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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

No. 14.   1881.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Bruderpflicht.
Erzählung von Levin Schücking.


1.

Durch die vom Bahnhof führende staubige Akazien-Allee kamen zwei Männer dahergeschritten. Ein barfüßiger Junge lief vor ihnen her; er trug einen großen, schweren, aber sehr abgeschabt aussehenden Reisesack in der Hand, welcher vermuthlich dem wettergebräunten älteren Manne gehörte, der, einen breitrandigen Filz auf der grauen Löwenmähne, in dunkelcarrirtem Anzuge auf seinen schweren Sohlen so wuchtig zuschritt, als ob er dem hartgetretenen Boden seine Fußstapfen einprägen wolle, wie der Herr, als er dem fliehenden Petrus begegnete, oder auch als ob er mit dem Bewußtsein Fiesco’s: „die Blinden in Genua kennen meinen Schritt“ seinen Einzug halte in die vor ihm liegende deutsche Residenz, die freilich kein Genua war, nicht einmal eine große Seestadt, sondern nur eine hübsche moderne Landeshauptstadt, recht mitten in einem waldreichen Hügellande gelegen.

Der jüngere Mann, der jedoch auch schon den Vierzigern nicht mehr ganz fern stehen mochte, war das gerade Widerspiel des älteren; er war sehr elegant gekleidet, hatte ein feines, ovales Gesicht mit einer stark ausgebildeten Stirn über lebhaft glänzenden, blaugrauen Augen, eine hohe, schlanke und doch männlich feste Gestalt und etwas Aristokratisches in seiner Haltung, wenn auch nicht in den Zügen, welche die Spuren eines ernsten und angestrengten Gedankenlebens trugen. Vielleicht jetzt gerade mochte dieser Ausdruck besonders lebhaft hervortreten; denn es ließ sich nicht verkennen, daß er in großer Erregung war; er sprach, er bewegte sich lebhafter, als es zu der aristokratischen Erscheinung paßte; er legte sogar von Zeit zu Zeit seine Hand im hellen Glacéhandschuh auf den staubigen Arm des Begleiters.

Ein älterer Officier, auch dem Abzeichen an der Uniform ein General, kam ihnen entgegen – mit einem Lächeln, einem freundlichen Kopfnicken reichte er dem jüngeren Manne die Hand.

„Sie kommen doch pünktlich heut – um vier? Ohne auf sich warten zu lassen?“ fragte er.

„Gewiß, ich werde pünktlich bei Ihnen sein, Excellenz.“

„Na,“ bemerkte unwillig der ältere Herr, als der General weiter geschritten, „ich muß gestehen, diese Species von verthierter Soldatesca geht gewaltig formlos mit Dir um, Aurel; ich würde mir eine solche Herablassung von Leuten seiner Art nicht gefallen lassen. Er bestellt Dich pünktlich – um vier Uhr – just wie man seinen Raseur bestellt! Nun, Du bist auch“ – der Alte lachte jetzt laut auf – „wohl etwas wie sein Raseur, führst einen Proceß für ihn und barbierst ihn dabei nach Advocatenmanier über den Löffel?“

„Das weniger, lieber Vater,“ entgegnete Aurel, „ich bin nicht sein Advocat, sondern gehöre einer kleinen Gesellschaft an, die sich wöchentlich einmal bei dem guten alten Herrn versammelt.“

„Du? Bei einem General? Ich bitte Dich! Wie kommt Saul unter die Propheten?“

„Unter die Propheten geräth man auch wohl als Weltkind und bleibt trotzdem, was man ist.“

„Hoffentlich – doch läßt man die Propheten nachher laufen. Uebrigens sehe ich hier links den Eingang zu einem höchst einladenden Biergarten; ich habe einen cannibalischen Durst und ich muß den Staub der Eisenbahn ein wenig hinunterspülen, ehe wir weiter gehen; also fallen wir ein – hinein in’s Vergnügen!“

„Du in diesen Biergarten, Vater?“ fragte erschrockenen Tones der Sohn – aber wenn in diesem Ton ein Protest gelegen hatte, so kam er damit zu spät: sein Begleiter war mit einer raschen Wendung schon jenseits des grünangestrichenen Gitterportales und schritt auf dem weichen Kies, der zwischen den rechts und links angebrachten Bänken auf die Holzveranda des Hauses zuführte. Seine Erscheinung mußte auf die einzelnen Gruppen der trinkenden und Cigarren rauchenden Gäste eigenthümlich imponirend wirken; denn wohin unter dem breiten Filz hervor seine allerdings sehr herrisch um sich schauenden Blicke fielen, da verschwanden wie durch einen Zauber die Cigarren; die Leute schnellten von ihren Sitzen empor und grüßten respectvoll.

„Da schau,“ sagte der alte Herr, „da schau einer die Bedientenhaftigkeit hier im alten Lande an! Wie ehrfürchtig das thut! Sie halten mich für einen geheimen Kanzleirath, oder gar für einen Hofrath, glaub’ ich.“

„Schwerlich, bester Papa,“ entgegnete sein Sohn. „Du mußt gestehen, daß Du nicht aussiehst, als ob Du zum ‚Tschin‘ gehörtest.“

„Aber es ist doch nicht möglich, daß sie mich wiedererkennen und den alten Kämpfer von 1848 an mir ehren wollen? Oder hast Du vielleicht dafür gesorgt, daß Eure Blätter meine Rückkehr angekündigt haben?“

„Keineswegs – ich setzte durchaus nicht voraus, daß das Dir angenehm sein würde.“

„Angenehm? Nun, weshalb nicht? Laß die Blätter immerhin reden - je mehr, desto besser! – Unsereins ist das gewohnt – kann auch Dir und Deiner Praxis, calculire ich, nicht schaden, wenn da gedruckt zu lesen ist, etwa: ‚Unser früherer Mitbürger, der Veterinärarzt Doctor Lanken, ist nach fünfundzwanzigjähriger Abwesenheit in sein Vaterland zurückgekehrt; der bewährte Vorkämpfer

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 221. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_221.jpg&oldid=- (Version vom 25.1.2021)