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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

„Er ist erbrochen?“

„Nicht die Spur einer Gewalttat daran.“

„Und nichts Anderes ist genommen als jene Papiere?“

„Nichts Anderes, als die Papiere – Lily’s Taufzeugniß, die Heirathslicenz und der Trauschein … Du hast gesehen, wie ich sie in einem Taschenbuche verwahrte, das noch andere Papiere von Werth enthielt – an diese ist nicht gerührt – nur Lily’s Papiere sind verschwunden.“

„Wann entdecktest Du den Diebstahl?“

„Heute – heute in der Morgenfrühe. Kam gestern nicht mehr zu dem Umzuge, den ich vorhatte. Hatte erst mit Lily zu debattiren, die ja nicht fort wollte, wie Du weißt. Dann, als ich mit Schallmeyer die Rechnung abschließen wollte, war er nicht da. Mußte ihm nachlaufen in sein Bierhaus, in ihr Hauptquartier, wo sie die ‚menschenwürdigen Zustände des Arbeiters der Zukunft‘ bei Faullenzen, Biertrinken und Räsonniren in Scene setzen …. hatte nicht mehr den Fuß hineingesetzt seit dem ersten Mal, wo ich diese Sorte Menschen kennen gelernt. Traf ihn auch, den Schallmeyer, hatte seine Känguruhschnauze mit einem wunderlichen Insect, einem Burschen, der aussah wie ein Heuschreck, zusammengesteckt – tuschelten und mauschelten da heimlich in der Ecke, die Beiden, der Becker, und …“

„Der Becker? Das ist ein Mensch, den Gollheim, wie ich höre, zu allerlei Spionirdiensten benutzt.“

„Gollheim? Nun ja; denke, ich hörte so etwas. Und so hätten wir’s denn …“

„Du glaubst …?“

„Was ist da viel zu glauben? Es ist offenbar. Es liegt auf der Hand …“

„Ich fürchte, daß Du Recht hast, Vater,“ versetzte Aurel tief nachdenklich; „obwohl ich einem Manne von Gollheim’s Stellung schwer ein Verbrechen zutrauen kann. Ein so thörichtes obendrein! Wir können ja die Papiere neu anfertigen, uns drüben neue ausstellen lassen.“

„Bist Du dessen so sicher? Doch höre weiter! Die Beiden schweigen offenbar sehr betroffen, als ich zu ihnen trete; Schallmeyer erhebt auch wider meinen Abzug keinen Einspruch; wir gehen heim und rechnen in gutem Frieden ab; dafür bekommt das Känguruh am späten Abend noch einen ‚Raw‘, einen Streit mit dem jungen Herrn Falster, der nun auch ausziehen will …“

„Der junge Mensch, den ich neulich im Garten bei Lily fand?“

„Derselbe – will mit uns in unser neues Quartier abrücken.“

„Er beweist eine große Anhänglichkeit an Euch, Vater.“

„Weshalb sollte er nicht? Lernt von mir. Explicire ihm, wie sie’s in seinem Geschäft drüben machen – ist ein geriebener Bursche, wird gut werden, denk’ ich. Und so bleiben wir denn die Nacht noch bei Schallmeyer; heute Morgen rücken wir aus, und wie wir im neuen Quartier sind und auspacken, und ich mein Taschenbuch aus dem Koffer nehme, um es zu öffnen und die Papiere daraus hervorzuholen, welche ich zu Dir hinüberbringen sollte – da seh ich die Bescherung – fort sind sie – gone away – verschwunden – weg!“

„Du hast Dich überzeugt, daß sie nicht etwa anders wohin gerathen daß nicht vielleicht Lily sie an sich genommen.“

„Schwerlich! Haben Alles durchsucht. Aber sie sind und bleiben fort – gestohlen!“

„Ich habe Dich gleich von vornherein so ungern zu diesem ‚alten Freunde‘ ziehen sehen,“ sagte Aurel gedämpft und sinnend.

„Wie konnte ich wissen, daß aus dem alten Freunde ein Dieb geworden? Denn er – er ist es ganz ohne Zweifel, der mir die Papiere gestohlen hat, um sie dem alten Gollheim zu verkaufen; zweifelst Du daran?“

„Leider – nein“ sagte Aurel. „Wenn er mit Becker verkehrte, nicht im Mindesten.“

„Es war so leicht für ihn, der sicherlich alle Schlüssel und alle verschlissenen Schlösser an seinen alten Möbeln kannte, meinen Schrank zu öffnen.“

„Es war ohne Zweifel leicht für ihn.“

„Und nun laß den Burschen beim Kragen nehmen, ihn einstecken, ihm den Proceß machen und womöglich ihn hängen!“

„Du scheinst über die Machtbefugniß eines Ministers noch immer ziemlich im Unklaren Vater!“ versetzte Aurel, trübe lächelnd.

