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verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Wer Oetker’s Heimath kennt, der wird nicht nur angeheimelt, sondern tief ergriffen werden von der Wahrheit dieser bäuerlichen Erzählungen. Man könnte das Buch auch „Fritz Oetker und die Seinen“ nennen, und dadurch gewinnt es heute einen doppelten Werth. Oetker’s Vater war dort ein kleiner Bauer und zugleich Besitzer einer kleinen Klappermühle, die von einem vom Bückeberg herabkommenden Bächlein gespeist wird. Dieser Müller und die Seinen sind die Helden der Oetker’schen „Schildereien“. Der „Müller“, das ist Oetker’s Vater; der „Berg“, den er und seine Familie (in der zweiten Erzählung) übersteigen, das ist der Bückeberg; der „Fritz“, das ist Oetker selbst; der „Christian“, das ist sein Bruder Karl. Sie sind herauszukennen, obgleich die Namen geändert oder unterdrückt sind. Es ist ein Buch voll Menschenkenntniß und Natursinn, voll Leben und Wahrheit.

Aber mit derselben Liebe, mit welcher er sich in das intime Leben seiner kleinen Heimath vertiefte, studirte er auch das germanische Leben im Auslande, so lange ihm die politische Verfolgung den Aufenthalt in Deutschland unmöglich machte. In Belgien trat er ein für die Vlamingen gegen die Fransquillons. Seine „Belgischen Studien“ (Stuttgart, 1876) enthalten Schilderungen ersten Ranges.

Sein Buch „Helgoland“ (Berlin, 1855) ist weitaus das Gediegenste unter den zahlreichen Publicationen über diese unter englischer Herrschaft stehende deutsche Insel. Es enthält die gründlichsten rechts- und culturhistorischen Studien, und die darin enthaltenen sprachwissenschaftlichen Forschungen wurden von Jacob Grimm des lebhaftesten Beifalls gewürdigt.

Noch kurz vor seinem Tode hat Oetker wiederholt in öffentlichen Blättern, englischen wie deutschen, das Wort ergriffen, um die Helgoländer gegen gewisse englische Experimente zu schützen.

Doch kehren wir zurück zu dem Anfange seiner öffentlichen Laufbahn! Er machte 1835 sein juristisches Staatsexamen, allein er mußte einige Zeit warten, bevor man ihn provisorisch zur Anwaltschaft zuließ. Erst das Jahr Achtundvierzig ließ ihn endgültig dazu gelangen. Gleichzeitig wurde Oetker Stadtrath in Kassel, Mitglied der Ständeversammlung und Begründer der „Neuen hessischen Zeitung“. In diesen Stellungen führte er unerschrocken den Kampf wider die kurfürstliche Mißregierung und die Hassenpflug’sche Willkür. Dieser Kampf gestaltete sich immer ernsthafter. Im Herbste 1850 wurde Oetker verhaftet, ohne Urtheil und Recht Wochen lang gefangen gehalten und dann von den „Strafbaiern“ über die Grenze getrieben. Aber selbst im „deutschen Auslande“ war er nicht sicher. Nach Göttingen, nach Braunschweig, nach Wangeroge folgte ihm die kurfürstliche Verfolgung. Er mußte nach dem englischen Helgoland flüchten, um sich vor den liebenswürdigen Zudringlichkeiten seines theuern Landesvaters zu retten. Auf diesem kleinen Eilande, welches statt der Wälder nur die berühmte „Kartoffelallee“ aufzuweisen hat, saß er drei lange Jahre, wie Iphigenie „das Land der Katten mit der Seele suchend“. Auch Krankheit hielt ihn da fest; erst im Herbste 1854 gelang es ihm, nach dem Festlande zurückzukehren. Er wohnte von 1854 bis 1859 in Brüssel und an anderen Orten von Belgien. Aber er mochte wohnen wo er wollte, nach allen Orten trug er den kurhessischen Boden an den Schuhsohlen mit sich: auch in der Fremde beherrschte die Sorge für die Verfassung und das Wohl seiner Heimath sein Dichten und Trachten. Auch von Helgoland, von Ostende, Brüssel, Brügge, Gent und Mecheln aus war er für die Schwachen eine Stütze, für die Rathlosen, für die Verzagten ein Tröster.

