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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

No. 15.   1881.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Bruderpflicht.
Erzählung von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)


Sogleich wurde der jenseits im Schlosse steckende Schlüssel gedreht; Lanken schob das Sopha ein wenig bei Seite; die Thür öffnete sich, und eine schlanke junge Dame trat herein, mit feinen rosigen Zügen, blondem Haar und in schwarzer einfacher, aber völlig modischer Tracht – eine echt englische Schönheit. Eine romantisch angelegte deutsche Jünglingsseele hätte dieses reizende, ein wenig melancholisch aussehende Frauenbild nicht erblicken können, ohne eine starke Neigung zu empfinden, ihr eine Reihe Sonette zu widmen, die ihr unausbleiblich zarte, goldumsäumte Engelschwingen an die fein gerundeten Schultern gesetzt hätten.

Die Schwingen wären ihr freilich in diesem Augenblick ganz überflüssig gewesen; denn auch ohne diese flog sie mit hochgeröthetem Gesicht dem alten Thierarzt an die Brust und drückte einen herzhaften Kuß auf seine bärtige Wange.

„O theurer Papa,“ sagte sie, in Thränen ausbrechend, „wie gut, daß Du da bist – wie gut!“

„Ja, da bin ich, Du arme Grasmücke, armer kleiner Vogel,“ versetzte er, seine gewöhnlich sehr laute Stimme dämpfend, „da bin ich glücklich angekommen in meinem alten Nest – verdammt ruppiges Nest das – oder meinst Du, es sei just das richtige für einen alten Markolf, wie ich bin? Nun, setz’ Dich her zu mir! Erzähle mir, wie’s Dir ergangen ist, und erkläre mir, was all Deine geheimnißvolle, unverständliche Schreiberei bedeutet!“

„O Papa,“ sagte die junge Dame, sich neben ihn auf das kleine Sopha, auf das er sie niederzog, setzend und ihre Hand in der seinen lassend, „o Papa, wie anders habe ich Alles gefunden, als ich es erwartete!“

Der Alte lachte bitter auf.

„Wahrhaftig,“ sagte er, „mir ist’s nicht besser gegangen. Hab’ auch etwas gründlich anders gefunden, als ich erwartete. Der dumme Junge, der Aurel, ist nun Minister geworden. Minister! Es ist, um des Teufels zu werden! Mein Junge, mein Fleisch und Blut – Minister!“

„Das ist’s ja eben, Papa,“ sagte die junge Dame. „Und nun war ja alle meine Hoffnung, durch ihn etwas zu erreichen, geschwunden; er ist nicht blos Minister und die rechte Hand des Fürsten – dann hätte ich ja eine noch viel bessere Stütze an ihm gefunden, als an dem bloßen Advocaten – es ist noch viel schlimmer – noch viel, viel schlimmer.“

„Na, bin begierig zu hören, wie’s noch schlimmer sein kann.“

„Er geht ein und aus bei den Gollheim’s, und die Leute sagen, er sei verlobt mit der Comtesse Regine Gollheim, der jüngeren Schwester Ludwig’s –“

„Ach, das fehlte noch – verlobt mit der Schwester dieses vermaledeiten Schufts, der –!“

Die junge Dame hielt ihren Papa die Hand auf den Mund.

„Du sollst so nicht von ihm sprechen, Papa,“ sagte sie.

„Wie soll ich anders von ihm sprechen,“ versetzte er, zornig ihre Hand niederdrückend, „ein Schuft ist und bleibt er – und nun erzähle weiter!“

„Du weißt nun Alles – mein Bruder, an dem ich die beste Stütze zu haben hoffte, ist der beste Freund dieser Leute, und dazu ein allmächtiger Mann im Lande. Ich wagte seitdem nicht mehr, mich zu rühren; ich nannte Niemand meinen eigentlichen Namen; ich wagte kaum auszugehen aus Furcht, der fürchterliche Bruder könne mich von seiner Polizei aufheben und aus dem Lande schaffen lassen – ich wagte nichts, bevor Du hier warst. Dich wird doch dieser schreckliche Bruder nicht verleugnen können. Dir wird er glauben müssen.“

„Verzweifelte Geschichte das!“ rief der alte Republikaner. „Ehe wir etwas beschließen können, muß ich mit dem Aurel sprechen. War am Bahnhof, mich in Empfang zu nehmen – hatte ihm telegraphirt, daß ich kommen würde – war wahrhaftig so überrumpelt von seiner Ministerschaft, daß ich gar nicht die Courage fand, ihm von Dir zu reden – hätte weit ausholen müssen, weißt Du, und calculirte: hast du vor mir den Heimtücker gespielt und mir deine Fahnenflüchtigkeit, dein Hofschranzenthum verheimlicht – nun, so revanchiren wir uns ein wenig, mein Junge, und sagen dir vorderhand nichts von der kleinen Grasmücke, die wir hier haben, die uns in’s alte Nest vorausgeflogen ist. Ist immer noch Zeit – immer noch! Und auch das alte Känguruh von Schallmeyer braucht nichts davon zu erfahren, wie nah wir zusammengehören – würde ein hübsches Stadtgeklatsch geben, das dem Aurel seine Polizei zutragen würde, ehe noch drei Viertelstunden verflossen wären – kenne das, kenne das.“

„Dein alter Freund Schallmeyer, an den Du mich gewiesen hast, Papa,“ sagte die junge Dame, „ist ein unheimlicher Mensch, und die Haushälterin ist so neugierig; sie schleicht so lautlos umher und ist immer, wo man sie nicht erwartet. Jeden Augenblick tauchen neue Mägde auf –“

„Wenn es Mäuse wären,“ lachte der alte Herr, „würde ich denken, sie habe die früheren verspeist. Na, vielleicht finden wir ein gemüthlicheres Unterkommen. Für’s Erste werde ich zu Tische gehen – in irgend einem Restaurant in der Nähe –, dann meine Reisemüdigkeit ein wenig ausschlafen, und nachher werde ich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 241. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_241.jpg&oldid=- (Version vom 25.1.2021)