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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)


In den „latter day pamphlets“ (1857) sitzt er, wie schon der Titel der Schrift andeutet, mit weltrichterlicher Wage zu Gericht über den Dingen dieser Welt, geißelt die heutige Staatskunst als verworrene Routine, das ganze Gewebe von halben Wahrheiten und ganzen Lügen in Staat und Religion, den Moloch des öffentlichen Redens, die Nutzlosigkeit des Parlamentarismus; er verdammt die Scheinhelden der neuen Zeit, die Eisenbahnkönige wie Hudson, sieht den Jesuitismus, allgemeine Entartung, Falschheit und Heuchelei auch auf dem Gebiete der Kunst hereinbrechen, kurz, er giebt ein Rembrandt’sches Gemälde der Gegenwart.

Doch nicht blos als Schriftsteller, auch als Vorleser trat Carlyle in London auf, ohne indeß wie Thackeray ein besonderes Gewerbe aus solchen Vorträgen zu machen. Wenn seine hohe Gestalt auf der Tribüne erschien, sein volles und weiches Organ ertönte, befanden sich die Hörer sogleich im Banne seiner ernsten und bedeutenden Persönlichkeit; obschon er sich Notizen zu machen pflegte, sprach er doch frei und mit jener hinreißenden Wärme, die auch seiner Unterredung im Privatverkehr einen so seltenen Reiz verlieh. Von diesen Vorlesungen machten den größten Eindruck diejenigen über „Heldenverehrung“ (hero-worship, 1840). In den Heroen sah Carlyle die Vertreter der ewigen Vernunft in der Menschheit; er fand sie unter den Propheten und Dichtern, unter den Priestern, Schriftstellern und Königen; er proclamirte den Cultus des Genies und zwar in einer Zeit, der es an großen Männern fehlte und deren Strömung nach der entgegengesetzten Richtung ging, nach der Verherrlichung der Masse. Damals stieß dieser Cultus auf den lebhaftesten Widerspruch: man glaubte nicht mehr an das Genie des Einzelnen als an eine bewegende Macht der Geschichte. Seitdem haben sich die Zeiten geändert: der Cäsarismus, zunächst als Selbstcultus der Napoleone, wurde eine Thatsache, dann eine Sache der Mode. Seit den letzten Kriegen steht der Heroencultus wieder in vollster Blüthe, und im Fürsten Bismarck sieht die Welt, vor Allem das deutsche Reich, den Heros als „Staatsmann“, wie ein Carlyle es ausdrücken würde.

Wir sind weit davon entfernt, die geschichtlichen Werke Carlyle’s als Muster der Geschichtschreibung anzusehen; gleichwohl sind sie in ihrem Streben nach lebendiger Anschaulichkeit ein sehr bemerkenswerthes Ferment derselben; denn die Historiker, besonders die deutschen, beschäftigen sich mehr damit, die geschichtliche Uhr gleichsam auseinander zu nehmen, um das feinste Räderwerk der Motive zu studiren, als uns ihren lebendigen Gang vorzuführen: sie legen größeren Werth auf die Macht und den Zwang der Verhältnisse, als auf die Eigenart der Charaktere und ihren bestimmenden Einfluß. Bei Carlyle ruht gerade darauf der Nachdruck; wir sehen die Persönlichkeiten, die Ereignisse vor uns, ein bewegtes, oft wildes und stürmisches Leben, das sich auch in der stilistischen Darstellung spiegelt, versetzt uns ganz in die Atmosphäre der geschilderten Zeit. Dies gilt namentlich von seiner „Geschichte der französischen Revolution“ (3 Bände, 1837), welche bei ihrem Erscheinen durch die seltene Farbenpracht der Darstellung, durch glühende Schilderung, frappante Charakteristik, durch überraschenden Tiefblick in Bezug auf die Motive der Ereignisse und ihren inneren Zusammenhang, sowie durch rückhaltlosen Freimuth großes Aufsehen erregte. In der That ist sie wohl Carlyle’s bestes Geschichtswerk, und ihre Vorzüge sind so groß, daß man darüber das Buntscheckige und Tumultuarische der Darstellung wohl übersehen darf; ja selbst ihre Einseitigkeit war ein wirksamer Gegenschlag gegen die Farblosigkeit der Darstellung, in welcher deutsche Geschichtschreibung eine gewisse gelehrte Würde suchte. Der Standpunkt Carlyle’s ist nicht der eines feinspürigen Geschichtsforschers, der die diplomatischen Verwickelungen auseinander zu wirren sucht; es ist der eines Denkers, der die Revolution als eine blutige, aber segensreiche Krisis betrachtet, welche mit Naturgewalt die unhaltbar gewordenen Verhältnisse zertrümmert. Gerade das Elementarische in ihr weiß er nachzufühlen und schwunghaft darzustellen.

