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verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

allmähliche Hinüberführung der Leibeigenen in einen Zustand völliger Freiheit angebahnt ward, sind folgende:

Die bisherigen Leibeigenen erhalten zunächst von ihren Gutsherren gegen bestimmte Leistungen ihr Gehöftareal und ein Stück Landes zur festen Nutznießung. In diesem Stadium heißen sie „zeitweilig verpflichtete Bauern“. Sie erhalten das Recht, ihr Gehöftareal abzulösen (das heißt zu freiem Eigenthum zu erwerben): mit Einwilligung des Gutsherrn können sie sodann auch die zum Nießbrauch ihnen überlassenen Ländereien ihm abkaufen. Dadurch werden sie aller Verpflichtungen gegen den Gutsherrn ledig und treten endgültig in den Stand der „freien bäuerlichen Grundbesitzer“ über. Wegen derjenigen Leibeigenen, die bisher nicht das Land bebauten, sondern als Hofgesinde dienten oder anderwärts arbeiteten, sind besondere Bestimmungen getroffen, welche aber auch darauf hinauslaufen, alle diese Personen in den Stand der persönlichen Freiheit, des freien Selbstbestimmens über ihre Thätigkeit und der Erwerbung festen Eigenthums hinüberzuführen.

Für die Regelung der Verhältnisse zwischen Gutsherrn und Bauern während dieser Zeit des Ueberganges traf das Gesetz ebenfalls Fürsorge. Die Bauern wurden in Gemeinden vereinigt (ähnlich wie die Kronbauern); diese Gemeinden sollten vor der Hand unter der Leitung des bisherigen Gutsherrn stehen; es sollten Flurbücher angelegt werden, um die Uebertragung von Grund und Boden an die Bauern genau zu controliren; auch wurden besondere Beamte – Friedensrichter oder Friedensvermittler (aus den angesehensten Grundeigenthümern jedes Gouvernements) – zur Schlichtung von Streitigkeiten zwischen Gutsherren und Bauern bestellt; es wurden gemeinschaftliche Sessionen der Friedensrichter eines Kreises angeordnet und endlich als oberste Instanz in solchen Angelegenheiten besondere Gouvernementsbehörden in Bauernsachen bestellt. Nach Feststellung dieser Maßregeln sagt das Manifest:

„Sie (die Leibeigenen) werden einsehen, daß, indem sie eine festere Grundlage des Eigenthums und eine größere Freiheit, über ihr Hauswesen zu disponiren, erlangen, sie dadurch vor der Gesellschaft und vor sich selbst verpflichtet werden, die Wohlthat des neuen Gesetzes durch treuen, wohlgesinnten und thätigen Gebrauch der ihnen verliehenen Rechte zu vervollständigen. Das wohlthätigste Gesetz kann die Menschen nicht glücklich machen, wenn sie sich nicht selbst bemühen, ihre Wohlfahrt unter dem Schutze des Gesetzes zu begründen. Wohlstand wird nicht anders erworben und gewahrt, als durch unablässige Arbeit, vernünftigen Gebrauch der Kräfte und Mittel, strenge Sparsamkeit und überhaupt durch ein rechtschaffenes Leben.“

Die Wirkungen dieser Gesetzgebung, die eine so ungeheure Umgestaltung in den socialen und wirthschaftlichen Verhältnissen Rußlands hervorbrachte, sind – so weit bestimmte Nachrichten vorliegen – überwiegend günstige insofern gewesen, als die früheren Leibeigenen oder doch ein großer Theil derselben durch Fleiß und Sparsamkeit sich der ihnen gebotenen Freiheit fähig und würdig gezeigt haben. Schon vier Jahre nach dem Erlaß der Gesetze über die Leibeigenschaft – 1865 – hatte etwa die Hälfte der „zeitweilig verpflichteten Bauern“ sich in „freie Grundbesitzer“ verwandelt, das heißt, sie hatte ihren früheren Gutsherren den nach dem Gesetz ihnen zum Nießbrauch überlassenen Grund und Boden abgekauft. Die Regierung hatte sie dabei durch Geldvorschüsse unterstützt. Ausnahmen von dieser vernünftigen Haltung der ehemals Leibeigenen sind sicher vorgekommen, aber im Großen und Ganzen kann nach dem Zeugniß eines genauen Beobachters dieser Vorgänge, des Baron von Haxthausen (in seinem Buche „Die ländliche Verfassung Rußlands“. Leipzig, F. A. Brockhaus. 1866) das kühne Experiment Alexander’s des Zweiten, was die Befreiung der Bauern betrifft, als gelungen angesehen werden.

Wie aber steht es mit den Wirkungen der fraglichen Gesetzgebung nach Seiten der bisher Privilegirten? Daß der Adel durch die Aufhebung der Leibeigenschaft empfindliche Verluste erlitt, ist unbestreitbar, weniger noch eigentlich ökonomische (denn er konnte, wenn er nur wollte, mit dem Gelde, welches er von seinen bisherigen Leibeigenen für Abtretung von Land erhielt, den Grundstock seines Gutes verbessern und so dessen Ertrag steigern), als politische und sociale. Er hörte auf, der Gebieter von Millionen Untergebener zu sein, die ihm sclavisch gehuldigt hatten.

