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verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Amtsperioden berufen. Dabei übertrifft Berlin durch seine Einwohnerzahl so manchen Kleinstaat, der sich den weitläufigen Apparat eines Fürstenhofes, eines Ministeriums und einer Volksvertretung, manchmal auch diese noch zweigeteilt, gestatten kann, aber mit den Zahlen seines Budgets von ungefähr 42 Millionen Mark in der Einnahme und Ausgabe übertrifft Berlin heutzutage bereits dasjenige der schweizerischen Eidgenossenschaft.

Die einer Stadtverwaltung gestellte „ideale Aufgabe auch nur annähernd zu erreichen, ist um so schwieriger, je plötzlicher die Entwickelung zur Großstadt ein Gemeinwesen überrascht“.

Diese in dem Vorworte des Berliner Magistratsberichtes enthaltene Bemerkung ist, wenn irgendwo, gerade für Berlin selbst zutreffend; denn das Wachsen Berlins in den letzten fünfzig Jahren ist ein geradezu gewaltiges.[1]

Aber noch andere Hindernisse, als das rapide Wachsen, standen der raschen und allseitigen Entfaltung der 1808 unter dem Freiherrn von Stein in’s Leben gerufenen Städte-Ordnung entgegen.

Der lebendige und trotzige Bürgersinn unserer Vorfahren, welcher einst selbst den Hohenzollern Widerstand geleistet, bis diese durch die Gründung der Burg zu Köln an der Spree im Jahre 1442, des heutigen königlichen Schlosses, denselben niedergeworfen, war in dem Sturm und Elend des Dreißigjährigen Krieges bis auf die letzten Spuren verschwunden. Als der große Kurfürst zweihundert Jahre später sein Regiment antrat und Berlin mit den Festungswerken umgab, deren letzter Rest, der Königsgraben, jetzt durch den Bau der Stadtbahn beseitigt wird, da war die Stadt zum elenden Nest mit 6000 Einwohnern herabgesunken. Von da ab bis abermals zweihundert Jahre später, bis in die Zeit Friedrich Wilhelm’s des Vierten, war Berlin wesentlich nur die Residenz der preußischen Könige, und alles, was Großes und Bedeutendes in derselben geschaffen, ist das Werk der Fürsten. Diese lebendige Initiative, die bedeutenden Aufwendungen, welche die Herrscher zur Verschönerung und zum Nutzen ihrer Residenz spendeten, enthob die Bürger alles Nachdenkens und aller Sorge, ihrerseits für die gemeinsamen Interessen der Stadt einzutreten, und als nun mitten in den Drangsalen der französischen Occupation, nach der Katastrophe von Jena, die Städte-Ordnung ein Selbstregiment der Bürger einzuführen versuchte, „da wurden“ – so sagt der Magistratsbericht – „zunächst nicht sowohl die neuen Rechte freudig, als die neuen Lasten schmerzlich empfunden“. Erst als nach dem Befreiungskampfe im Jahre 1819 die Differenzen zwischen Staats- und Stadtbehörden beendet waren, fingen die Communalbehörden an, „die Stadt nicht blos als die Residenz des Königs, sondern zugleich als die Stadt der Bürger aufzufassen. Und doch, wie Vieles blieb in Berlin noch der Selbstverwaltung vorenthalten, was ihr in anderen Städten mit der Städte-Ordnung zugefallen, was zum Theil erst in der allerjüngsten Zeit in unsere Verwaltung übergegangen ist, zum Theil für dieselbe – jetzt als ein wünschenswerthes Gut betrachtet – noch zu erstreben bleibt“.

Das ist ein Punkt, der bei der Klage, daß Berlin in so manchen großstädtischen Einrichtungen gegen andere Weltstädte zurückgeblieben ist, nie genug in Anschlag gebracht werden kann; denn für Berlin gilt nicht das Wort: „der Kaiser ist weit“, nein, der Vorzug, Landes- und Reichshauptstadt zu sein, hat neben seinen Licht- doch auch seine Schattenseiten. Die Centralbehörden sind natürlich wenig geneigt, auf dasjenige, was sie unmittelbar unter ihren Augen haben, ihren Einfluß aufzugeben, und daher kommt es, daß für viele Dinge, namentlich für Bau-Angelegenheiten, nirgends ein mehr complicirter Instanzenzug existirt, als gerade in Berlin, und daß z. B. noch heute, um eine Pferdebahnlinie endgültig festzustellen, vier bis fünf Instanzen, oft selbst bis zum Kaiser hinauf, angerufen werden müssen.

Erst mit dem Jahre 1840 trat eine neue Epoche Berlins ein, nicht nur, weil das neu erwachte politische Leben nicht ohne Einfluß blieb auf das Interesse an den öffentlichen städtischen Angelegenheiten – ward doch erst im Jahre 1844 die Öffentlichkeit der Sitzungen der Stadtverordneten vom Könige zugestanden – sondern auch, weil mit dem erst seit dem Anfang der vierziger Jahre in schneller Progression wachsenden Bau der Eisenbahnen, mit der Gründung und dem raschen Erblühen der Berliner Maschinenbau-Anstalten, mit der wachsenden Bedeutung der Börse Berlin anfing, eine Centrälstätte für die Industrie und den Handel zu werden.

