Seite:Die Gartenlaube (1881) 321.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

No. 20.   1881.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Bruderpflicht.
Erzählung von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)


9.

Es war am andern Morgen. Aurel stand in seinem Arbeitszimmer an einem Fenster und blickte auf den Hausgarten hinab; dieser breitete sich auf einer ansehnlichen Fläche aus, die darauf deutete, daß das alte Schloß zu seiner Sicherung hier breite Gräben gehabt, welche, nun zugeschüttet, den üppigen Wuchs mächtiger Zierbäume beförderten. Die dunklen Pyramiden der Coniferen spreizten da unten anspruchsvoll ihre Arme aus, und die Glycinien bewarfen wie leichte, kokette Mädchenschönheiten die hochmüthigen Nachbarn mit blauem Blüthenabfall, während die Eichen mit dem eigensinnigen, capriciös gekrümmten und verdrehten Astgewirre mürrisch dazustehen schienen. Ueber den grünen Wipfeln all dieser Bäume aber lag ein mattblauer Himmel, an dem langsam vorrückende, mächtige weiße Wolken heraufzogen, die immer grauer und eisenfarbener wurden und zuletzt dem Tageslichte einen unheimlich fahlen Schimmer verliehen. Es war, als ob sie zugleich den Druck herzbeklemmender Trauer vermehrten, der auf Aurel’s Seele lag, aber er war ein zu klar blickender Mann; sein Auge war für die Erscheinungen des Lebens zu groß und unumwölkt, als daß er pessimistisch bei der Frage hätte verweilen können, ob es denn nun einmal im Schicksale der Menschenkinder liege, daß sie jede erreichte Höhe, jedes erfüllte Streben zu büßen haben mit einem Schmerze, der ihrer auf der endlich erreichten Höhe unausbleiblich harre. Er, der beneidetste Mann im Staate, hatte sich nur aufgeschwungen, um auf seiner einsamen Höhe zu erkennen, welches Glück das Leben für ihn hätte haben können. Er konnte den Gedanken, der gestern in ihm geweckt war – von dem trüben Menschheitsschicksal, daß sich das Bessere dem Unwürdigeren geopfert sehen müsse, nicht wieder los werden. Er gelangte, indem er diesen Gedanken verfolgte, zwar zu einem bitteren Selbstvorwurfe des Egoismus und der Ueberhebung; er warf sich das Unbrüderliche dieser Art zu denken vor; mußte ihm nicht in der That das Glück seiner Schwester ebenso nahe gehen, als das eigene? Konnte er nach so flüchtiger Bekanntschaft überhaupt nur über sie urtheilen? Barg ihr Herz nicht vielleicht Schätze der Empfindung, Gefühle zartester und edelster Weiblichkeit, ihr Charakter nicht vielleicht Eigenschaften, vor denen sich Alles, was in ihm war, beschämt in den Schatten stellen mußte? Aber es handelte sich ja nicht blos um Lily; es handelte sich auch um Regina’s Glück, und diese durfte er – dessen war er sich in tiefster Seele bewußt – über alle Frauen, die er kannte, stellen. Und wie himmelhoch stand sie über ihrem Bruder, der jetzt wieder zu jedem scharfen Urtheil berechtigte, jetzt, wo er feig den Kampfplatz verlassen hatte!

Aurel hatte bisher vergeblich auf die Uebersendung der Documente gewartet, welche ihm sein Vater versprochen und die er dem Herzoge vorzulegen hatte. Er begann besorgt daran zu denken, was seinen Vater abhalten möge, sie zu schicken – hoffentlich hatte der alte Herr sich nicht in irgend einen neuen Streit verwickelt beim Abzuge von Schallmeyer, oder bei einer zu lebhaften und hitzigen Erkundigung, die er nach den Einbläsern und Veranlassern der räthselhaften und bösartigen Indiscretionen der „Rothen Flagge“ angestellt. Hatte ihm das Unglück vielleicht den Doctor Milchsieber, den fleckigen Apollo, in den Weg gesandt? Dann war freilich Alles zu befürchten. Und dabei wendeten sich Aurel’s Gedanken jenem giftigen Preßerzeugniß wieder zu, dessen Ursprung in so großes Dunkel gehüllt war. Hätte er in einer größeren Welt gelebt, so hätte er sicherlich solche Ergießungen eines Winkelblattes verachtet, wie er ja längst gewohnt war, die Partei-Angriffe, die oft so hämischen und boshaften Deutungen seiner Absichten und seiner Maßnahmen zu übersehen, oder, wo sie gar zu grobe Entstellungen enthielten, in dem tonangebenden Blatte der Regierung ruhig widerlegen zu lassen. Aber in seiner kleinstädtischen Welt mußten ganz persönliche Verdächtigungen, welche zu widerlegen unter seiner Würde war, unheilvolle Wirkungen hervorbringen, seinen Feinden zu einer gar nicht abzusehenden Ausbeutung dienen, und wenn sie dem Herzoge vorgelegt wurden, auch diesen für einen Minister erkälten, den er gezwungen war, wider so niedrige Insinuationen in Schutz zu nehmen.

Aurel entschloß sich endlich, nach seinem Wagen zu verlangen und an dem neuen Quartier seines Vaters vorzufahren, um sich dort die Documente von diesem geben zu lassen.

Als er eben die Klingel gezogen und den Befehl gegeben hatte, vernahm er draußen Schritte; mit dem Diener zugleich und dessen Anmeldung zuvorkommend, stürmte der alte Thierarzt herein.

„Schöne Geschichte das,“ rief er mit bestürztem Gesicht, „da soll nun doch das Wetter dreinschlagen – die Papiere sind mir gestohlen, Aurel.“

„Unmöglich,“ sagte Aurel, „gestohlen – die Documente über Lily’s Trauung –“

„Die eben!“

„Die Du mir noch vor zwei Tagen zeigtest?“

„Zum Teufel sind sie, gestohlen, fort aus meinem Schranke – Secretär nennt Ihr das Ding wohl hier – gestohlen!“

„Du bist sicher, daß Du sie dort verwahrtest?“

„Sicher genug – ich nahm sie daraus, als ich sie Dir zeigte, und verschloß den Schrank dann wieder.“

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 321. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_321.jpg&oldid=- (Version vom 25.1.2021)