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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

an der Leiche Verdacht erregt haben, und daß er zu Allem fähig ist, wer wollte das leugnen?“

„Richtig,“ antwortete der Wirth, „und was waren das für Aeußerungen? Daß er den Leuten erklärte, welches Schußwunden und welches Stichwunden seien; da müßte jeder Chirurg, der das auch sagt, eingesteckt werden und ein Verbrecher sein.“

„Sind es auch die meisten,“ lachte nun der Jäger hinter dem Tisch, „möchte nicht wissen, wie Viele der unsere schon unter den Boden gebracht hat. Was aber den Mord am Wildberger betrifft, so ist dem nur Recht geschehen; er war ein Tropf; er hat an vielen Leuten schlecht, niederträchtig schlecht gehandelte durch Betrug und Wucher hat er seinen Reichthum erschwindelt – ihm ist Recht geschehen.“

Der Jäger stand auf, nahm sein Gewehr über die Schulter und sagte noch im Abgehen:

„Wer den erschlagen hat, der wird niemals entdeckt werden. Was da geschehen ist, war ein Act der Volksjustiz.“

„Jawohl, Lynchjustiz, wie sie drüben bei uns sagen,“ fiel der Montafuner mit seiner tiefen Stimme ein.

Der Jäger schritt hinaus. Sebald sah ihm staunend nach. „Volksjustiz!“ Das Wort hatte er noch nie gehört. Er mußte lachen.

„Auch ich,“ rief jetzt der Wirth, „weiß schlechte Streiche genug von dem Händler; er war ein Cujon, aber Recht bleibt Recht, und der Rechtsweg darf nicht umgangen werden.“

„Wißt Ihr auch, Wirth,“ begann jetzt einer der Maurer, „daß es heißt – und ich habe es von meinem Vater gehört – es sei an der Stecke, wo der Mord geschah, ehedem ein Gerichtsplatz gewesen; es wurde da unter Gottes freiem Himmel vom Volke, nicht von gelehrten und besoldeten Richtern geurtheilt.“

„Ich hab’ auch davon gehört,“ nickte der Andere dazu, „und beim Abbruch der alten Burg hat man unter den Dielen zwei Gerippe gefunden; dort muß wohl was gewesen sein.“

„So viel weiß auch ich,“ fiel hier der Steinklopfer ein, „daß in der ersten Weihnacht ein Reiter auf einem Schimmel aus dem Berg hervorkommt und dreimal um die Schloßruine reitet; dann verschwindet er wieder.“

„Laß Dich nicht auslachen, Wegmacher!“ sagte der Wirth, „solche Geschichten sind für die alten Weiber.“

Alles lachte. Sebald aber schwieg und schickte sich an, fortzugehen. Während er die Rechnung berichtigte, kam der Wirth auf ihn zu und legte seine Riesenhand vertraulich auf seine Schulter.

„Nicht wahr, Herr Oberschreiber, sagte er, „da sind wir zwei anderer Ansicht, wir Juristen?“

„Ich muß aufrichtig bekennen,“ gab dieser zur Antwort, „ich höre die Worte Volksjustiz und Volksgericht heute zum ersten Mal in meinem Leben und weiß nicht, was ich davon denken soll – ich will aber nachschlagen; ich werde nachschlagen.“

Das Gespräch hatte ihn auf einen ganz neuen Gedankengang gebracht, und er war im Weitergehen ausschließlich damit beschäftigt. Es gab also Menschen, die eine solche That als gerechte Urtheilsvollstreckung betrachteten und aus eigener Machtvollkommenheit ausübten, und zwar da, wo die Hand der gewöhnlichen Justiz ein verbrecherisches Thun nicht erreichen konnte, und dies galt bei ihnen als kein Mord, sondern als ein Rache-Act der beleidigten Menschheit. Sebald hatte wohl einmal von der heiligen Vehme gelesen – und ein solches Gericht sollt’ es jetzt noch geben? Ihn schauderte anfangs, allmählich aber begann ein Gefühl von Genugthuung, ja von Bewunderung sich in ihm zu regen.

Plötzlich fiel ihm bei, daß er einen Auftrag des Advocaten auszurichten, nämlich einen Brief im Hause eines Clienten abzugeben habe. Er hatte, obwohl das Haus nahe bei der Straße lag, ganz vergessen, sein Mandat auszurichten, und war schon eine geraume Strecke davon entfernt, als er sich des Briefes erinnerte; die Sache war von Wichtigkeit – er mußte nochmals zurück.

Da er öfters mit dergleichen Anfangen betraut wurde, so war er mit den Räumlichkeiten des Hauses bekannt und wußte, daß um diese Zeit – denn es war schon ziemlich spät geworden – die Hausthür nach der Straße zu geschlossen, die zum Hofraum führende dagegen um diese Zeit noch unverriegelt war. Um kein Aufsehen zu erregen, nahm er sich vor, durch letztere einzutreten. Er wußte den Drücker, der aufschloß, und konnte seinen Brief an einen der Dienstboten, die um diese Zeit noch wachten, abgeben.

