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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

in überwältigender Scham beide Hände vor das Gesicht. „O Gott, wie peinvoll!“ murmelte sie, und die Hände wieder sinken lassend, sagte sie mit niedergeschlagenen Augen: „Der Bücherwechsel war nur eine Legitimation, mich einzuführen – vielleicht dachten Sie das selbst. Ich kam – weil ich es nicht ertrage, Ihnen Schmerz verursacht zu haben, ohne ihn zu lindern. Ich will gut machen, so viel ich kann.“

Ach, wie schnell war Alles vergessen, was er eben noch gedacht hatte! Seine hypermoralischen Bedenken, Frau Griebel’s alterirtes Anstandsgefühl – wie hätten diese Geringfügigkeiten noch aufkommen können neben den erschütternden Tönen, die an sein Ohr schlugen, angesichts des süßen, blassen Mädchenantlitzes, das sich demüthig auf die Brust senkte! – Unwillkürlich bog er sich nieder, um sie in seine Arme zu ziehen, wo sie geschützt sein sollte für alle Zeit. Allein diese eine rasche Bewegung scheuchte sie sofort bis auf die Schwelle der Altanthür; sie schien förmlich entsetzt über die Wirkung ihrer Worte, über das leuchtende Gesicht des Gutsherrn und hob den Fuß, um, bei einem weiteren Schritte seinerseits, die Treppe hinabzuspringen und das Weite zu suchen.

„Ich war vorhin in das Haus gelaufen, um Verbandzeug zu holen,“ sagte sie herb, mit finster zusammengezogener Stirn; „aber als ich zurückkam, waren Sie fortgegangen. … Ich weiß nicht, ob ich die Schuld an dem unseligen Vorfall allein trage – auf jeden Fall bin ich unvorsichtig gewesen, und das läßt mich nicht ruhen, das hat mich hierher getrieben! … Ich will keine ungesühnte Schuld auf dem Herzen haben, gegen keinen Menschen, gegen Niemand auf der Welt, sei es, wer es sei!“

„Ach so. Nun denn, ich danke Ihnen recht sehr für Ihre Theilnahme,“ warf er bitter lächelnd hin, während er an den Tisch trat. „Sie können beruhigt nach Hause gehen. Die Schuld trage ich allein; warum war ich so täppisch, der sichelführenden ,Trutzigen’ zu nahe zu kommen! Im Uebrigen sehen Sie, daß ich eben im Begriff war“ – er zeigte auf das Nécessaire – „den Zeugen des ,unseligen Vorfalls’ einfach mit Heftpflaster zu verkleben.“

„Das genügt nicht,“ sagte sie rasch und bestimmt und kam wieder in das Stübchen herein. „Die Wunde geht ziemlich tief – ich habe es gesehen und besitze ein Mittel, das jeder Entzündung vorbeugt und die Heilung beschleunigt.“ Sie schlug den Deckel des mitgebrachten Körbchens zurück und nahm ein Leinenpäckchen heraus. „Erlauben Sie mir, daß ich Sie verbinden darf! Sie dürfen sich mir ruhig anvertrauen – die Diakonissenpflichten sind mir nicht fremd.“

„Ei bewahre! Was denken Sie? Ich werde wohl solch ein offenbares Opfer Ihrerseits zugeben! Niemals, schöne Prüde! Wer, wie ich, weiß, unter welch innerem Widerstreben Sie sich zu dergleichen Samariterdiensten verstehen – denken Sie nur an die Brücke bei der Schneidemühle, wo ich erst an die christliche Barmherzigkeit appelliren mußte, ehe Sie mich armen Teufel aus dem Schraubstock erlösten! – der kommt kein zweites Mal! Und nun gehen Sie in Gottes Namen heim, oder besser, in das Grafenholz, und sagen Sie dem Forstwärter, daß er das verlangte Buch heute Abend hier abholen kann! Es soll bereit liegen!“

Sie ging nicht – im Gegentheil! Neben den Gutsherrn an den Tisch tretend, rollte sie das Leinenpäckchen aus einander, entkorkte ein kleines Medicinglas und breitete verschiedene Verbandutensilien hin – das geschah alles flink, sicher, und mit schweigendem Ernst, wie ein Arzt dem widerstrebenden Patienten gegenüber zu verfahren pflegt.

„Mögen Sie mich aufdringlich schelten und unbarmherzig mit mir in’s Gericht gehen, mögen Sie mich noch mehr verachten, als bisher, ich weiche nicht, ehe ich meine Pflicht erfüllt habe,“ sagte sie sanft, aber mit Festigkeit.

„Ich will aber Ihre Pflichterfüllung absolut nicht. Ich lehne sie ab und gebe Ihnen hiermit das Zeugniß, daß Sie das Menschenmögliche gethan haben, um Ihr empfindliches Gewissen zu beruhigen,“ rief er, bebend vor Erregung. „Sind Sie nun zufrieden?“

(Fortsetzung folgt.)




Ein Tag auf dem Lootsen-Schooner.

Plauderei von Gustav Schubert.