Kaum gestattete ihm die „neue Aera“ die Rückkehr, so erschien er 1859 wieder in Kassel. An der Stelle des früheren Blattes, das ebenfalls der kriegszuständlich-polizeilichen Willkür erlegen, gründete er die „Hessische Morgenzeitung“, in welcher er die sogenannten „Nachthessen“ unbarmherzig bekämpfte. Er, der kranke Verbannte, wurde die Seele und das Haupt der ganzen hessischen Verfassungspartei. Ohne ihn war der Kampf überhaupt nicht denkbar. Er führte ihn mit einer Sorgfalt, von der man in größeren Verhältnissen gar keinen Begriff hat. Er war Höchstcommandirender und Chef des Generalstabs in einer Person. Damit nicht genug, exercirte er die Wahlkörperschaften ein, und er drillte auch die Rekruten in dem Landtage, welcher sich mehr durch Standhaftigkeit als durch Intelligenz auszeichnete. Oetker formulirte die Anträge; er verfaßte gar Manches, das ein Anderer vortrug. Er setzte den Landtag in Scene und besang ihn dann in der Zeitung, Homer und Achilles in einer Person. Wider seine kranke Brust richteten sich alle Geschosse der Gegner, und diese Geschosse waren nicht immer sehr reinlich. Aber nicht einmal den Humor wußte ihm Alles das zu verderben. Er hat ihn bewahrt bis zur letzten Stunde seines Lebens.

Ich hatte ihm am 7. December 1880 geschrieben, um ihm meinen Beifall auszusprechen für seine prachtvollen niedersächsischen Bauerngeschichten, die soeben erschienen und von mir an einem einzigen Tage verschlungen worden waren. Auch hatte ich ihm eine Kritik der Geschichten „angedroht“. Da ich nicht wußte, wo er sich aufhielt, hatte ich den Brief an die Herren Gebrüder Paetel in Berlin, die Verleger des Buches, adressirt. Ich erhielt von Oetker wörtlich folgende, offenbar im Bette und unter Anstrengung, mit Blei geschriebene Antwort per Postkarte:

 NW Berlin, Augusta-Hospital, 8. December 1880.

Daß Euer Liebden mich den Berlinern gegenüber, die meine Bücher todt zu schweigen pflegen, rächen wollen, finde ich sehr edel. Wollen Sie dabei sagen, daß ich keine ‚Dorfgeschichten‘ im gewöhnlichen Sinne des Wortes geschrieben habe, sondern blanke, volle Wirklichkeit, wenn auch hier und da etwas umgruppirt, so habe ich nichts dagegen. Ich selbst kam nicht mehr dazu, es in der Vorrede zu sagen. Ein furchtbares Leiden kam mir auf den Hals, oder vielmehr in den rechten Arm, wovon ich noch nicht genesen bin – nach sechs Monaten! Wenn mich Jemand fragt, was es sei, so sage ich: ‚Neuralgia humero-brachialis obscura perplexa‘. Gewöhnlich giebt man sich dann mit einem ‚Ach so!‘ zufrieden, was mit einem deutschen Worte nicht zu erreichen steht.

Möge Ihr Schatten ein geringer werden!

Fr. O.“ 

Ich wollte also das treffliche Büchlein in einer Zeitschrift besprechen und darin alles Gute, was ich darüber auf dem Herzen habe (und wovon Obiges nur ein ganz kleiner Theil ist) vollständig sagen. Aber es kam mir allerlei Arbeit dazwischen.

Am 11. Januar (1881) erhielt ich eine zweite Postkarte von Oetker, die also lautete:

 „Hochmögende Liebden!

Im Stande der Unschuld lebend (d. i. entfernt von Menschen, Zeitschriften und Büchern), weiß ich nicht, ob Euere Liebden Bedrohung vom 7. December vorigen Jahres ausgeführt worden ist.

Wenn ja, so wollte ich mir einen Abdruck erbitten – in’s Augusta-Hospital zu Berlin NW, woselbst ich elendiglich, aber schönstens grüßend, verharre.

Fr. O.“ 

Ich machte mich nun an die Arbeit, war aber mit derselben noch nicht fertig, als ich am 18. Februar die Nachricht von seinem Tode erhielt.

Ach, dachte ich, ist doch das zu rascher Ausführung guter Entschließung mahnende englische Sprüchwort: „Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert“ so richtig. Mein Vorsatz, dem lieben, alten Freund mit einer öffentlichen Besprechung seines Buches eine so wohlverdiente Freude auf dem Krankenlager zu machen, ist durch mein Zögern vereitelt.

So will ich wenigstens dieses Blatt niederlegen auf dem Grabe des Tapfern.




Friedrich von Matthisson.

Zum fünfzigsten Gedenktage seines Todes.

Wie schnell das literarische Schönheitsideal einer Zeit sich wandelt, darüber belehren uns wohl nur wenige Beispiele so eindringlich, wie dasjenige des Dichters, dessen Andenken die deutsche Nation am 12. März d. J., dem fünfzigsten Erinnerungstage seines Todes, feiern könnte – wenn heute überhaupt noch eine Seele in Deutschland des Todten von Wörlitz gedächte. Der von Schiller mit so großer Wärme und einem reichen Aufwande von kunstphilosophischen Beweisführungen auf den literarischen Schild gehobene und trotz

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verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1881, Seite 176. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_176.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)