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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Skandinaviern und Slaven, Finnen und Lappen ist die Trunksucht ebenso und meist noch weit schlimmer verbreitet, als im deutschen Volke. Das rauhere Klima und der unfruchtbarere Boden erheischen ein ungleich größeres Maß anregender, belebender, stärkender Genußmittel, als unter der milden Sonne des Südens nothwendig ist; dies ist der entscheidende Gesichtspunkt der ganzen Frage, den man nie aus den Augen verlieren darf, falls man das entsetzliche Laster der Trunksucht erfolgreich bekämpfen will.

Wenn die höheren Stände unseres Volks soviel mäßiger und nüchterner geworden sind, als im fünfzehnten und sechszehnten Jahrhundert, wo die schamloseste Völlerei gerade an Höfen und in Klöstern am ärgsten tobte, so wäre es thöricht anzunehmen, daß wir aus so viel besserem Stoffe gemacht seien, als das gewaltige Geschlecht, welches die Reformation vollbrachte; vielmehr haben uns die riesigen Fortschritte des menschlichen Verkehrs, die massenhafte Zufuhr von Kaffee, Thee, Zucker, von ausländischen Weinen und nicht zuletzt auch die Erfindung, den Alkoholgehalt des Bieres beträchtlich zu vermindern, an ungleich gesundere oder mindestens unschädlichere Stärkungsmittel gewöhnt, als sie in jenen Tagen selbst den reichsten Leuten erreichbar waren.

Freilich dieser Lichtseite eines unverkennbaren Fortschrittes steht eine um so dunklere Schattenseite gegenüber, die man so vor dreihundert oder selbst nur vor hundert Jahren nicht kannte, jener menschen- und völkervernichtende Branntweinteufel, in welchem die Trunksucht unserer Epoche ihre kennzeichnende Gestalt gewonnen hat. Noch im vorigen Jahrhundert wurde in Deutschland nur wenig Branntwein destillirt und zwar nur aus Korn; diese Brennerei beschränkte sich fast nur auf einzelne größere Städte, wie Münster, Nordhausen etc.; zudem ließ man das Getränk jahrelang im Keller liegen, damit es seinen brennenden Geschmack verliere und weniger berauschend wirke. Dieser Stand der Dinge war noch nicht gefährlich; erst die unaufhörlichen Kriege im Anfange dieses Jahrhunderts trugen die Liebe zum Branntwein in jedes Haus, in jede Hütte; die Soldaten suchten in ihm Ermuthigung und Kraft, die Bürger Vergessenheit für ihre Entbehrungen und ihr Elend. Die größere Nachfrage rief Brennereien auch auf dem platten Lande als Nebengewerbe der Gutsbesitzer und Pächter hervor, namentlich in Hannover und Braunschweig, doch auch damit war die Branntweinpest noch nicht geboren, wenigstens nicht in ihrer schlimmsten Gestalt. In dieser Form sprang sie vielmehr, eine gepanzerte Furie, aus dem unscheinbaren Leibe der Kartoffel hervor. Seitdem man entdeckte, daß man Branntwein nicht nur aus Korn, sondern noch lohnender und massenhafter, aber freilich auch viel schlechter, aus Kartoffeln herstellen könne, verzog sich diese Brennerei aus dem kornbauenden Nordwestdeutschland in das kartoffelbauende Nordostdeutschland, in die altpreußischen Provinzen östlich der Elbe und nahm hier einen ungeheuren Aufschwung, und zwar namentlich dadurch, daß die Großgrundbesitzer die Geldentschädigungen, welche ihnen für Ablösung der Frohndienste von den Bauern gezahlt wurden, zur Anlage von Branntweinbrennereien verwandten. Schon 1827 wurden in Preußen 125 Millionen Quart Schnaps gebrannt, in Hannover dagegen, das noch fünfzehn Jahre früher am meisten Branntwein in Deutschland hervorgebracht hatte, nur 18 Millionen Quart.

Diese geschichtliche Entwickelung hat in mannigfacher Beziehung bestimmend auf die deutschen Geschicke gewirkt; ihre moralische Beurtheilung unterliegt allerdings den allerverschiedensten Urtheilen. Herr von Kardorff pries vor einigen Jahren im Reichstage überschwänglich die „Spritindustrie“, wie unsere Junker wohlklingend die Branntweinbrennerei nennen; er rühmte ihr nach, daß sie jetzt 3000 Menschen auf der Quadratmeile ernähre in Gegenden, wo früher nur 1000 Menschen auf gleichem Raume gehaust hätten, daß die Brennereien ein nothwendiger Absatzmarkt für die Kartoffeln seien, indem sie diese schwer zu transportirenden Bodenfrüchte in den leicht transportablen Alkohol verwandelten, und daß sie endlich durch zahlreiche Futterrückstände den Acker fruchtbarer machten. Hiergegen suchte dann freilich der scharfsinnige Socialist Engels mit großem Aufwande von Gelehrsamkeit in einer grimmigen Streitschrift nachzuweisen, daß jene Vermehrung der Bevölkerung nur ein proletarisch verkommenes Helotengeschlecht für den Junkerdienst erzeugt habe, daß der billige und giftige Kartoffelfusel nicht nur ganz Deutschland verheerend überschwemmt habe, sondern auch in großen Mengen exportirt werde, um im Auslande den Cognac, Rum, Wein zu verfälschen, daß die ganze „Spritindustrie“ die deutsche Entwickelung um Jahrzehnte zurückgeworfen habe, theils durch die Entsittlichung und Verwilderung der Massen, theils durch den socialen Rückhalt, den sie dem Junkerthum gebe.