„In fünfzehn Minuten läuft der Schooner aus.“ Diese kurze mit Bleistift geschriebene Depesche weckte mich an einem schönen Sommermorgen in dem Ostseebade S., wo ich mich während der Hundstagsferien zur Cur eingenistet hatte, aus dem Schlafe. Mit Windeseile war ich angekleidet, und bald eilte ich durch die dichten „Anlagen“ dem Hafen entgegen. Mein freundlicher Hauswirth, der heute als Oberlootse den „Delphin“, einen schmucken Dampfer, befehligte, hatte mir die obige Nachricht zukommen lassen, um meinem Wunsche, eine Lootsenausfahrt mitzumachen, zu willfahren. Sein scharfes Seemannsauge hatte mich auf meiner Morgengaloppade schon längst erkannt, noch ehe ich davon eine Ahnung hatte, und von ferne winkte er mir zu, daß es die höchste Zeit sei. Ein kurzer Laufschritt, ein kühner Sprung – und ich war auf dem Schooner, der im nächsten Augenblicke vom Lande abstieß.

Während wir in die See hinausdampften, sah ich mich zunächst auf dem sehr sauber gehaltenen „Delphin“ etwas genauer um. Das fünfundzwanzig Meter lange Schiff trägt, wie alle Lootsenfahrzeuge, am Vordermast in eigenthümlicher Weise die deutschen Farben (schwarz-weiß-roth auf weißem Grunde), hat eine vorzügliche Maschine von sechsunddreißig Pferdekräften, eine freundliche Kajüte für den Oberlootsen und Steuermann, eine einfachere für die Lootsen, eine Kochvorrichtung und an Back- und Steuerbord je ein großes, mit Korksäcken versehenes hängendes Ruderboot. Die von dem Oberlootsen befehligte Besatzung besteht aus einem Steuermann, zwei Matrosen, zwei Maschinisten, zwei Heizern und neun Lootsen und repräsentirt eine nicht geringe Summe seemännischer Intelligenz; denn die Lootsen sind ausschließlich ehemalige Capitaine und Steuerleute, die außerdem durch strenge Examina ihre Befähigung zu dem wichtigen und gefahrvollen Lootsendienst dargelegt haben müssen.

Durch meinen liebenswürdigen Freund, den Oberlootsen, den einzelnen „Seebären“ in einfachster Form vorgestellt, war ich bald in die interessantesten Gespräche verwickelt und erfuhr, daß meine Reisegenossen die Fahrt um die Welt sämmtlich mindestens einmal gemacht, mit vielen Nationen verkehrt und mannigfache Unfälle erlebt hatten. Es war eine Lust, ihnen zuzuhören; wer je den Erzählungen älterer Seeleute gelauscht hat, wird empfunden haben, von welchem Ernste, von welch prunkloser, aber fesselnder Darstellungsweise alles durchdrungen ist, was sie sagen. Diese Männer der That machen keine leeren Worte; in ihrer knappen Redeweise liegt meistens etwas ungewöhnlich Entschlossenes, aber auch etwas unendlich Gutmüthiges, und das ist leicht erklärlich; hängt es doch mit dem Berufe und den Lebensgewohnheiten des Seemannes zusammen; denn keine Berufsgattung fördert zu so schnell entschlossenem Handeln auf, wie die des Schiffers, und in nur wenigen Lebensstellungen findet der Mensch zu aufopferungsfähiger Selbstvergessenheit so oft Gelegenheit wie in dieser, welche häufig genug Veranlassung giebt, eine erbetene oder nicht erbetene Hülfe schnell zu leisten, die weit über die starre Instruction hinausgeht.

Während ich in der Kajüte meines Freundes einen von ihm selbst bereiteten strammen Kaffee, der seine „Weißheit“ einem biederen Eigelb verdankte, eingenommen hatte, waren wir ein tüchtiges Stück weiter gedampft, sodaß die hinter uns liegende Küste im Morgennebel verschwand.

Auf dem Vordertheil des „Delphin“ geht es seit der letzten Viertelstunde recht lebhaft zu. Die Lootsen stehen in Gruppen zusammen; ein riesiges Fernrohr und ein Doppelglas, die beide deutliche Spuren unausgesetzter Benutzung tragen, wandern von Hand zu Hand und werden nach einer Stelle des Horizontes gerichtet, wo ein graues Pünktchen allmählich auftaucht, in welchem ein ungeübtes Auge nimmermehr ein Schiff vermuthet haben würde.

Für die Lootsen bildet es das Object der lebhaftesten Unterhaltung. Zunächst gilt es, zu ermitteln: ist das Fahrzeug ein „Lootsenschiff“, das heißt hat es den bestimmten Tonnengehalt, auf Grund dessen es mit einem Lootsen besetzt werden muß; denn kleinere Schiffe, Fischerboote etc. dürfen unter eigener Führung einlaufen. Ist es wirklich ein Lootsenschiff, so zeigt es auf der höchsten Mastspitze die „Lootsenflagge“; das ist eine einfache Flagge

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 127. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_127.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)