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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Desto besser verstand er zu hören. Wenn er nicht krank war, versäumte er keine Sitzung. Da sah man den klugen, alten, kränklichen Kopf mit dem großen weißen, in sarmatischer Weise herabhängenden Schnurrbart und den glatt nach hinten gestrichenen schneeweißen Haaren, stets etwas vorgeneigt lauschen und nur zuweilen ein wenig lächeln, und als eines Tages in dem höchst provisorischen Reichstagsgebäude, das immer noch nicht einem der Würde der Nation entsprechenden Parlamentshause Platz machen will, von den ebenfalls höchst provisorischen Decken sich einige Balken loslösten und mit einer Gewalt, die einen Ochsen hätte tödten können, dicht neben Oetker’s Sitz niederschlugen, sah man am andern Morgen das verehrliche Mitglied für Schaumburg wieder auf der nämlichen Stelle sitzen, still, freundlich, aufmerksam, als wenn nichts geschehen wäre und nichts wieder geschehen könnte - der Fleisch gewordene Ausdruck des „Impavidum ferient ruinae“, des „Unerschrockenen im Welt-Einsturze“.

Ich kannte Oetker seit beinahe vierzig Jahren. Er hatte in seiner Jugend eine schwere Krankheit durchgemacht und war seitdem nie wieder ganz genesen. Man sagt, Niemand habe eine lebenslange Krankheit mit mehr Gottergebenheit ertragen, als der fromme Dichter und Magister Christian Fürchtegott Gellert in Leipzig; hat er doch auch das schöne Buch „Von den Trostgründen wider ein sieches Leben“ geschrieben, von welchem ich - das spricht freilich nur für die Mangelhaftigkeit der menschlichen Natur - indessen, beiläufig bemerkt, noch niemals gehört habe, daß es irgendwann einem wirklich Kranken in der That zum Troste verholfen.

Aber von Friedrich Oetker kann ich behaupten, daß er durch die Kraft seines Willens seine Krankheit, ohne sie aufheben zu können, doch förmlich unterjocht hat. Weit entfernt von der vielberufenen Schopenhauer’schen „Verneinung des Willens zum Dasein“, war er stets beseelt von dem Entschluß der That und des Wirkens. Ich habe ihn gesehen, wie er unter den heftigsten Schmerzen zu Bett lag, aber da am andern Tag eine für weiland Kurhessen wichtige Frage zur Entscheidung kam, so hatte er seine Landsleute, die hessischen Mitglieder des Abgeordnetenhauses, um sich versammelt und gab ihnen die minutiösesten Instructionen, wie es der Feldherr vor der Schlacht thut, immer freundlich, immer sorgfältig und geduldig, während ein Anderer hätte aus der Haut fahren mögen.

In Folge dieser bewundernswürdigen Selbstbeherrschung wollte gar Mancher an seine Krankheit nicht so recht glauben, obgleich sie nur zu sehr eine traurige Wahrheit war. Ich glaube, es war im Jahre 1859 – da saßen wir in Frankfurt am Main zusammen, und Einer unserer politischen Freunde, von der Statur des Hercules und von so brennendrothen Wangen, daß Oetker sagte, man könne sich eine Cigarre daran anstecken, schrie in seinem Uebermuthe:

„Ja, da sitzen wir nun, wir jungen und kräftigen Leute, und doch wird da dieser alte kranke Oetker uns alle überleben.“

Und in der That hat ihn Oetker um sechszehn Jahre überlebt. Ein Anderer von unserer damaligen politischen Tafelrunde dagegen schrieb mir dieser Tage:

„Möge die Erde leicht sein für unseren tapferen alten Kattenhäuptling! Man darf sich kaum wundern, daß er gestorben. Man kann vielmehr kaum begreifen, wie er so alt werden konnte. Aber der starke Geist hat den schwachen Körper aufrecht erhalten.“

Er selbst schrieb 1878 in seine „Erinnerungen“:

„Durch einige Flugblätter, die, wie man sagt, den Nagel auf den Kopf trafen, war ich im Sommer 1848 schnell ein ‚einflußreicher‘ Mann geworden. Auch in die Ständeversammlung wollte man mich bringen, doch lehnte ich dies vorläufig ab. Erst im Herbst 1848 nahm ich eine Wahl der Schaumburger Städte an und begann am 29. November meine parlamentarische Thätigkeit, indem ich sogleich in den ‚Legitimations-Prüfungs-Ausschuß‘, später auch in andere Ausschüsse gewählt wurde.

Da ich wegen fortwährender Heiserkeit nur mit großer Anstrengung einige Sätze zu reden vermocht, so war meine Wirksamkeit meist auf die Theilnahme an Ausschußberathungen, auf kurze Bemerkungen und stille Beeinflussungen, sowie auf Befürwortungen und Bekämpfungen in der Presse beschränkt. Auch später, bis auf die neueste Zeit, hat sich dies niemals wesentlich geändert.“

Die zwei Bände „Erinnerungen“ von Oetker sind ein wahres Schatzkästlein. Der erste Band ist 1877 erschienen. Oetker schickte ihn mir mit einem freundlichen Billet, das ihn in seiner ganzen Liebenswürdigkeit zeigt. Es datirt vom 23. Juni 1877 und lautet:

„Vor geraumer Zeit, hochmögender Freund, sandte ich eine Frage an Sie ab, wo Sie demnächst zu erreichen sein möchten. Da ich darauf keine Antwort erhalten, so nehme ich an, daß Sie entweder ‚hinten weit in der Türkei‘ oder anderswo weit sich befinden. Ich lasse daher hierneben mein Jüngstes einfach in Ihrem Hause (in Berlin) abgeben, selbiges dem Schutze Ihrer Penaten so lange empfehlend, bis Sie es selbst in Ihre freundliche Obhut und Fürsorge nehmen und mir dann zugleich sagen werden, ob ein Allerjüngstes wünschenswerth ist oder nicht?

