Seite:Die Gartenlaube (1881) 334.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Visiten, die etwa von achteinhalb bis zehn Uhr währen, und dann folgt die zweite, die Hauptconferenz. Gegen Abend wiederholen sich die Rapporte des Aufseher- und Wärterpersonals, worauf die Aerzte abermals Visiten abhalten und zur dritten Conferenz zusammentreten.

Diese Concilien sind, rein menschlich genommen, vielleicht die interessantesten, die je abgehalten werden können; sie gelten dem innersten Seelenleben erkrankter Mitmenschen. Der gramsüchtige, erschütterte, wahnwitzige oder verödete Menschengeist wird hier zergliedert und bloßgelegt und der Urgrund seines Leidens verfolgt bis in die tiefsten Tiefen – und sollten diese Tiefen auch moralische Abgründe sein. Die Wissenschaft fordert es gebieterisch, und ohne Kenntniß des innersten Wesens der Krankheit fehlt der Boden für einen Heilplan vollends. Die realistische Tragik des modernen französischen Theaters ist nur ein Schattenspiel gegen die Tragik dieser Menschenschicksale, die sich oft in diesem Zimmer aufrollen und immer zu irgend einer Art von Abschluß gebracht werden. In dürftigen Worten: Man hält hier Rath über Neu-Aufnahme, unterrichtet sich über den Verlauf der Krankheiten, stellt Heilpläne fest oder modificirt dieselben, erklärt die Einen für genesen, die Andern für unheilbar, vergleicht und disputirt Diagnosen, erlöst oder verbannt einzelne Unglückliche aus den Isolirzellen oder in dieselben, sondert die verschiedenartigsten Elemente zu Stationen zusammen oder corrigirt die in diesem Punkte unvermeidlichen Mißgriffe und beschließt tausend Dinge, von denen jedes einzelne geeignet ist, auch den Laien mit einem unheimlichen Interesse zu fesseln.

Zu meinem Leidwesen ließen sich die Herren durch den Gast in ihren Berathungen bald unterbrechen, und die achtstündige Wanderung an der Seite des Chefs, eines vielerprobten und in Fachkreisen hochangesehenen alten Praktikers, begann.

Die Verwaltungsräume waren bald besichtigt; sie unterscheiden sich in ihrem geschäftlich-nüchternen Typus nicht von andern großen Anstalten. Auch das Leben auf den weitläufigen Höfen zeigt nichts Absonderliches. Man sieht eine große Schaar meist wohlgenährter, rotwangiger Leute, nett und adrett gekleidet, flink und gewandt den verschiedensten häuslichen Verrichtungen obliegen. Es sind harmlose Irre, die dem Arbeiterstand angehören und die sich auch hier in der Anstalt gern zu einer leichten, aber geregelten Beschäftigung herandrängen. Von Irrsinn kann der Laie nichts an ihnen entdecken; links und rechts treten sie zur Seite und grüßen voll Ehrfurcht ihren Director.

Anders gestaltete sich das Bild im Männergarten. An sich ist dies ein höchst anmutiger Park mit uralten Baumgruppen, wohlgepflegten Kieswegen und gutvertheilten Ruhesitzen. Wunderbar ist die Aussicht, die man von hier aus über das weite Land genießt. Die schöne Lage hat sogar einem benachbarten Gutshof den Namen „Himmelreich“ verschafft. Man blickt hinab auf den gewundenen Elbstrom, der eben die letzten Felsgruppen des Meißner Hochlandes durchbrochen und nun sich in den weiten lachenden Elbgau ergießt. Im Hintergründe erheben sich einzelne Tafelberge der Sächsischen Schweiz und die langgestreckten Gneiszüge des Erzgebirges mit ihren Basaltdurchbrüchen, die wie Riesenheuschober die Bergplateaus beleben. „Das ist auch eine Arzenei für unsere Seelenkranken,“ erklärte der Director im Angesicht der sonnenbeglänzten Gebirgslandschaft.

An den Männergarten schließen sich Pflanzgärten und Felder an, Versuchsfelder, auf denen die Garten- und Feldfrüchte Nebensache sind. Der Spaten gewinnt hier eine seelenheilende Bedeutung.

Auffällig am Männergarten ist, daß ihm alles Unterholz mangelt; man kann ihn so ziemlich mit einem Blick übersehen. Das Leben in diesem Garten ist seltsam und fremdartig.

Unser Auge ist gewöhnt, daß sich eine Anzahl von Menschen nach bestimmten, wenn auch unbewußten Regeln gruppiren; das Interesse concentrirt sich auf einen oder mehrere Sprecher; alle Gesichter richten sich auf einen Punkt und zeigen eine gewisse Analogie, so ungleich ihre Empfindungen auch sein mögen. Wie grundverschieden sind dagegen die Gruppen der Irren; hier fehlt der Mittelpunkt, wenn auch gesprochen wird und oft viel gesprochen wird; die Beziehungen sind verschoben; die Irren stehen durch einander, wie die Bildsäulen in einem Museum, wenn gebaut oder gescheuert wird. Das Volkswort „verrückt“ erhält hier eine räumliche, eine thatsächliche Erklärung, nur könnte man es in „verstellt“ abmildern.

