Seite:Die Gartenlaube (1881) 278.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

immer durchsichtiger wurde. Die Weltliteratur erschien unserm Goethe als die Losung der Zukunft; er ermuthigte alle, die sich dem „freien geistigen Handelsverkehr zwischen den Nationen“ widmeten, so auch den jungen Schotten, zu dessen „Leben Schiller’s“ er ein Vorwort schrieb; er erwähnte, daß diese Biographie uns kaum etwas Neues bringen könne. „Was aber den Verehrern Schiller’s,“ schrieb er, „und einem jeden Deutschen, wie man kühnlich sagen darf, höchst erfreulich sein muß, ist, unmittelbar zu erfahren, wie ein zartfühlender, strebsamer, umsichtiger Mann über dem Meere in seinen besten Jahren, durch Schiller’s Productionen berührt, bewegt, erregt und nun zum weiteren Studium der Literatur angetrieben worden. Mir wenigstens war es rührend zu sehen, wie dieser rein und ruhig denkende Fremde selbst in jenen ersten, oft harten, fast rohen Productionen unseres verewigten Freundes immer den edeln, wohldenkenden, wohlwollenden Mann gewahr ward und sich ein Ideal des vortrefflichsten Sterblichen an ihm auferbauen konnte.“

Doch so groß Carlyle’s durch literarische Thaten bewiesene Verehrung für Goethe und Schiller war, so haben doch gerade diese Dichter keinen Einfluß auf seine Darstellungsweise ausgeübt, am wenigsten Goethe’s klarer, durchsichtiger Stil und die von seinem Geschmack geregelte Harmonie seiner Schöpfungen; es war ein anderer deutscher Schriftsteller, der mit seiner scharf ausgeprägten Eigenart, die im Grunde jede Nachahmung ausschließt, den verwandten Geist Carlyle’s ganz in seinem Bann hielt und den Stil desselben ein gleichartiges Gepräge aufdrückte; es war Jean Paul Friedrich Richter, welchen Carlyle nicht minder bewunderte, als Goethe und Schiller. „Jean Paul’s Fähigkeiten,“ sagte er, „sind alle von gigantischer Form, massenhaft, schwerfällig in ihrer Bewegung, mehr groß und glänzend, als harmonisch und schön, aber dennoch zu lebendiger Einheit verbunden und alles an allem von außerordentlichem Umfang und seltener Kraft. Er hat einen unbändigen, schroffen, unwiderstehlichen Verstand, der die härtesten Probleme in Stücke schlägt, in die verborgensten Combinationen der Dinge eindringt; eine vage, düstere, glänzende oder erschreckende Einbildungskraft, welche über den Abgründen des Daseins brütet, die Unendlichkeit durchschweift und in ihrem verschwimmenden religiösen Lichte glänzende, feierliche oder schreckliche Gestalten heraufbeschwört; eine Phantasie von beispielloser Fruchtbarkeit, die ihre Schätze mit einer Verschwendung ausstreut, welche keine Grenze kent; aber tiefer als alle diese liegt der Humor, seine herrschende Fähigkeit, gleichsam als Centralfeuer, das sein ganzes Wesen durchdringt und belebt. Er ist Humorist in seiner innersten Seele, denkt, fühlt, dichtet und handelt als Humorist.“

Wir könnnen dieses glänzende Lob Jean Paul’s nicht ohne Wehmuth lesen: ist doch dieser bedeutende Dichter für die jetzige Generation fast zu einem noli me tangere geworden. Fülle von Geist und Phantasie gilt ja heutzutage als ein erschwerender Umstand, der die Popularität eines Schriftstellers hemmte zu den Lieblingen der Mode gehören Schriftsteller, die „ihre Armuth zu Rathe halten“ und deren Sauberkeit nur durch ihre Seichtigkeit übertroffen wird. Unser Jean Paul wurde indeß für Carlyle nach einer Seite hin verhängnißvoll; er wandte die geniale springende Manier dieses Autors auch in seinen wissenschaftlichen Werken an, diese Darstellungsart, die er selbst in Wahrheit eine wilde verwickelte „Arabeske“ nennt; er wurde ein jeanpaulisirender Historiker, und dies that der ruhigen Haltung und geschmackvollen Fassung seiner Geschichtswerke nicht unwesentlichen Eintrag.

Auch von Jean Paul übersetzte Carlyle Mehreres in der vierbändigen Sammlung: „German Romance (1827)“, in welcher er neben Goethe auch Tieck, Amadeus Hoffmann, Mussäus und andere romantische Schriftsteller Deutschlands in’s Englische übersetzte.

Ueber diese Sammlung finden sich bei Goethe ebenfalls anerkennende Aufzeichnungen; er rühmt die jedem Autor vorgesetzten Notizen, die Sorgfalt, mit welcher die Lebenszustände eines jeden, sowie sein individueller Charakter und die Einwirkung desselben auf die Schriften dargestellt sind; er rühmt die ruhige, klare, innige Theilnahme Carlyle’s an dem deutschen poetisch-literarischen Beginnen, an dem eigentümlichen Bestreben der Nation. Mit Goethe unterhielt Carlyle einen Briefwechsel, dem wir einige interessante Mittheilungen über sein Leben verdanken. Er hatte sich im Jahre 1827 mit Miß Welsh, der Tochter des Dr. Welsh, verheirathet und in ihr eine hochgebildete und treue Lebensgefährtin gewonnen. Welsh, ein vermögender Arzt, machte den Neuvermählten ein Landgütchen, Craigenputtock, zum Geschenk, und hier wohnten sie mehrere Jahre, bis zur Uebersiedelung nach London 1832. Ueber diese schottische Idylle schreibt Carlyle an Goethe:

