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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Lehre und die Leugnung der sogenannten „Amtsgnade“ schuld, und noch 1840 wirft Hengstenberg dem Pietismus Geringschätzung des Predigeramtes und der reinen Lehre, das Uebergewicht der praktischen Frömmigkeit über die Rechtgläubigkeit vor.

Wenn aber etwas geeignet ist, ein günstiges Vorurtheil für den älteren Pietismus zu erwecken so ist es das abfällige Urtheil des Mecklenburger Kirchenfürsten Kliesoth: Der Pietismus habe die lutherische Kirche zerrissen; mit Spener beginne der große Krieg gegen die lutherische Kirche, der zuerst Frömmigkeit, dann Toleranz, endlich Union genannt worden sei; Spener habe mit seinem wohlgelungenen Zersetzungswerk nicht dem Christenthum, sondern dem Antichristenthum in die Hände gearbeitet.

Indeß hatte der Pietismus nur als Opposition gegen die Orthodoxie einige Bedeutung, und sobald es galt, das religiöse Leben selbstständig zu gestalten mußte auch seine ganze Einseitigkeit zu Tage treten. Wenn die Orthodoxie durch ihren Wahn, daß die Religion in einem abgeschlossenen System von Glaubenslehren bestehe, die geistige Weiterentwickelung des Menschen hemmt, so übersieht der Pietismus, indem er in der Religion die einzelne That als die Hauptsache betrachtet, daß auch auf sittlichem Gebiet das Beste am Menschen sein Streben nach immer höherer sittlicher Vollkommenheit ist. Dieses tiefere, in der Gesinnung wurzelnde Streben fehlte dem Pietismus. Er gerieth dadurch in sittliche Stagnation, die ihn immer mehr vergiftete. Das Merkmal des Frommen wurde zuletzt in äußerlichen Dingen gesucht. Man sollte den Frommen schon durch seine Haltung, Kleidung und Miene von dem „Weltkinde“ unterscheiden, und alles Natürliche wurde als „weltlich“ geächtet. An den Freuden des Lebens mußte der Pietist mit geschlossenen Augen vorübergehen. Aber das Fleisch, das ertödtet werden sollte, rächte diese Mißhandlung gelegentlich durch um so cynischere Ausbrüche seiner Begierden. Aus dem Pietismus wurde Pharisäismus, der die Frömmigkeit in dem Armensündergesicht, im schwarzen Nock, in der Weltscheu suchte; aus dem Pharisäismus wurde Heuchelei, und aus der Heuchelei entstanden jene widerwärtigen Caricaturen die der Volksmund als „Muckerthum“ gebrandmarkt hat. Der Pietismus zeigte sich ebenso wenig wie die Orthodoxie befähigt, das Erbe der Reformation anzutreten.

In den bisherigen Erscheinungen der protestantischen Kirche war eine Macht noch nicht zur Geltung gekommen, welche in den Anfängen der Reformation eine wesentliche Rolle gespielt hatte, die Vernunft. Die unitarischen Bewegungen im Anfange des siebenzehnten Jahrhunderts waren freilich wesentlich aus einem rationellen Interesse hervorgegangen, aber die orthodoxe Kirche hatte dieselben noch als ketzerisch von sich auszustoßen vermocht. Das Denken, durch die Reformation allerdings principiell von dem Gängelbande kirchlicher Bevormundung befreit, war doch in sich noch nicht hinlänglich erstarkt, um von vornherein seinen reformatorischen Einfluß aus die Kirche selbst zu üben. Aber während aus den protestantischen Kanzeln gegen die Vernunft geeifert wurde, war außerhalb der Kirche, in der Philosophie und den exacten Wissenschaften, das wissenschaftliche Denken allmählich zu einer Macht herangereift, der sich die Kirche zuletzt nicht mehr verschließen konnte, zumal nachdem die pietistische Bewegung eine unverkennbare Gleichgültigkeit gegen die sogenannte „reine Lehre“ erzeugt hatte. So fing der Nationalismus in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts an, den Maßstab der allgemeinen Denkgesetze an die Voraussetzungen der Kirchenlehre zu legen. Er fragte vor allen Dingen, ob es außer den in der Vernunft und dem natürlichen Licht geoffenbarten Wahrheiten noch übernatürliche Offenbarungen durch Wunder und Weissagungen gebe.

Die Wirkung dieser Operation war eine überraschende. Das ganze kirchliche Lehrgebäude, das mühsame und kunstreiche Werk von anderthalb Jahrtausenden, war in wenigen Jahrzehnten niedergerissen; Lehren, um die man sich noch vor einem Jahrhundert mit der ganzen Wuth der Theologen gestritten hatte, wurden selbst von den Theologen belächelt. So schnell hatte der Strom des allgemeinen Zeitbewußtseins mit der kirchlichen Orthodoxie aufgeräumt. - Man würde indeß den Nationalismus falsch beurtheilen, wenn man in ihm nur ein negatives Princip sehen wollte. Er enthält selbst in seinen ersten, oft noch seichten und oberflächlichen Anfängen schon die Elemente zu einem positiven kirchlichen Neubau Er zerstört die kirchlichen Dogmen, aber er thut es nur, um die humane Seite der Religion dafür in den Vordergrund zu stellen. Das Jahrhundert der Aufklärung ist ja zugleich das Jahrhundert der Toleranz, in der die Humanitätsidee neue Wurzeln zu schlagen beginnt. Von hier aus datirt eine Reform des Erziehungswesens; hier bildet sich der Begriff der allgemeinen Menschenrechte, vielleicht der fruchtbarste, den die politische und sociale Entwickelung der modernen Zeit zu verzeichnen hat. Während die orthodoxe Kirche das dogmatische Element als Basis hatte, gründet sich die rationalistische Kirche auf das humane Element der Religion und sucht den Begriff der Humanität immer tiefer zu erfassen, immer reiner zur Darstellung zu bringen.