Es kann und soll hier nicht näher auf einen Streit eingegangen werden, der wohl auf beiden Seiten arge Uebertreibungen hervorgerufern hat; soviel steht jedenfalls historisch fest, daß in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts das Branntweintrinken eine grauenvolle Landplage wurde; sie rief in allen vaterlandsliebenden Kreisen die größten Besorgnisse hervor und legte dem greisen Könige Friedrich Wilhelm dem Dritten das treffliche Herrscherwort auf die Lippen, er werde den Tag als den schönsten seiner Regierung segnen, an welchem die Branntweinsteuer keinen Pfennig mehr einbrächte.

Erst allmählich, in den vierziger Jahren, besserten sich diese traurigen Zustände einigermaßen. Sowohl der Fortschritt der nationalen Gesittung, der mehr Licht und Luft in die arbeitenden Classen brachte, wie das freiere Leben im Staate, das sich in mancherlei Fürsorge für die unteren Volksschichten kundgab und diese höheren Zielen nachstreben lehrte, endlich aber auch die Wirksamkeit begeisterter Mäßigkeitsapostel und ähnliche Umstände trugen dazu bei. Aber an der Wurzel wurde das Uebel allerdings nicht gepackt. Der Branntwein blieb das Lieblingsgetränk in den weitesten Kreisen; er galt und gilt noch heute großen Schichten des Volkes als unentbehrlich, und diese Ansicht ist ja kürzlich auch von sehr hoher staatsmännischer Seite vertheidigt worden. Man wird nur an dieser „Unentbehrlichkeit“ zweierlei unterscheiden müssen: Unentbehrlich ist der Branntwein allerdings, so lange er den arbeitenden Classen, sei es wegen der geringen Höhe ihres Lohnes, sei es wegen des hohen Preises anderer Genußmittel, als einziges Erfrischungs- und Stärkungsmittel für Bewältigung schwerer Anstrengungen zugänglich ist. Fällt diese Voraussetzung fort, so ist er schlechthin entbehrlich; denn er wirkt immer schädlich auf Geist und Körper - natürlich mit Ausnahme der Fälle, in denen er als Heilmittel verordnet wird - und muß in jedem Betrachte jedem anderen Genußmittel, wie Bier, Kaffee, Thee etc. nachstehen. So lautet das Urtheil der medicinischen Wissenschaft, und ihr gebührt hierin das entscheidende Wort.

Die Verwüstungen, welche auch heute noch die Trunksucht an dem Organismus des einzelnen Menschen, wie namentlich auch an dem der Gesellschaft anrichtet, sind ganz unabsehbar. Das classische Werk von Baer über den Alkoholismus deckt sie in allen ihren tausendfältigen Verzweigungen auf; hier muß genügen, darauf hinzuweisen, daß die Trunksucht die Ursachen der Krankheiten und der Sterblichkeit erheblich mehrt, daß ein großer Theil der Selbstmorde und ein noch größerer Theil der Geistesstörungen auf sie zurückgeführt werden muß, daß sie sich als die ergiebigste Quelle der Verarmung ganzer Volksschichten darstellt, daß sie alles Familienglück vernichtet, den Sinn für öffentliche Ordnung und Rechtssitte untergräbt, vor Allem endlich, daß ihre verheerenden Wirkungen auf Geist und Körper sich der Nachkommenschaft vererben, somit eine allgemeine Verschlechterung der Rasse herbeiführen und im buchstäblichen Sinne des Worts die Sünden der Väter an den Kindern rächen bis in’s dritte und vierte Glied. In innigster Verschwisterung steht die Trunksucht auch mit dem Verbrechen; seit Jahrzehnten ist in den verschiedensten Gegenden beobachtet worden, daß, je nachdem sie ab- oder zunimmt, auch die Verbrechen ab- oder zunehmen. Die Zahl der Gefangenen, welche mittelbar oder unmittelbar als Opfer der Trunksucht anzusehen sind, wurde 1877 in verschiedenen Anstalten Englands auf sechszig bis neunzig Procent der Insassen ermittelt, und in Deutschland hat der eben erwähnte Doctor Baer unter etwa 33,000 Gefangenen etwa 7000 Gelegenheits- und ebenso viel Gewohnheitstrinker gefunden.

Einen so verderblichen Krebsschaden zu heilen, ist sicherlich ein Ziel, das im höchsten Grade des Schweißes der Edlen werth ist. Die nächstliegende, aber auch äußerlichste und wirkungsloseste Waffe des Staats ist die Bedrohung des Trinkers mit Strafe. Sie ist seit tausend Jahren in den verschiedensten Staaten nach den verschiedensten Methoden gehandhabt worden, aber immer ohne nennenswerthen Erfolg; daß auf diesem Wege niemals eine wesentliche Einschränkung des Lasters selbst erreicht werden kann, giebt sogar die Begründung des neuesten Reichsgesetzentwurfes über die Bestrafung der Trunksucht zu. In die vier Wände des Trinkers kann das Strafrecht niemals dringen; es muß sich darauf beschränken den Schuldigen zu strafen, wenn er auf Märkten und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 347. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_347.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)