Kaum aber hatte er die Thür so leise wie möglich geöffnet, als ihm die Frau des Hauses begegnete und mit dem Schrei – „ein Mörder, ein Mörder!“ zurückbebte und die Treppe hinaufsprang. Sebald selbst war nicht wenig erschrocken und entschuldigte sich mit ängstlicher Stimme, daß nur er es gewesen sei.

„Aber um Himmelswillen,“ redete die Frau ihn an, „wie mögt Ihr Euch da hereinschleichen und uns erschrecken in so später Nachtstunde?“

Er übergab seinen Brief und beeilte sich, nach wiederholter Entschädigung fortzukommen. Als er draußen in der Nacht allein dahin schritt, gellte der Angstruf „ein Mörder!“ ihm nach, und das gräßliche Wort fand einen grausigen Wiederhall in seiner ohnehin schon geängstigten Seele.

„Nicht zu hoch!“ war sonst seine Antwort gewesen, wenn er den Spott über seinen Namen und Höcker ironisch zurückwies.

„Nicht zu hoch!“ sagte er jetzt zu sich selbst. „Was ging es eigentlich mich an, wer den Wildberger umgebracht hat, und was hab’ ich von meinem Nachspüren ? Dankt's mir Jemand ? Nein – die Spötter haben nur wieder einen neuen Anlaß, über mich zu lachen. Mir schlägt Alles zum Unglück aus; mein guter Wille selbst bringt mir Nachtheil und Verdruß. Nicht zu hoch, Sebald, nicht zu hoch hinaus!“

Traurig wandte er seine Schritte der Heimath zu. – Der folgende Tag war ein Sonntag. Sebald besuchte die Predigt. Der Geistliche, noch ein junger Caplan, predigte über die Gewissensruhe. Seine Rede, mit poetischen Floskeln „aus den Werken der besten Schriftsteller“ geschmückt, schilderte nachdrücklich die Seelenpein des Sünders gegenüber der heiligen Sabbathfeier im Gemüthe des Schuldlosen. Er zeigte, wie Jenen die böse That verfolge, wie sie ihm durch Arbeit und Zerstreuung nachgehe, ihm die Liebe seiner Mitmenschen unerträglich mache, seinen Schlaf, seine Träume vergifte, wie er bei jedem Worte erzittern müsse.

„Er deutet auf mich,“ sprach Sebald zu sich selbst, „genau so sieht es in meinem Innern aus, und doch bin ich unschuldig und habe nichts verbrochen, und der wirkliche Thäter sitzt jetzt vielleicht sorglos in einer Schenke und zecht. Was ist denn nun das Gewissen? – O, der auf seiner Kanzel droben lügt auch, und die ganze Welt lügt und will betrogen sein. Bin ich besser? – Welch schreckliche Gedanken!“ Ein lautes Ach schloß seine Betrachtung. Es wurde gehört, und Alles in der Kirche sah auf und nach ihm. Er hätte aufspringen mögen und unter die Gaffer hineindonnern. „Was seht ihr mich an? Ich bin es nicht.“ Aber er schämte sich und schlug die Augen nieder. – Nach dem Gottesdienst eilte er so schnell wie möglich nach Hause, ohne Jemanden zu grüßen. Die Bauern sahen ihm nach und sagten lachend zu einander: der muß wieder einen schweren Proceß auszumachen haben.


(Schluß folgt.)


Die Heimstätte der Rattenfängersage.

Wer ein im Ganzen noch wenig gekanntes, aber herrliches Stück deutscher Erde schätzen lernen will, der befahre nach dem Feste der Maien von Münden oder Höxter aus die Weser zu Thal bis zu dem Punkte, wo sich am rechten Ufer die Hannover-Altenbekener Eisenbahn mit der Linie Löhne-Bienenburg kreuzt. Hier mischen zwei Flüßchen ihre klaren Wasser mit den grünen Wellen der Weser, von denen das rechts mündende Deutschlands Rattenfängerstadt den Namen gab. Gegenüber dem Flüßchen Humme und der sogenannten Klüthöhe ergießt sich nämlich die vom Süntel kommende Hamel in die Weser, und die große Fruchtbarkeit der Gegend mag wohl die nächste Veranlassung gewesen sein, daß schon um 755 ein Graf von Büren unweit jener Mündung das St. Bonifacius-Stift, dessen Münster noch heute die Hauptzierde Hamelns bildet, gründete. Die Stadt selbst entwickelte sich erst zur Zeit Karl's des Großen aus neun, jene fuldaische Stiftung umlagernden Siedelungen und Dörfern unter der Bezeichnung Hameloa, das ist Hamelaue. Zur Unterscheidung von naheliegenden Orten mit ähnlichen Namen, wie Hamelspringe, taufte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 372. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_372.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)