Die rationalistische Kirche fing von vornherein an, sich in achtunggebietender Weise zu entwickeln. Kant eroberte der Humanitätsreligion das in der orthodoxen Kirche so bedenklich verkümmerte sittliche Moment zurück; ihm ist Religion die Anerkennung unserer Pflichten als göttlicher, das heißt unbedingter Gebote. Alle kirchlichen Statuten und Uebungen, die nicht einen moralischen Inhalt haben, dienen dem Religionswahn, dem kirchlichen Frohndienste und dem Pfaffenthum. Der reine, das heißt moralische Religionsglaube, der im Grunde nur einer ist, er ist die Norm, nach der aller historische Kirchenglaube ausgelegt werden muß, und es ist nach Kant die Aufgabe aller religiösen Entwickelung, den historischen Kirchenglauben mit seinen Satzungen und Observanzen immer mehr in die moralische Religion, die in der Herzensgesinnung zu Beobachtung aller Menschenpflichten als absoluter Gebote besteht, aufgehen zu lassen.

War schon bei dieser Auffassung der Weg gebahnt, um auch dem Historischen in der Religion das die Orthodoxie kritiklos als göttliche Ueberlieferung annahm, zu seinem wahren Recht zu verhelfen, so geschah dies noch bestimmter bei Lessing. Die geschichtliche Form der Religion wird direct von der ihr innewohnenden Wahrheit unterschieden. Wohl können zufällige Geschichtswahrheiten gegen nothwendige Vernunftwahrheiten nichts beweisen. Eine Religion ist nicht wahr, weil Apostel sie lehrten, sondern die Apostel lehrten eine Religion vielmehr, weil sie wahr war. Aber das Geschichtliche in der Religion ist darum nicht überflüssig; denn es dient zur Erziehung des Menschengeschlechts. Erst muß das historisch Gewordene in seinem thatsächlichen Bestande ausgemittelt werden, bevor es möglich ist, in einen lebendigen Zusammenhang mit der Geschichte der Menschheit einzutreten und eine speculative Religionswissenschaft anzubahnen. So ist hier auch die historische Kritik in ihr Recht eingesetzt; sie erscheint als ein wesentlicher Factor der Humanitätsreligionen.

Noch war indeß eine Seite des Menschen nicht zu ihrem Recht gekommen, die zu seinem ureigensten Wesen gehört: das Gefühl. Das Verstandesinteresse des Nationalismus hatte zeitweilig das Gefühl gerade aus der Position verdrängt, die seine unveräußerliche Domäne ist, aus der Religion. Das mißhandelte Gemüth flüchtete sich deshalb in eine zügellose Romantik, bis Schleiermacher dasselbe auch in der Religion zu Ehren brachte, indem er in ihm den eigentlichen Sitz der Religion, das Band zwischen dem endlichen Menschen und dem unendlichen Weltgeiste entdeckte.

Auf den Schultern dieser drei Männer, Kant’s, Lessing’s, Schleiermacher’s , steht nun die ganze Entwickelung der modernen protestantischen Kirche, die wir im Unterschiede von der orthodoxen Kirche die rationalistische nennen können. Innigkeit und Tiefe des Gefühls, Ernst der sittlichen Gesinnung, Freiheit des kritischen und speculativen Denkens, das sind die drei Hauptelemente, die diese Kirche zu pflegen sucht.

So erscheint die rationalistische Kirche als das legitime Kind der Reformation. Sie verhält sich aller religiösen Ueberlieferung gegenüber kritisch, also frei; sie sucht mit Hülfe der im Menschen selber liegenden geistigen Kräfte das Menschheitsideal zu verwirklichen also nicht magisch, das heißt auf dem Wege des Wunders, sondern moralisch, das heißt auf dem Wege des sittlichen Bewußtseins. Demgegenüber tritt nun eine geschlossene Macht, welche diese rationalistische Kirche haßt und mit aller Erbitterung bekämpft. Zuerst regte sie sich in Preußen im Anfange der Regierung Friedrich Wilhelm’s des Zweiten, während der berüchtigten Wöllner’schen Aera; sie wurde nach wenigen Jahren aus dem Felde geschlagen erhob aber kurz nach den Befreiungskriegen in der Hengstenberg-Stahl’schen Aera von neuem ihr Haupt, und heute steht sie drohender als je vor uns.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 282. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_282.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)