Hier hat Jeder sein eigenes Tempo. Einige gehen wie hinter einem kleinstädtischen Leichenzug; andere eilen, wie die Schneider an hohen Festtagen zu ihrer ungeduldigen Kundschaft; Einzelnen genügt auch dieses Tempo nicht mehr; sie streiten laut mit dem Himmel oder mit dem Fußboden, und ihr Gang ist ein Spiegelbild von der Hetzjagd der Ideen in ihrer kranken, fast immer mit inneren, nur für sie hörbaren Stimmen kämpfenden Seele. Der Morgenländer erklärt diese Art der Irren für heilig; das ist mir hier verständlich geworden. Wie der Schritt sicher, fest und energisch, so ist auch die Satzbildung, in der sie ihren Irrsinn laut werden lassen, meist correct und gut gegliedert; die Stimme ist kraftvoll; der Strom ihrer Worte erhebt sich zuweilen bis zur Begeisterung, bis zur Erhabenheit eines Sehers, und alles Getragene, auch wenn es unverständlich, hat ja auf naive Gemüther immer eine bestimmte Wirkung.

Die gefährlichen, zu Insulten geneigten Kranken erhalten auch zu eigenem Schutze handfeste Wärter als Begleitung. Auffällig häufig sind diese gewaltthätigen Patienten die wohlerzogensten Leute, die für gewöhnlich die besten Manieren an den Tag legen, aber es ist, als ob die künstlichen Schranken, der wohlgefügte Aufbau der Bildung, der auch im Leben so vieles Unheimliche verbirgt, von dem Irrsinn um so gewaltsamer durchbrochen würde, etwa wie ein eingedämmter Krater seine Schranken mächtiger durchbricht, als ein offener.

Weniger aufregend sind die Scenen in den vorhin beregten Pflanzgärten und auf den Anstaltsfeldern. Der Irrsinn verbirgt sich hier völlig hinter einer lustigen Geschäftigkeit; man sieht, die Kranken sind glücklich dabei; der Instinct mag ihnen sagen, daß die physische Arbeit für Körper und Geist eines der vornehmsten Heilmittel ist. Nur der Größenwahn weist sie auch hier im Irrenhause weit von sich; namentlich hat man mit gebildeten Oekonomen und Officieren seine liebe Noth; denn bei ihnen sitzt der Irrwahn, daß die körperliche Arbeit entehre, von gesunden Tagen her zu fest, als daß er schnell ausgerottet werden könnte.

Der Friedhof liegt ebenfalls am Männergarten; er ist ein Idyll. Kein pomphaftes Grabmal drängt sich anspruchsvoll hinein in diesen Gräberfrieden; uralte Bäume beschatten ihn, und die Grabhügel liegen so still und weltvergessen darunter – das ganze Bild ist in die freundlich-ernste Poesie der Todesruhe getaucht. Jetzt schlummern sie still, die Unglücklichen, deren Seele nur zu oft wider die Leibesschranken getobt, bis diese zusammenbrachen und der Friede einzog in das zerrüttete Haus. Hoffen wir zu den Sternen, daß diese ihre Seelen nicht unsterblich gewesen sind, wie sie es nach den Consequenzen frömmelnder Anschauung ja sein müßten!

Ganz im Hintergrunde der Anstalt, am Ende des großen Gartens, erhebt sich das Reservehaus. Director Lessing ließ es zur Vorsorge erbauen, für den Fall, daß epidemische Krankheiten auf dem Sonnenstein ihren hier doppelt unheimlichen Einzug halten würden. Die Epidemien sind ausgeblieben; die herrliche Bergluft scheint ihnen ein unbezwinglicher Widersacher zu sein – dafür haben leider die Seelenkranken so überhand genommen, daß jetzt auch das Reservehaus völlig von ihnen besetzt ist.

Der Gesammt-Krankenbestand auf dem Sonnenstein mag das halbe Tausend bald erreicht haben. Jede Station verfügt über ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer und das nöthige Zubehör. Die großen Corridore sind gemeinschaftlich und die Wohnungen der dritten Classe einfach, doch behaglich in ihrer Ausstattung; nichts erinnert an die gewohnte Anstalts Uniformität. Die Kranken wohnen hinter blumigen Gardinen. Im Schlafzimmer, das meist dicht an der Wohnstube liegt, schläft auch der Wärter mitten unter seinen Schutzbefohlenen, nur geschirmt von der Liebe und dem Vertrauen, das er sich bei ihnen zu erringen wußte. Die Betten sind peinlich sauber und die Linnen breiten sich darüber aus wie Schlehdornblüthe. Kranke aus gebildeten Ständen, die wegen Mittellosigkeit in der dritten Classe untergebracht werden mußten, sendet man rücksichtsvoll in eigene Stationen, giebt ihnen entsprechende Wärter und angemessene Beschäftigung und beköstigt sie ihren Lebensgewohnheiten gemäß.

Die zweite Classe weist Zimmer von guter altbürgerlicher Einrichtung auf; sie sehen etwas altfränkisch, aber höchst gemüthlich und behäbig aus, und das Hyperzierliche der modernen französischen Einrichtungen fehlt ihnen glücklicher Weise. Die Kranken der ersten Classe wohnen vornehm, doch ohne Luxus.

Im Reservehaus ist leider einer Station von tieferschütterndem

Charakter zu gedenken. Es ist kein Tobhaus – im Gegentheil:

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 334. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_334.jpg&oldid=- (Version vom 12.9.2022)