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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

verborgen seien, die nur darauf warteten, daß man sie zu Tage förderte, um allgemein anerkannt zu werden; die Märchen, denen Niemand große Beachtung geschenkt hatte, wurden gemeiniglich für müßiges Ammenstubengeschwätz angesehen, das nicht von verständigen Leuten beachtet zu werden verdiente, und es ist deshalb sehr erklärlich, daß das Interesse, mit welchem Asbjörnsen und Moe die Sache erfaßten, von den Meisten als ein wunderlicher Einfall betrachtet wurde. Die beiden Männer aber ließen sich nicht abschrecken und erkalteten in ihrem Eifer nicht, bis sie die materiellen Schwierigkeiten, die sich der Ausführung des Werkes entgegengestellt, überwunden hatten.

Im Jahre 1842 ward das erste Heft „Norwegische Volksmärchen, gesammelt von P. Chr. Asbjörnsen und Jörgen Moe“ herausgegeben. Sobald dies geschehen war, schlug die Stimmung des Publicums, die dem Unternehmen so abhold gewesen war, völlig um. Dieselben Leute, die bisher von diesen Offenbarungen der im Volke lebenden Poesie nichts hatten wissen wollen, mußten jetzt erkennen, daß hier eine Goldmine entdeckt sei, und daß die beiden Männer, die es unternommen hatten, sie auszubeuten, in einem seltenen Grade im Besitz der zur Hebung der Schätze nothwendigen Bedingungen seien.

Dem ersten Hefte folgten schnell zwei andere, sodaß schon im nächsten Jahre das Buch abgeschlossen werden konnte. Später sind mehrere neue und vermehrte Auflagen desselben erschienen. Auch außerhalb Norwegens wurde es mit großem Beifall aufgenommen. Deutsch kam es 1847 in Berlin, mit einem Vorwort von Ludwig Tieck versehen, heraus, nachdem schon die Gebrüder Grimm (in der Vorrede zur deutschen Mythologie und zur 6. Ausgabe der Kinder- und Hausmärchen) sich mit größter Wärme vortheilhaft über dasselbe ausgesprochen hatten, als eine Sammlung, „die mit ihrem frischen vollen Vorrath alle Sammlungen fast überboten hat“. Im Jahre 1871 erschien eine neue Collection norwegischer Volksmärchen, von Asbjörnsen allein herausgegeben, aber mit Beiträgen von Moe’s Reisen und Aufzeichnungen versehen. Sein großes Talent als selbstständiger Dichter legte Asbjörnsen durch seine Sammlungen „Norwegischer Waldgeistermärchen und Volkssagen“, welche er schon 1845 zu publiciren anfing, an den Tag. Von diesen erschien 1870 eine vollständige Ausgabe, und 1879 gab er einen Auszug aus seiner ganzen Märchenproduction mit trefflichen Illustrationen der hervorragendsten norwegischen Künstler heraus. Dieses in jeder Beziehung ausgezeichnete Buch liegt jetzt auch in deutscher Uebersetzung[1] vor.

Leider gestatteten Asbjörnsen’s Verhältnisse es ihm nicht, sich ganz und gar der Erforschung der norwegischen Volksdichtung zu widmen. Es fehlte ihm allerdings nicht an mannigfacher Anerkennung; auch fanden seine Bestrebungen theilweise Unterstützung, sodaß er sogar einige Reisen zum Behufe der Märchenforschung auf öffentliche Kosten unternehmen konnte, allein dies reichte doch bei Weitem nicht aus, um ihm eine unabhängige Stellung zu schaffen, in der er sich ganz jener Thätigkeit hätte hingeben können.

Nachdem Asbjörnsen 1837 das zweite (sogenannte philosophische) Examen an der Universität bestanden hatte, mußte er sich für ein Brodstudium entscheiden. Er wühlte die Medicin, zunächst wohl darum, weil die damit verbundenen naturwissenschaftlichen Studien, die ihm stets besonders zugesagt hatten, ihm die Gelegenheit boten, seiner Lust, im Walde und auf dem Felde umherzustreifen, volle Befriedigung zu gewähren. Doch brachte er es nie zur Ablegung des medicinischen Examens, mit um so größerem Eifer aber widmete er sich der Zoologie, und die Früchte seiner Forschungen traten in einer ganzen Reihe populärer Darstellungen hervor, welche ungemein viel dazu beigetragen haben, den Sinn der Norweger für die sie umgebende Natur zu wecken. Besonders dazu geeignet war seine „Naturgeschichte für die Jugend“ (6 Bände, 1839 bis 1849), welche eine anregende Einwirkung auf mehrere der tüchtigsten jüngeren Naturforscher Norwegens hatte. Alle diese Schriften Asbjörnsen’s zeugen von seiner scharfen Beobachtungsgabe und von klarer geistvoller Auffassung der Erscheinungen, während die Darstellung selbst lebhaft und anziehend ist.

