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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Boden in den Gemüthern in Nord und Süd, in allen Confessionen, in allen Ständen, bei Reich und Arm. Das humane Werk erstand, und mit ihm vollzog sich eine Einigung unseres Volkes auf ethischem Gebiete, wie sie würdiger der so lange und heiß ersehnten politischen Einigung nicht vorangehen konnte.

Am 29. Mai 1865 wurde in Kiel „Die deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“ gegründet. Nahe an hundert patriotische Männer aus den verschiedenen Landestheilen waren dort zusammengetreten, um über die geeigneten Mittel zu berathen, wie auf wirksame Weise den Unglücklichen Hülfe gebracht werden könne, deren Schiffe durch Sturm und Wogendrang an die deutschen Küsten geschleudert wurden und die ohne solche Hülfsmittel einen sichern und meistens qualvollen Tod in den Fluthen finden mußten. Alle jene Männer waren von dem Gefühle beseelt, daß das bisherige Fehlen solcher Hülfsmittel in schreiendem Gegensatze zu der gerühmten deutschen Civilisation stehe, und daß eine unentschuldbare und schwerwiegende Versäumniß der Nation gut zu machen sei, wollte diese sich nicht dem berechtigten Vorwürfe der Herzlosigkeit aussetzen.

England hatte schon seit Ende des vorigen Jahrhunderts sich von einem solchen Vorwürfe freizumachen gesucht. Es ging in dieser Richtung allen übrigen Nationen mit gutem Beispiele voran. Bereits 1790 wurde dort das erste Rettungsboot gebaut, und sein Erfinder, Lukin, setzte sich damit im Herzen der Menschenfreunde für alle Zeiten ein ehrendes Denkmal. Auch bildeten sich dort freie Vereine zur Rettung Schiffbrüchiger, und wenn dieselben bezüglich ihrer Wirksamkeit bis zum Jahre 1850 wechselnde Phasen durchzumachen hatten und nicht immer die nöthige Unterstützung fanden, so wurden durch sie dennoch 25,000 Menschen vor sicherem Tode bewahrt. Da vollzog sich in jenem Jahre unter der Aegide des Herzogs von Northumberland eine durchgreifende Reorganisation dieser Vereine; sie vereinigten sich zu einem alle britischen Küsten umfassenden Ganzen, das den Namen „Royal National Lifeboat Institution“, annahm, und seitdem von den wärmsten und thatkräftigsten Sympathien des englischen Volkes getragen wird.

Heute verfügt der Verein über mehr als dreihundert Rettungsstationen; ihre muthvollen Leistungen haben seinen Ruhm aller Welt verkündet, und seit den dreißig Jahren seines Bestehens danken ihm ebenso viele Tausende Schiffbrüchiger das Leben. Langsam folgten die übrigen Staaten dem Beispiele, Deutschland so beschämend dieses Eingeständnis; ist – zuletzt.

Zwar beschaffte Preußen seit 1850 für seine Küsten einige Stationen, aber nur in geringer Zahl, und es ist nicht bekannt geworden, daß sie irgend welche Erfolge gehabt haben. So befremdend dies klingen mag, ist es doch nur in der menschlichen Natur begründet: Menschenliebe läßt sich von Seiten des Staates nicht befehlen. Wo es sich darum handelt, Andere mit Einsatz des eigenen Lebens zu retten, vermögen äußerliche vom Staate durch Anstellung und Gehalt auferlegte Pflichten nicht das leitende Motiv zu werden, und solche Pflichten werden dann stets nur in den geringst zulässigen Grenzen erfüllt. Soll dies in vollem Maße geschehen, so müssen innere Impulse dazu anspornen, Nächstenliebe und selbstlose Aufopferungsfähigkeit – diese aber kann nicht gleißendes Gold, sondern nur der Gemeinsinn und die Unterstützung der öffentlichen Meinung wecken und wach halten, wenn das gesammte Volk an dem Rettungswesen thätigen Antheil nimmt, wenn es die erforderlichen Mittel zur Aufstellung und Erhaltung der besten Apparate an den gefährlichen Küstenpunkten beschafft und wenn es die Thaten der Rettungsmannschaften nicht nur mit Geld belohnt, sondern ihnen auf geeignete Weise ein dauerndes und ehrendes Andenken im Herzen der Nation sichert. Dadurch nur und durch das Bewußtsein, im Auftrage und im Namen des ganzen Deutschlands zu handeln, werden auch die Strandbewohner bewogen werden, den Schiffbrüchigen aus eigenem Antriebe zu Hülfe zu kommen und den damit verbundenen Gefahren kühn und muthig entgegen zu treten.

Von dieser Ueberzeugung durchdrungen, sagten sich die hundert Männer in Kiel, daß das zu gründende Werk, wenn es die daran geknüpften Hoffnungen erfüllen solle, ein nationales, unsere gesammten Küsten umfassendes werden müsse, ein Werk, an dessen Aufrichtung und Unterhaltung das ganze deutsche Volk Theil zu nehmen habe.

In diesem Sinne hielten jene einmüthig zusammen, und auf dem wiedergewonnenen deutschen Boden Schleswigs gewannen wir hierdurch ein neues Pfand für unsere nationale Einigung. Es wurde dort eine edle deutsche Geistesthat geboren, die dem gemeinsamen Vaterlande Ehre gebracht hat und ihm fortan hoffentlich immer mehr zur Ehre und zum Rühme gereichen wird.

