber ausschließlich für ihr Fortkommen und Wohl Sorge tragen muß. Gesetzliche Bestimmungen zum Schutze der Arbeiter gegen Unfälle, Krankheit,

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1881, Seite 118. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_118.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)