„Wirst doch nicht Minister sein, um Dir gefallen zu lassen …“

„Was Jeder sich gefallen lassen muß; da, wo er nicht einen Schatten von Beweis hat, um sein Recht verkürzt zu werden.“

„Sodaß sich Jeder hier sein Recht selber nehmen muß?“

„Ich bitte Dich, Vater, daran nicht zu denken. Du würdest das Uebel bedeutend ärger machen. Denke, wie triumphirend die ‚Rothe Flagge‘ wehen würde, wenn Du Dich hinreißen ließest, mit Beschuldigungen Schallmeyer’s aufzutreten, welche diesen veranlaßten, Dich als Verleumder vor Gericht zu ziehen, und dann die ganze Stadt zu dem Glauben brächten, wir hätten die Documente niemals besessen“

„So bin ich hier in eine ganz verfluchte Räuberhöhle gefallen,“ rief der alte Thierarzt, zornig aufspringend; „unter lauter Niedertracht und …“

„Laß uns lieber, statt das zu erörtern, berathen, wie wir möglichst bald den Verlust ersetzen! Doch – auch dazu fehlt mir im Augenblick die Zeit. Ich muß zum Herzog und ihm erklären, weshalb ich seinen Befehl nicht erfüllen kann; vielleicht werde ich nachher mit dem Polizeidirector wegen des Diebstahls sprechen – ich werde sehen. Unterdeß begieb Dich heim und schreibe mir alle nöthigen Adressen auf, an die wir uns drüben zu wenden haben, um die Documente neu zu beschaffen – ich werde unsere diplomatischen Vertreter in Washington alsdann auffordern, die nöthigen Schritte zu thun …“

„Ich glaube nicht,“ warf der alte Lanken ingrimmig ein, „daß sie solch eine ‚Licence‘ drüben zweimal ausstellen, und was den Pfarrer, der Lily getraut hat, angeht, so wissen wir nicht, ob er das Pfarrersein nicht längst aufgegeben hat, um Shopkeeper in Frisco oder Schafzüchter in Australien zu werden.“

„Mag sein – verzagen wir darum nicht! Schwierigkeiten lassen sich besiegen. Schreib’ mir also vorläufig alle nöthigen Notizen auf! Ich muß zum Herzog.“

Aurel warf sich rasch in die nöthige Toilette und eilte dann nach unten, wo sein Wagen auf ihn harrte. Der alte Thierarzt folgte ihm langsamer die Treppe hinab und gab durch einige Verwünschungen, die er vor sich hinmurmelte, dem grenzenlosen Mißvergnügen Ausdruck, das über die ganze Wirthschaft in dem alten Lande seine biedere Republikanerseele erfüllte.




10.


Als Aurel an der Residenz vorgefahren und dem Herzog gemeldet worden war, empfing ihn dieser mit einer noch um eine Nüance kühleren Gemessenheit, als gestern.

„Sie bringen mir Ihre Documente selber, Lanken?“ fragte er.

„Ich bringe Ihnen nichts, Hoheit,“ versetzte dieser, „nichts als den Ausdruck des Bedauerns, daß ich Ihre Befehle nicht erfüllen kann.“

„Nicht? Und weshalb nicht?“ entgegnete der Herzog, offenbar sehr befremdet aufschauend.

„Weil die Papiere nicht mehr in den Händen meines Vaters sind – sie sind ihm entwendet, gestohlen, um gleich das rechte Wort zu gebrauchen.“

„Gestohlene? Seine Documente?“

„Er hat sie bis gestern in seinem Secretär verwahrt – heute haben sie – und nur sie allein – sich nicht mehr gefunden.“

„Wie ist das zu erklären?“

Aurel zuckte die Achseln … als er zu antworten zögerte, fuhr der Herzog lebhaft, fast zornig fort.

„Erklären Sie mir das, Lanken!“

„Ich kann Hoheit nur von den näheren Umständen unterrichten. Mein Vater wohnte im Hotel garni eines gewissen Schallmeyer, eines Mannes, der bereits einmal mit den Sicherheitsbehörden in Conflict geraten ist; dieser Mann, der sicherlich eine genaue Kenntniß von den seinen Miethern in Gebrauch gegebenen Möbeln und Geräthen besitzt, steht in Verbindung mit einem Marstallbedienten Becker, der die rechte Hand seines Vorgesetzten sein soll.“

„Gollheim’s?“

Aurel verbeugte sich zur Bejahung.

Der Herzog betrachtete ihn eine Weile mit sehr ernsten, mehr und mehr sich verdüsternden Zügen. Eine Falte zog sich zwischen seinen Brauen zusammen; dann drückte er mit der Hand die Enden seines blonden Schnurrbarts in seine Mundwinkel und kaute einige Augenblicke schweigend darauf. Es war das bei ihm ein Symptom einer bedeutenden Verstimmung.

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