Die schon früher in den Jahren 1861 bis 1864 aus der Initiative einzelner Küstenstädte hervorgegangenen Einzelvereine gaben im Interesse der guten Sache ihre bisherige Selbstständigkeit auf und ordneten sich dem großen Ganzen unter. In ihrer Zahl befand sich auch der Emdener Verein, welcher dank der energischen Leitung des um das deutsche Seerettungswesen hochverdienten Steuerraths Breusing sich besonders ausgezeichnet und in drei Jahren an den Küsten der friesischen Inseln 87 Menschen gerettet hatte.

Die heroischen Thaten jener friesischen Rettungsboote hatten bewiesen, daß den Bestrebungen der neugegründeten „Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“ die nothwendige Grundlage für ein gedeihliches Wirken nicht mehr fehlte; sie waren ein redender Beweis dafür, daß in den Gemüthern der deutschen Küstenbewohner sich in den letzten drei Jahrzehnten eine Wandelung vollzogen hatte, ohne welche jedes Opfer binnenländischer Menschenfreunde vergeblich gewesen wäre.

Jene Thaten hatten gezeigt, daß der finstere Geist mittelalterlicher Barbarei, der noch so traurig lange auf unserer Strandbevölkerung gelastet, endlich gewichen sei. Wenn noch im Jahre 1827 König Friedrich Wilhelm der Dritte auf der Insel Rügen das Kirchengebet untersagen mußte, welches die grausame Bitte um einen gesegneten Strand einschloß, so war seitdem ein heller Strahl in das Dunkel der Herzen gefallen und hatte die Küstenbewohner mit edlen Gefühlen beseelt, sodaß sie in den Strandungen nicht mehr eine willkommene Beute, sondern ein furchtbares Unglück, und in den Schiffbrüchigen nur noch um Mitleid flehende Mitmenschen erblickten, denen Hülfe gebracht werden müsse.

Das erste glänzende Resultat dieser glücklichen Wandelung war die Rettung jener siebenundachtzig Menschen auf den friesischen Inseln gewesen. Gar oft waren die Bootsfahrten der Küstenretter mit grausiger Gefahr verbunden; gar oft drohte die kochende Brandung ihr winziges Fahrzeug zu verschlingen, aber unentwegt, voll kühnen Muthes und Gottvertrauens gehorchten sie der inneren Stimme ihres Herzens und fuhren hinaus durch Sturm und Nacht, um ihren Brüdern zu helfen, denen aus dem nassen Grabe zu ihren Füßen der Tod entgegengrinste.

Auf solcher Grundlage fußend, durfte die „Deutsche Gesellschaft“ mit Zuversicht freudigen Erfolgen ihres humanen Strebens entgegensehen, und sie sind nicht ausgeblieben.

Werfen wir einen Blick auf die materiellen Leistungen der Gesellschaft in den fünfzehn Jahren ihres Bestehens, so zeigt uns dieselbe nur Erfreuliches. Es wurden in dieser Zeit von Memel bis Emden neunundachtzig Rettungsstationen errichtet, unter ihnen dreißig Doppelstationen, die mit Rettungsboot und Raketenapparat ausgerüstet sind; ferner neununddreißig Boots-, eine Mörser- und neunzehn Raketenstationen. An der Nordsee befinden sich von den Rettungsstationen zwei, von den Bootsstationen zweiunddreißig, von den Raketenstationen drei; die übrigen sind an der Ostseeküste vertheilt. –

Die Kosten der Errichtung und Unterhaltung dieser Stationen, werden lediglich aus freiwilligen Beiträgen bestritten, welche die ordentlichen oder außerordentlichen Mitglieder der Gesellschaft jährlich oder einmalig beisteuern. Ordentliche Mitglieder sind solche, welche sich zu einem fortlaufenden jährlichen Beitrage, dessen Minimalsatz 1,50 Mark ist, verpflichten, außerordentliche Mitglieder oder Stifter solche, welche dem Verein eine einmalige Gabe von mindestens 75 Mark zuwenden. Die Gesellschaft begann ihre Thätigkeit 1865 mit rund 3900 ordentlichen Mitgliedern; bis zum 1. Januar 1881 hatte sich diese Zahl auf 34,300 mit jährlich rund 112,000 Mark Beiträgen erhöht, während 1364 außerordentliche Mitglieder einmalige Schenkungen in der Höhe von zusammen 425,000 Mark gemacht hatten. Die Gesammteinnahme seit der Begründung betrug 2,000,000, die Ausgabe 1.600,000 Mark, von denen 650,000 auf die Errichtung und 500,000 Mark auf die Unterhaltung der Stationen verwendet, während nahe an 400,000 Mark einem Reservefonds zugeführt worden sind, welchen die Gesellschaft möglichst zu vergrößern bestrebt ist, um die erfolgreiche Thätigkeit ihrer Anstalten gegen alle Schicksale sicher zu stellen.

Die Organisation des Vereins ist eine sehr einfache. Sein Sitz ist Bremen und sein Vorsitzender der dortige Großkaufmann

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 231. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_231.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)