Wenn der Adel sein wahres Interesse verstand, so mußte er nach dieser ungeheuren Umwälzung aller wirthschaftlichen und socialen Verhältnisse neue Ziele verfolgen: er mußte durch eine der neuen Lage angepaßte Bewirthschaftung seiner Güter den Nachtheil, den er nach der einen Seite erlitt, in einen Vortheil nach der andern verwandeln, und für die verlorene Macht und Autorität als Zwingherr einer Anzahl von „Seelen“ durfte er auch einen Ersatz finden in der Erlangung einer der heutigen Zeit besser entsprechenden, gesetzlich autoritativen Stellung unter Freien. Er mußte der bisher unter dem russischen Adel nur allzuverbreiteten Sitte der Abwesenheit von seinen Gütern, des kostspieligen Lebens in den Reichshauptstädten oder im Auslande entsagen, sich auf seine Güter zurückziehen und ihrer Bewirthschaftung seine persönliche Sorgfalt widmen. Er mußte eine ähnliche sociale und politische Stellung zu gewinnen suchen, wie sie der Grundbesitzadel in England, die sogenannte gentry, zum Theil auch in Deutschland hat. Dazu war freilich erforderlich, daß die Regierung ein solches Streben förderte und ermunterte, indem sie dem Adel Gelegenheit bot, inmitten seiner natürlichen Umgebungen auf dem Lande amtliche Functionen auszuüben und so, neben dem ganz hierarchisch gegliederten Beamtenthum, eine Classe von Organen der Selbstregierung zu bilden, die zwar vom Kaiser ernannt, aber in der Ausübung ihrer Aemter möglichst unabhängig, auf die eigene Verantwortlichkeit und das Vertrauen ihrer Amtsuntergebenen gestellt wären. Die Einsetzung von Friedensrichtern aus der Mitte des Grundbesitzadels war dazu ein erster und, wie es scheint, wohlgelungener Schritt. Ob die Regierung Kaiser Alexander’s des Zweiten diesen Weg weiter verfolgt hat, oder nicht, und mit welchem Erfolge oder Mißerfolge, ist uns nicht bekannt. Eine durchgreifende Aenderung des ganzen Verwaltungssystems nach dieser Seite hin hat jedenfalls leider nicht stattgefunden.

Es scheint aber auch, daß der Adel selbst in seiner Mehrzahl dazu wenig Lust gezeigt hat. Nach wie vor mag er überwiegend an seiner früheren Lebensgewohnheit festgehalten, den Aufenthalt auf seinen Gütern verschmäht und entweder den Grand Seigneur in Petersburg oder Paris gespielt, oder, wenn ihm dazu die Mittel fehlten, in dem großen Heer der Civil- und Militärbeamten des Reichs ein Unterkommen gesucht haben. Daß bei solcher Lebensweise und Denkart der Verlust der Leibeigenen, die oft für ihn eine Quelle der Bereicherung waren, eine fühlbare Lücke in seinen Finanzen geschaffen und daß die sociale Degradirung vom gebietenden Gutsherrn zum einfachen Besitzer eines Grundstücks einen Stachel der Erbitterung in seiner Brust zurückgelassen hat, begreift sich. Es darf daher nicht Wunder nehmen, wenn neben manchen anderen in den Sitten des Volkes und den staatlichen Einrichtungen Rußlands liegenden Ursachen auch die von der Aufhebung der Leibeigenschaft her in einem Theile des Adels zurückgebliebene Verbitterung dem nihilistischen Treiben so manche geheime Anhänger zugeführt hat. Jedenfalls scheint uns das Wohl glaubhaft, was nach der furchtbaren Katastrophe vom 13. März ein Petersburger Correspondent (anscheinend aus den höheren Gesellschaftskreisen) einem angesehenen Berliner Blatte schrieb: „Die socialen Folgen der Emancipation der Leibeigenen haben sich gegen Alexander den Zweiten gekehrt. Eine Menge catilinarischer Existenzen führen ihren Zusammenbruch auf jene Maßregel zurück. Drohnen, die früher von den Arbeitsbienen, den Leibeigenen, zehrten, haben nun angefangen, ihren Stachel zu gebrauchen.

Wir machten auf die bedeutsame Gleichzeitigkeit der Aufhebung der Leibeigenschaft in Rußland und der Abschaffung der Sclaverei in den Vereinigten Staaten aufmerksam. Beide weltgeschichtliche Ereignisse sollten auch ein, wenn nicht gleichzeitiges, doch gleichartiges hochtragisches Nachspiel haben. Der edle Präsident Lincoln, dessen zäher Beharrlichkeit die siegreiche Bekämpfung der Secession und der mit ihr verschwisterten Sclavereiwirthschaft wesentlich zu danken war, ward von einem Meuchelmörder, Booth, erschossen, den man für ein Werkzeug südländischer Sclavenbarone hielt. Wer die intellectuellen Urheber des an dem „Czar-Befreier“ verübten Mordes sind, ist noch nicht ermittelt, wird vielleicht auch nicht ermittelt werden, daß aber die letzten Wurzeln der nihilistischen Gesinnungen, deren giftiger Auswuchs dieses abscheuliche Verbrechen war, theilweise auch in ähnliche Gesellschaftsregionen hineinreichen, darin dürfte jener Kenner russischer Zustände, den wir soeben citirten, wohl nicht Unrecht haben.



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verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1881, Seite 238. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_238.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)