Rosen auf Ihr Haupt! Das meinige ist sorgenschwer.
Fr. O.“ 

Er hatte mit seiner Vermuthung nicht Unrecht. Zur Zeit, als sein Billet und Buch in meiner Wohnung in Berlin abgegeben wurden, weilte ich zufällig in Vathy, der Hauptstadt der Insel Ithaka, der Heimath des göttlichen Dulders Odysseus. Ich brachte von da einen prachtvollen Wein mit, einen echt griechischen Muscato, den ich denn auch meinem Freunde Oetker vorführte; der alte Katten-Häuptling kostete ihn mit Geschmack und Verstand und meinte lächelnd:

„Doch ein dummer Kerl, dieser Odysseus, daß er sich an die zwanzig Jahre nutzlos in der Welt umhertrieb, während er zu Hause einen solchen Wein in seinem Keller hatte.“

Wenn Oetker damals schrieb, „sein Haupt sei sorgenschwer“, so hatte das seinen Grund darin, daß er glaubte, Bismarck sei im Begriff, gegen den Liberalismus eine feindselige Stellung einzunehmen und sich ganz den Russen in die Arme zu werfen. Letzteres war bekanntlich ein Irrthum.

Ich ermunterte Oetker sehr lebhaft, „ein Allerjüngstes“, das heißt einen zweiten Band „Erinnerungen“ folgen zu lassen (er sagte mir, er habe Stoff für vier Bände), denn der erste war prachtvoll, namentlich die Erzählung von „Elternhaus und Dorfschulzeit“. Der zweite ist 1878 erschienen.

Oetker ist eigentlich gar kein Katte, sonderm ein richtiger niedersächsischer Bauer. Er ist in Rehren (nicht Kehren, wie augenblicklich die Zeitungen, in geographisch-topographischer Unwissenheit mit einander wetteifernd, berichten) geboren, einem kleinen Dorf in der (jetzt zur preußischen Provinz Hessen-Nassau gehörenden) Grafschaft Schaumburg, an der Straße von Rinteln nach Rodenberg gelegen. Es ist ein Ländchen von großen landschaftlichen Reizen, eine Niederung, welche im Süden die Weserberge, in das schöne Weserthal steil abfallend, im Norden der „Bückeberg“ begrenzen - ein zwei Meilen langer Bergrücken, der hier das norddeutsche Flachland von dem Hügelgelände Mitteldeutschlands trennt. Zugleich hat hier die Kleinstaaterei seltsame territoriale Gestaltungen geschaffen, namentlich an der Grenze zwischen Hessen, jetzt Preußen, und Bückeburg, wo früher eine Art Gemeinschaft bestand, welche an den berüchtigten Communionharz erinnert. Hier existiren auch werthvolle Steinkohlen-Bergwerke. Der berühmte Obernkircher Sandstein - ein feinkörniger, fester, hellgrauer Stein, davon in Berlin die Siegessäule aufgebaut ist – wird hier gebrochen. Dieses Schaumburger Ländchen hat Oetker bis zum letzten Hauch in treuem Herzen getragen, und die braven Schaumburger wußten das und haben es ihm mit aufrichtiger Gegenliebe ehrlich vergolten. Wenn er sich dort sehen ließ, wurde er geehrt und gefeiert, und wenn dort gewählt wurde, wählte man Oetker, ohne daß von einer ernsthaften Gegencandidatur auch nur einmal die Rede gewesen wäre. Man wählte ihn nach Kassel in den hessischen Landtag, nach Berlin in das Abgeordnetenhaus, in den norddeutschen und in den deutschen Reichstag.

Ich lege großen Werth auf diese Herkunft Oetker’s. Er hatte die Zähigkeit, die Bauernklugheit und die Eisenköpfigkeit des Niedersachsen, und dies machte ihn zum Führer der streitbaren und tapferen Katten in den kurhessischen Verfassungskämpfen. Dies charakterisirt seine Stellung in Hessen.

Zugleich aber war er geboren auf der Grenze zwischen Ober- und Niederdeutschland, und dies kennzeichnet seine Stellung in der deutschen Politik. Er war der geborene Vermittler zwischen norddeutschen und süddeutschen Naturen und, trotz seines Heimathsgefühles, himmelweit entfernt von allem Particularismus.

Dieses sein schönes Schaumburger Ländchen hat Oetker reizend geschildert. Einmal in dem ersten Bande seiner „Erinnerungen“, dann aber in dem erst vor wenigen Wochen bei Gebrüder Paetel in Berlin erschienenen Buche „Aus dem norddeutschen Bauernleben“.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 175. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_175.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)