„Unser Wohnort liegt fünfzehn Meilen von Dumfries entfernt, zwischen den Granitgebirgen und den schwarzen Moorgefilden, welche sich westwärts durch Galloway meist bis an die Irische See ziehen. In dieser Wüste von Haiden und Felsen stellt unser Besitzthum eine grüne Oase vor, einen Raum von geackertem, theilweise umzäuntem und geschmücktem Boden, wo Korn reift und Bäume Schatten gewähren, obgleich ringsum von Seemöven und hartwolligen Schafen umgeben. Hier, mit nicht geringer Anstrengung, haben wir uns eine reine, dauerhafte Wohnung erbaut und eingerichtet; hier wohnen wir, in Ermangelung einer Lehr- oder andern öffentlichen Stelle, um uns der Literatur zu befleißigen, nach eigenen Kräften uns damit zu beschäftigen. Wir wünschen, daß unsere Rosen- und Gartenbüsche fröhlich heranwachsen, hoffen Gesundheit und eine friedliche Gemüthsstimmung um uns zu fördern. Die Rosen sind freilich zum Theil noch zu pflanzen, aber sie blühen doch schon in Hoffnung.“

Mit der Uebersiedelung Carlyle’s nach London beginnt eine neue Epoche in seinem literarischen Schaffen: die Zeit der geistigen Vermittelung zwischen den Nationen lag hinter ihm; auch die literarische Kritik trat in den Hintergrund; er lenkte jetzt als Denker und Geschichtsschreiber die Aufmerksamkeit auf sich.

Das Werk, das er schon als Manuscript nach London mitbrachte, „Sartor resartus“ ist eine seiner barocksten, aber auch genialsten Schöpfungen und trägt ganz die Signatur des Jean Paul’schen Genius: eine theils sprungweise, theils in einander geschachtelte Darstellung, barocke Namengebung, sonderbares humoristisches Detail, gemischt mit einer Fülle glänzender und großartiger Ideen. An der Universität Weißnichtwo lebt der Gelehrte Diogenes Teufelsdröckh als Professor der Dinge im Allgemeinen; er hat ein Werk herausgegeben unter dem Titel „Die Kleider, ihr Werden und Wirken“. In die Biographie dieses Professors hat Carlyle zahlreiche Confessions aus seinem eigenen Leben verwebt. Die Philosophie der Kleider selbst hat eine tiefsinnige Grundlage; denn die ganze Erscheinungswelt ist dem Philosophen nur ein irdisches Gewand der ewigen Ideen; von unserer Gegenwart aber behauptet er, daß sie sich in veralteten Zeitgewändern der Kirche, des Staates und der Gesellschaft umherschleppe. Den ganzen Garderobewechsel der Weltgeschichte vom Feigenblatte des Paradieses bis zum Modecostüm der neuesten Dandies beleuchtet er mit glänzendem humoristischen Lichtern oder läßt darauf die Schlagschatten der Satire fallen.

Dieses Werk war der einzige Trumpf den sein selbstgenügsamer Humor ausspielte; in seinen übrigen Schriften und Vorträgen giebt der Humor nur die Arabesken her für idealen Gedankenflug oder historische Darstellung; in der That haben wir Carlyle nach diesen beiden Seiten als Philosophen und Historiker in’s Auge zu fassen, obwohl er weder den landesüblichen Begriff des einen noch denn des andern deckt. Die systematische Beweisführung des Fachphilosophen war ihm so fremd, wie die objective Darstellung des Geschichtsschreibers; er war ein genialer Kopf, der an die Gedankenwelt wie in die Welt der Thatsachen mit einer ganz aparten Diogenes-Laterne hineinleuchtete.

Kein größerer Gegensatz als zwischen ihm und seinen Freunde John Stuart Mill! Und doch hatten Beide, der schwärmerische Idealist mit seinen phantasievollen Illusionen, und der unerbittliche Logiker mit der Klarheit und Correctheit eines wohlgeschulten Denkers, einen gemeinsamen Zug: sie hatten Beide kühne Reformgedanken gegenüber den bestehenden Zuständen.

Thomas Carlyle hat mehr die Miene des Propheten, als die des Philosophen, und der puritanische Strafprediger löst oft den Denker ab. Den englischen Zuständen gegenüber ist er von einem so schwarzsehenden Pessimismus, daß ihm die „satanische Schule“ darum beneiden könnte, doch bei ihm ist die triumphirende Skepsis nicht Selbstzweck, nicht Zweifel und Verzweiflung am Leben das letzte Worte: ein Idealismus von seltener Leuchtkraft, der alle Labyrinthe des Lebens zu erhellen vermag, wohnt in seiner Brust. In seiner Schrift über den Chartismus schildert er das Elend und die Armuth großer Classen der englischen Bevölkerung mit den düstersten Farben; in „Past and Present“ (1843) stellt er die tüchtige Arbeit alter Zeit der schwankenden Haltlosigkeit und Windbeutelei der Gegenwart entgegen und verherrlicht mit schwunghaftem Pathos das Evangelium der Arbeit.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 278. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_278.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)