Besondere wissenschaftliche Bedeutung erhielten seine Forschungen in dem Thierleben des Meeres, und ein von ihm in großer Meerestiefe gemachter Fund gab einen der ersten Anstöße zu einer Menge weitgehender Untersuchungen, die in den letzten Jahrzehnten vorgenommen worden sind. Asbjörnsen fand nämlich 1853 im Hardangerfjord einen prachtvollen bis zu der Zeit unbekannten Seestern, welchen er nach dem (wie die Sage erzählt) von Lote auf dem Meeresgrunde verborgen gehaltenen Busenschmuck Freja’s „Brisinga“ nannte. Es ergab sich, daß dieser Seestern in so fern einer sonst ausgestorbenen Thierwelt angehörte, als er in gerader Linie von der Fauna der Tertiärperiode abstammte. Dadurch und durch andere ähnliche Funde ward ein eigenthümliches Licht auf die Kreidebildung der Vorzeit und der Jetztzeit geworfen, was wiederum zum Theil den Anlaß gab, daß der Professor Wyville Thomson bei der Royal Society in London den Vorschlag einbrachte, die erste Expedition zur Erforschung des Thierlebens im Meere in großen Tiefen auszurüsten.

Asbjörnsen war jedoch genöthigt, sich nach einer festen Lebensstellung umzusehen, und mußte daher seine zoologischen Studien allmählich einschränken, um sich praktischen Beschäftigungen zuzuwenden, die allerdings mit seinen Neigungen und seiner bisherigen Thätigkeit übereinstimmten. Mit einem reichlichen Staatsstipendium ausgerüstet, begab er sich 1856 nach Deutschland, um das Forstwesen zu studiren. Etwas über ein Jahr hielt er sich auf der Forstakademie zu Tharand auf und bereiste dann ebenso lange die interessantesten Wald- und Berggegenden Deutschlands. Nach seiner Rückkehr ward er zum Forstmeister ernannt, eine Stellung, die er noch jetzt bekleidet, und in welcher er ganz außerordentlich viel zur zweckmäßigen Ordnung des Forstwesens in Norwegen, sowie überhaupt zur verständigen Ausnutzung der reichen natürlichen Hülfsquellen seines Vaterlandes beigetragen hat. Von besonderer Wichtigkeit waren seine Untersuchungen der norwegischen Torfmoore, über welche er ein höchst gediegenes, auf öffentliche Kosten herausgegebenes Werk verfaßt hat.

Wir sehen, wie verschiedenartig und vielseitig die Thätigkeit Asbjörnsen’s bisher gewesen ist und wie sich stets an seine praktischen Beschäftigungen eine ihnen entsprechende literarische Darstellung schloß. Bisweilen erschien er als Schriftsteller sogar auf Gebieten, die ihm scheinbar sehr fern lagen. So gab er eine Beschreibung von der Expedition eines norwegischen Kriegsschiffes nach dem Mittelländischen Meere im Jahre 1849, an welcher er theilgenommen, heraus, und 1864 erschien ein von ihm verfaßtes „Zeitgemäßes Koch- und Haushaltungsbuch“. Beide Schriften machten ein ganz außerordentliches Aufsehen, die erste namentlich darum, weil sie außer sehr lebendigen Schilderungen der Gegenden, welche die Expedition berührt hatte, eine Menge von Enthüllungen über die damals in der norwegischen Marine herrschenden lächerlich kleinlichen Verhältnisse enthielt.

Die rücksichtslose Satire der Schrift trug viel dazu bei, daß jenen Uebelständen abgeholfen wurde, während die Marine selbst natürlich von einem Unwillen gegen den Verfasser erfüllt wurde, der sich erst allmählich verlor. Auch das Kochbuch erregte anfangs Erbitterung, und zwar bei der Damenwelt, weil aber die in demselben ausgesprochenen Grundsätze höchst verständig waren, legte sich der Sturm bald, und das Buch hat sowohl in Norwegen wie in Dänemark und Schweden zur Einführung einer rationelleren Speisebereitung ungemein viel beigetragen.

Asbjörnsen gehört zu den angesehensten und populärsten Schriftstellern seines Landes. Seine größte Bedeutung aber für die norwegische Literatur hat er durch seine Märchenerzählung erlangt, und auf diesem Gebiete hat sich sein großes Talent am reichsten entfaltet. Mit vollem Rechte kann man ihn als den „nordischen Grimm“ bezeichnen, nicht allein weil er seinem Volke zuerst die Sagenwelt erschlossen hat, sondern auch weil seine Erzählungen vollendete Kunstwerke sind. Es ist eine sehr schwere Aufgabe, diese Art der Volksdichtung in der rechten Weise wiederzugeben, und derjenige, welcher sie lösen soll, muß viele seltene Eigenschaften in sich vereinigen. Die Märchen sind zum großen Theil Gemeingut der ganzen Welt, in den verschiedenen Ländern aber der Individualität des Volkes gemäß ausgebildet und ihr angepaßt.

Wenn die Arbeit des Märchensammlers daher wissenschaftlichen

  1. Auswahl norwegischer Volksmärchen und Waldgeistersagen von P. Chr. Asbjörnsen. Aus dem Norwegischen übersetzt von H. Denhardt. Mit 106 Illustrationen nach Arboe, Gude, Lerche, Petersen, Schneider, Sinding, Tidemand, Werenskiold. Leipzig, Adolph Refelshöser, 1881.) – Mit gütiger Erlaubniß des Herrn Verlegers entnehmen wir diesem durch seinen werthvollen Inhalt wie durch seine künstlerische Ausstattung gleich empfehlenswerthen, hochinteressanten Werke das dem gegenwärtigen Artikel beigefügte Portrait Asbjörnsen’s. Möchte diese verdienstvolle deutsche Ausgabe norwegischer Volksmärchen den Sinn für die Poesie des Nordens in unserm Vaterlande kräftig wecken helfen!
    D. Red.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 162. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_162.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)