Von ähnlichem, äußerlich noch bedeutsamerem Einfluß waren die politischen Ereignisse, welche sich an die Thronbesteigung König Wilhelm’s im Jahre 1861 knüpften. Die neue Aera mit ihren Hoffnungen, das in den Conflictsjahren sich stärkende Selbstbewußtsein der Bürger, sodann die glücklichen Kriege mit Dänemark, Oesterreich, Frankreich, die Stiftung des norddeutschen Bundes, die Gründung des deutschen Reiches waren nicht nur auf die städtische Verwaltung von bedeutendem unmittelbarem Einfluß, sondern mußten auch mittelbar der Entwickelung des ganzen Gemeinwesens Berlins, das nun die Hauptstadt des deutschen Reiches, der Sitz des deutschen Reichstages und der meisten Reichsbehörden wurde, eine neue Signatur geben. Dazu kam in Beziehung auf die materiellen Existenzbedingungen das allmählich vorbereitete, nunmehr durch das Eindringen der französischen Milliarden rasch bis zu einem völlig unerwarteten Grade geförderte allgemeine Sinken des Geldwerthes. Doch auf die Zeit der Wohnungsnoth und der Gründerepoche, Uebel, welche sich aus diesen Verhältnissen ergaben, sind rasch genug die Tage der Noth der Hausbesitzer, der Subhastationen und der Verarmung weiter Volksschichten gefolgt. Gegenwärtig ist es daher die Aufgabe der städtischen Verwaltung, gegenüber der geminderten Leistungsfähigkeit der Bürger doch die Leistungen der Commune, an die immer neue Anforderungen herantreten, mindestens auf der schon erreichten Höhe zu erhalten; denn nur dann kann sich allmählich auch die Einwohnerschaft wieder zu neuem Wohlstand emporschwingen.

Um nun aber einen Blick in den Mechanismus, der das Getriebe dieser großen Verwaltung im Gange erhält, zu thun, wenden wir uns zunächst zu dem Centralsitze derselben, dem Berliner Rathhause.

Wenn man das Brandenburger Thor durchschreitet und die „Linden“ betritt, sieht man über der grauen Steinmasse des königlichen Schlosses den rothen Backsteinbau des Rathhausthurmes kühn sich in die Luft erheben, ein steinernes Monument, das den Berlinern zuzurufen scheint: den „Bürgerstolz vor Königsthronen“ nicht zu vergessen. An Stelle des alten, engen, winkligen Rathhauses, das kaum einer kleinen Provinzialstadt würdig war, ist der jetzige 1871 vollendete Prachtbau getreten. Neben dem alten Rathhause mußte noch ein ganzes Straßenquarré von Privathäusern mit dem Aufwande von einer Million Thalern niedergelegt werden, um dem Neubau Platz zu schaffen.

Der Grundstein zu dem neuen Rathhause, dessen die „Gartenlaube“ bereits früher (vergl. Jahrgang 1870, Nr. 9) in einem Artikel vorübergehend gedachte, ward am 11. Juni 1861 gelegt und schon am 30. Juni 1865 konnte der Magistrat dort seine erste Sitzung halten, während die Stadtverordneten, welche bis dahin im Kölnischen Rathhause getagt hatten, ihren neuen Sitzungssaal erst am 6. Januar 1870 betreten konnten. Die gesammten Festräume des Rathhauses aber fanden ihre würdigste Einweihung durch das großartige Fest, welches die Stadt Berlin in denselben dem damals zum ersten Mal zusammentretenden deutschen Reichstage gab. Die Gesammtkosten zur Herstellung des Hauses, die fast ausschließlich aus den laufenden Einnahmen, also im Wesentlichen aus den Steuern der Bürger, gedeckt wurden, haben, inclusive des Grunderwerbes, Mark 9,724,800 betragen.

In dem großen Sitzungssaale des Rathhauses hält der Magistrat regelmäßig an jedem Freitagvormittag seine ordentlichen Plenarsitzungen ab. Um einen elliptischen Tisch, der in der Mitte einen freien Raum einschließt, sind die vierunddreißig Sessel der Stadtväter geordnet; denn der Magistrat besteht aus dem Oberbürgermeister, dem Bürgermeister, zwei Stadtsyndicis, dem Stadtkämmerer, zwei Stadtschulräthen, zwei Stadtbauräthen, acht andern besoldeten Stadträthen, zusammen aus siebenzehn besoldeten und ebenso viel unbesoldeten im Ehrendienst der Stadt stehenden Bürgern,

  1. Berlin hatte im Jahre 1829 eine Bevölkerung von 242,000 Seelen aufzuweisen; zu Anfang des Jahres 1876 war dieselbe auf 979,860 angewachsen, hatte also in 47 Jahren eine Steigerung um 304,9 Procent zu verzeichnen, am Schlusse des Jahres 1880 aber betrug dieselbe 1,122,385, war somit in 5 Jahren um 14,5 Procent, in 50 Jahren aber um 363,8 Procent gestiegen. – Die Ausgaben der gesammten Communalverwaltung beliefen sich im Jahre 1829 auf nur 2,317,656 Mark; für 1881/1882 sind dieselben auf 42 Millionen Mark veranschlagt. Das ergiebt also in 52 Jahren eine Steigerung von 1712 Procent. Schon hieraus ist zu ersehen, daß die Ausgaben in stärkerem Maße als die Bevölkerung gewachsen sind. Noch anschaulicher ergiebt sich dies, wenn man die Ausgaben auf den Kopf der Bevölkerung vertheilt; dann betragen dieselben im Jahre 1829 circa 9,6 Mark pro Kopf, 1881 aber circa 37,4 Mark, ein schlagender Beweis, wie sehr die Leistungen der Commune gestiegen sind.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1881, Seite 267. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_267.jpg&oldid=- (Version vom 26.12.2022)