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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Man sollte glauben, daß die Geschichte einer nur wenige Jahrzehnte hinter uns liegenden, so anfallenden und alsbald auch allgemein bekannt gewordenen Erfindung, wie die Anästhesirung ist, von Anfang an über allem Zweifel stehen müßte. Und doch ist dem nicht so, sondern es schwankten lange Zeit die Angaben über ihren Urheber, wie wenn sie in dunklen Zeiten gemacht worden wäre. Es verhielt sich damit folgendermaßen.

Anfangs der vierziger Jahre wohnte – nach den erneuerten Forschungen Jules Rochard's – der amerikanische Zahnarzt Horace Wells aus Hartford, Connecticut, einer Vorlesung über Chemie bei, in der ein Zuhörer durch Einathmung von Lustgas vorübergehend bewußt- und empfindungslos gemacht worden war. Da kam ihm sofort der Gedanke, ob man das Mittel nicht beim Zahnausziehen nutzbar machen könnte? Gedacht, gethan! Nach Hause gekommen, athmete er das Gas ein und ließ sich während der Narkose einen Zahn ausnehmen. Und als er, ohne Schmerz empfunden zu haben, erwacht war, rief er, sofort die ganze Tragweite der Entdeckung erfassend, begeistert aus:

„Eine neue Aera in der Chirurgie! Ich habe bei der Operation nicht mehr, als bei einem Nadelstiche gefühlt.“

Das war im Jahre 1844. Auch mit Aethereinathmung stellte er 1845 Proben an, setzte aber die Wirkung derselben der des Stickstoffoxydulgases nach. Beide Versuche theilte er dann, ohne sich nur die Feststellung seiner Priorität zu kümmern, dem Bostoner Zahnarzt William Morton und dem Chemiker Charles Jackson daselbst mit. Diese nun eigneten sich Wells' Entdeckung an, verwandten aber ausschließlich Aether. Durch sie wurde die Methode bekannt, und sie ernteten deshalb den Ruhm jener das größte Aufsehen erregenden Erfindung, der betrogene Wells aber fühlte sich über dieses Mißgeschick dermaßen unglücklich , daß er sich am 21. Januar 1847 die Pulsadern öffnete und gleichzeitig Aether einathmete, also unter Zuhülfenahme seiner eigenen Entdeckung sich den Tod gab.

Doch auch die beiden Usurpatoren ereilte die Nemesis. Morton konnte trotz wiederholter, auch nach Paris deswegen unternommener Reisen nicht zur Anerkennung seiner Erfinderschaft gelangen und endete als ein Trunkenbold in New-York im Elend. Jackson aber, der das Mittel geschäftlich ausbeuten wollte, erreichte sein Ziel nicht, und ward in Folge des Fehlschlagens seiner Hoffnungen unheilbar wahnsinnig. Noch vor einigen Jahren vegetirte er in einer Irrenanstalt bei New-York.

Die erste größere Operation unter Aethernarkose – Wells leitete diese letztere – machte im August 1846 Dr. Mary in Boston. Im October folgten Operationen der Doctoren Warren, Hayward und Bigelow, und zwar handelte es sich bei diesen schon um langwierige Entfernung großer Geschwülste. Der Ruf der Entdeckung verbreitete sich sofort nach Europa; denn schon am 17. December operirten Boot und zwei Tage später der berühmte Chirurg Liston in London unter Zuhülfenahme der Aethernarkose. In Paris erklärten sich zu Gunsten der Narkotisirung die bedeutendsten Chirurgen, darunter selbst Velpeun, der noch 1838 in der Akademie eine Aufhebung des Schmerzes als ein Unding bezeichnet hatte. In Deutschland war es der Berliner Operateur Dieffenbach, welcher die Aetherisirung zuerst anwendete. Im Jahre 1848 aber setzte der 1870 verstorbene Edinburger Chirurg und Geburtshelfer Simpson das Chloroform an Stelle des Aethers. Er ward baronisirt und erhielt ein Standbild nach seinem Tode. Und Wells, der Erfinder der Methode? Jede schmerzlos vollzogene Operation bildet eine neue Ehrensäule seines Ruhms.

Mehr noch als der Schmerz ward von jeher der Blutverlust bei Operationen gefürchtet, und diesen Verlust zu mindern oder zu verhüten, bemühte sich das Erfindergenie der Chirurgen von Anbeginn. Aufstreuen von zusammenziehenden, „blutstillenden“ Pulvern, Umschnüren der Glieder, um die Adern zu verschließen, festes Verbinden der Wunden, Ueberfahren der blutenden Gefäße und Wundflächen mit glühendem Eisen, ja Schnittführung mit weißglühenden Messern, Zusammendrehen und Unterbindung der durchschnittenen Schlagadern, die schon den großen Aerzten und Chirurgen der römischen Kaiserzeit bekannt war, aber erst durch den königlichen Leibbarbier Ambroise Paré im sechzehnten Jahrhundert dauernd zur Geltung gebracht ward – das waren die Mittel, welche im Laufe der Zeiten zu dem genannten Zwecke benutzt wurden. Besonders das letztgenannte Verfahren erfüllte diesen auch in hohem Grade. Aber trotzdem ging noch, selbst bei größter Gewandtheit und sicherstem anatomischem Wissen des Chirurgen, während vieler, besonders während langwieriger Operationen mehr Blut verloren, als der Zustand des Kranken und das Kräftebedürfniß bei der nachfolgenden Heilung wünschenswert erscheinen ließen.

