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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

No. 22.   1881.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Bruderpflicht.

Erzählung von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)


Unabweislich drängte sich Aurel der Gedanke auf, wie sein Vater doch vor Jahren sich so leicht von Weib und Kind getrennt habe. War das die Wirkung der stürmischen Bewegung jener Zeit gewesen, der Aufregung des politischen Fieberzustandes, in welchem er sich befunden? Oder hatte nach und nach das Leben, der Wechsel der Schicksale und alles, was den alternden Menschen weicher und weiser macht, auch seines Vaters Gemüthsleben vertieft und ihn fähig gemacht, jetzt mit so inniger Rührung an seine Grasmücke zu denken, mit einer Rührung, die Aurel um so mehr ergriff, je mehr er sich sagte, daß ein Charakter, wie der seines Vaters, so etwas vor dem Auge der Welt zu verbergen pflegt?

Und dann kam Aurel plötzlich ein häßlicher Gedanke, den er gleich darauf sich selbst vorwarf; ein Wort eines Schriftstellers – er wußte nicht mehr welches – fuhr ihm durch den Sinn: Die größten Opfer werden zumeist solchen Frauen gebracht, welche es am wenigsten verdienen.

Opfer waren freilich Lily große gebracht worden. Ihr Vater hatte dem, worin sie ihr Glück gesehen, seine ganze, zufriedene und geordnete Existenz dort drüben zum Opfer gebracht. Und er, Aurel, hatte er nicht auch im letzten Grunde ihr seine Ministerstellung, ihr die Hand Regina’s, ihr sein eigenes Lebensglück zum Opfer gebracht? Aber dem Gedanken, den jener Schriftsteller ausgesprochen, deshalb nachhängen zu wollen – es wäre furchtbar ungerecht gewesen; es wäre übrigens auch unmöglich gewesen, weil in diesem Augenblick der Wagen vor der Hausthür des neuen Hotels, welches Lanken bezogen hatte, hielt.

Vater und Sohn verließen rasch den Wagen, traten durch die offene Hausthür ein und eilten die Treppe zu Lily’s Zimmer hinauf. Als der alte Lanken dasselbe mit einem frohbewegten Ausruf: „Da bin ich wieder, kleine Lily,“ betrat, fand er es zu seiner Ueberraschung leer. Sie mußte im Nebenzimmer sein, dem von ihm selbst bewohnten – aber auch dies war leer. Wo war die kleine Lily? War sie in der Sorge um den Vater ausgeflattert, ihn zu suchen? Das arme Kind irrte vielleicht rathlos umher.

Aurel zog die Klingel. Ein Kellner erschien und brachte auch eine Auskunft, eine doppelte: eine mündliche und eine schriftliche, letztere in Gestalt eines Billets, das er dem alten Lanken überreichte. Die mündliche lautete, die junge Dame sei am gestrigen Abende abgereist; sie habe sich zu dem letzten Abendzuge, elf Uhr fünfzig Minuten, auf den Bahnhof fahren lassen.

„Welche Idee!“ rief Aurel. „Welche unglückliche Idee! Sie hat sich entschlossen – Ludwig nachzufolgen; sie hat ohne Zweifel Nachrichten von ihm erhalten.“

Der alte Lanken hatte das Billet aufgerissen und überflogen. Schreckensbleich mit aufgerissenen Augen reichte er es Aurel.

„Da – lies!“ stammelte er mit zitternder Lippe, „und sieh, ob Du’s begreifst!“

Das Billet war in englischer Sprache abgefaßt; zu deutsch lautete es ungefähr:

„Schilt nicht auf Dein armes Vögelein, dear old Governor, das davon flattert. Franz hat Recht – es war so unwürdig für mich, in dieser Lage auszuhalten. Franz ist der Einzige, der das mit mir empfindet, der ein Herz dafür hat, wie peinvoll es für mich ist. Franz kam heim und sagte, Du würdest wegen eines ‚Raws‘ in einem Volksmeeting von der Polizei zurückgehalten und werdest nicht heimkommen, und wir sollten die Stunden benutzen. Deshalb muß ich sehr schnell meine Sachen packen und kann Dir nur dies schreiben, damit Du Dich nicht ängstigst: Ich gehe mit Franz; er bringt mich zu seinen Verwandten. Wird auch alles Nöthige besorgen, daß ich von Ludwig ganz frei werde und wir uns heirathen können. Wird Dir auch ganz ausführlich schreiben – Alles, oder ich werde es thun. Deine arme Grasmücke. In Eile.“

Aurel stand wie vom Schlage getroffen, als er diese naive Epistel gelesen hatte; er starrte seinen Vater an und sein Vater starrte ihn an. Aurel fand zuerst die Sprache wieder:

„Sie ist – wahrhaftig – wenn dies nicht die Worte einer Verrückten sind, so ist sie –“

„Durchgegangen. Sie ist mit ihm durchgegangen.“

„Mit ihm – mit Franz – wer ist Franz?“

„Franz – der geschniegelte Windhund, der Stutzer von einem Buchhalter, der sich an uns drängte, uns mit seinen Aufmerksamkeiten verfolgte, mir gute Cigarren auftrieb, Lily ‚Love-stories‘ vorlas. Hätt’ ich eine Ahnung gehabt … Höll’ und Teufel!“

„Und wie heißt dieser Mensch?“

„Devil and hell!“ wiederholte der alte Thierarzt und erhob beide Fäuste, als ob er Teufel und Hölle zum Kampfe herausfordere. Aurel stand wie versteinert. Dann lachte er bitter auf.

„Du lachst noch?“ fuhr der alte Lanken mit seinem dunkelroth gewordenen Gesicht zu ihm herum.

„Wahrhaftig – es muß doch einer sein, der am Ende der Tragikomödie lacht, in der wir Beide eine so grausam komische Rolle gespielt haben.“

„Am Ende – am Ende … ich denke, wir stehen noch lange nicht am Ende,“ rief der alte Lanken. „Diesen Menschen, diesen Herrn Falster wird man trotz seiner Windhundbeine einzuholen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 353. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_353.jpg&oldid=- (Version vom 25.1.2021)