Im Jahre 1847 gab Carlyle die „Briefe und Reden Oliver Cromwell’s“ heraus (4 Bände), aber diese sorgfältig gesammelten Actenstücke waren in eine glänzende Zeit- und Charakterschilderung verwebt, die in ihrem eigenthümlichen biblischen Colorit eine treue Localfarbe für jene Epoche hatte. Denn Puritanerthum war Carlyle geistesverwandt; es war auch in ihm etwas von dem predigerhaften Feuereifer der Rundhüte.

Zu seinem letzten großen Geschichtswerke über Friedrich den Großen machte Carlyle die umfassendsten Vorstudien: zweimal reiste er nach Deutschland, besuchte Berlin und die Schlachtfelder des siebenjährigen Krieges. Auf sein Haus in Chelsea ließ er ein Stockwerk aufsetzen mit einem großen Saal, der zugleich Bibliothek- und Arbeitszimmer war: die Bibliothek bestand nur aus Schriften über Friedrich den Großen. So schien Carlyle selbst Aehnlichkeit zu haben mit einer seiner typischen Figuren, dem Dryasduft, dem im Staub der Actenstücke und im Tabaksqualm vergrabenen Gelehrten, dem geistlosen Sammler. Und in der That, so wenig es dieser Biographie (6 Bände, 1858 bis 1865) an großen Perspectiven, an glänzenden Schilderungen von Charakteren, Sitten und Schlachten fehlte, so hatte doch hier die arabeskenhafte Mosaik der Carlyle’schen Darstellung ihren Höhepunkt erreicht und die Notizenfülle des Sammlers war dem Geschichtsschreiber verhängnißvoll geworden. Auch war die Beleuchtung nicht eine gleichmäßige; so ließ seine Vorliebe für Sittenstrenge auch auf den preußischen Soldatenkönig Friedrich Wilhelm den Ersten ein allzuglänzendes Licht fallen. In seinem jeanpaulisirenden Stil als humorisischer Geschichtsschreiber steht Carlyle in der That einzig da.

Aus seinem Leben sind noch zwei verschiedenartige Auszeichnungen zu berichten, die dem greisen Gelehrten zu Theil wurden. Die Edinburgher Studentenschaft, die alljährlich ihren Lord-Rector wählt, dachte ihrem Landsmann für das Jahr 1865 bis 1866 diese Würde zu; er wurde mit einer Mehrheit gewählt, die ihm den Sieg über seinen Rivalen Disraeli verschaffte. Glänzend war der Empfang, der ihm in Edinburgh zu Theil wurde; in der überfüllten Musikhalle hielt er seine Antrittsrede; er setzte in gedrängter Form den Kern seiner Weltanschauung auseinander. Das junge Schottland jubelte dem gefeierten Landsmann zu.

Die zweite Auszeichnung war der Orden pour le mérite, welchen der deutsche Kaiser und das Ordenscapitel dem greisen Gelehrten, dem Geschichtsschreiber Friedrich’s des Großen verliehen. Doch nicht dieses Werk allein hatte den Anlaß zu solcher Verleihung gegeben: während des deutsch-französischen Krieges hatte Carlyle in zahlreichen Artikeln auf das Lebhafteste die Partei der Deutschen ergriffen, während die öffentliche Meinung in England unentschieden hin und her schwankte, ja sich bei mehreren Wendepunkten des Krieges zu Gunsten des westmächtlichen Alliirten erklärte.

So hat der alte Carlyle die Sympathien, die der junge dem Genius Deutschlands schenkte, treu bewahrt. Sein Tod, der am 5. Februar in Folge eines Fiebers in London erfolgte, mag die Deutschen mahnen an den Verlust eines mit dem Geiste ihrer großen Männer genährten Mitkämpfers für die gute Sache des Idealismus, der trotz aller Schwankungen und rückgängigen Bewegungen der jüngsten Zeit das Palladium des deutschen Geistes bleiben wird.



Der Culturkampf in der protestantischen Kirche.

1. Die geschichtliche Vorbereitung des Kampfes.
Vom Prediger Dr. Kalthoff.[1]

Culturgeschichte und Religionsgeschichte stehen unter einander in so engem Zusammenhange, daß die eine ohne die andere kaum denkbar ist; denn die einzelnen Erscheinungen in dem Culturleben einer Zeit lassen sich ihrem wahren Gehalte nach nur würdigen, wenn sie aufgefaßt werden als die Symptome eines fortgehenden, in der Tiefe des Volkslebens stattfindenden geistigen Processes. Dieser geistige Proceß steht aber immer in mehr oder weniger directer Verbindung mit dem religiösen Leben der Zeit.

Auch die Gegenwart läßt sich nur recht begreifen, wenn wir auf ihren religiösen Herzschlag lauschen; findet doch das geistige

  1. Wir eröffnen mit obigem Artikel eine Serie geistvoller Beleuchtungen des heutigen kirchlichen Lebens aus der Feder des bekannten freisinnigen Theologen (vergl. Nr. 11, S. 184 d. Jahrg.), der hiermit als ständiger Mitarbeiter in die Reihe unserer Autoren eintritt. D. Red.     
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 279. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_279.jpg&oldid=- (Version vom 29.4.2022)