Da überraschte im Jahre 1873 der berühmte Kieler Chirurg Friedrich Esmarch die ärztliche Welt mit einem wahren Ei des Columbus, mit der Methode der sogenannten Blutsparung. Seitdem werden die Operationen nicht mehr blos schmerzlos, sondern auch eine große Zahl der früher blutigsten Eingriffe fast ohne jeden Blutverlust ausgeführt. Auch haben seitdem, was fast wichtiger ist, eine größere Anzahl Aerzte, die vorher aus Mangel an Herrschaft über die Blutung dies nicht vermochten, sich an schwere Operationen gewagt, die sonst als eine Art Monopol der bedeutenden Chirurgen galten.

Bei Operationen geht nicht allein aus den verhältnißmäßig wenigen großen und größeren Adern, welche durchschnitten werden. sondern auch aus unzähligen kleineren und kleinsten im Fleisch und den anderen Geweben bekanntlich viel Blut verloren. Außerdem enthält der durch das Messer des Chirurgen zu entfernende Theil eine größere oder geringere Blutmenge. Beide Verluste nun verhütet das Esmarch'sche Verfahren. Nehmen wir ein Beispiel zur Erläuterung!

Es soll ein Arm nahe der Schulter entfernt werden. Um den unterhalb der Operationsstelle in diesem enthaltenen Blutantheil zu „sparen“, umwickelt man, an den Fingern beginnend und bis über den Ort, wo das Glied abgesetzt wird, hinaus fortfahrend, dieses mit einer starken Gummibinde. Durch letztere wird alles in dem Arme befindliche Blut in den Körper zurückgedrängt; der erstere wird blutleer gemacht. Darnach umschnürt man mit einem starken Kautschukschlauche die Schulter und befestigt die Enden dieses an einander. Ist dies geschehen, so nimmt man die Binde wieder ab. Wird nun dicht unterhalb des Schlauches das Fleisch durchschnitten und der Knochen dann abgesägt, so kann vom Körper her, weil jener die Adern durch Druck verschlossen hält, kein Blut mehr ausfließen und die Operation kann auf diese Weise ohne jeden Blutverlust vor sich gehen. In dem entfernten Arm aber ist nur ein Minimum von Blut enthalten.

Der Nutzen dieser Blutsparung springt sofort in die Augen. wird doch mit jedem „gesparten“ Tropfen Blutes eine Summe von Lebenskraft erhalten, die der Heilung sicher zugute kommt. Das Verfahren aber ist, wie ersichtlich, so einfach, daß man sich wahrhaft wundert, daß es nicht schon längst erfunden worden; gerade das Einfache jedoch muß vom Blicke des Genius erfaßt werden, wenn es nutzbar werden soll – das ist eine alte Erfahrung. Dazu bedarf das Genie aber noch des Untergrundes einer Zeit, die ihm die besonderen Hülfsmittel – im vorliegenden Falle das Kautschuk – zur Verfügung stellt.

Die dritte Gefahr, welche durch operative Eingriffe erwächst, ist die Vergiftung der gesammten Säftemasse von der Wunde her in Folge von Zersetzung ihrer Absonderungen. Diese Gefahr war von jeher, besonders in Spitälern, noch größer, als die durch Schmerz und Blutung hervorgerufene. Und auch sie ward, ganz neuerdings wenigstens, bis zu einem früher ungeahnten Grade bezwungen.

Ungefähr um dieselbe Zeit nämlich, als Esmarch seine glänzende Entdeckung bekannt machte, wurde durch den englischen Chirurgen Joseph Lister eine neue Methode der Wundbehandlung, die sogenannte antiseptische, das heißt fäulniß- oder zersetzungverhütende, veröffentlicht, die seitdem zwar in der jeweiligen Ausführung, nicht aber ihrem Wesen nach mehrfach verändert wurde. Das letztere besteht darin, daß sie die Wunden gegen die zersetzende Einwirkung der Luft schützt, das heißt die in derselben vorhandenen zersetzenden Substanzen, als welche man heute die Keime niederer mikroskopischer Pilze betrachtet, von denselben fern hält und tödtet. Dieser Zweck wird folgendermaßen erreicht.

Nachdem vor Beginn der Operation nicht allein alle Instrumente, Schwämme etc., sondern auch die Umgebung der zu operirenden Stelle und die Hände des Operateurs, wie die seiner Gehülfen, sorgfältig durch Abwaschung mittelst einer starken Lösung von Carbolsäure in Wasser gereinigt worden sind, wird die Operation selbst, von Anfang bis zu Ende, unter beständiger Besprengung der Wundfläche (durch den sogenannten Spray-Apparat) mittelst zu Nebel zerstäubten Carbolsäurewassers ausgeführt. Die Fäden zur Unterbindung der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 192. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_192.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)