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verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

No. 26.   1881.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Ungleiche Seelen.

Novelle von R. Artaria.
(Fortsetzung.)


Ja, Erich war ein Anderer geworden; er befand sich seit seinem Morgenbesuche im „Grand Hôtel“ in einer so außerordentlichen Stimmung, daß er die übrige Welt vollständig vergessen hatte. Er fühlte sich wie von einer elementaren Gewalt ergriffen, und es stand nicht mehr in seiner Macht, ob er so empfinden wollte, wie er empfand. Zum ersten Mal ging ihm außer der Kunst noch eine andere berauschende Zukunftshoffnung auf, und er brauchte Zeit, sich in seinem völlig veränderten Selbst wieder zurechtzufinden.

Heute Morgen, beim ersten Wiedersehen nach kurzer Trennung, war es ihm klar geworden, was es denn eigentlich war, das ihm alle die Tage her ein so freudig erhöhtes Lebensgefühl gegeben hatte. Der erste Wiederanblick der schlanken, wohlbekannten Gestalt, wie sie, ohne seinen Eintritt in den kleinen Salon zu gewahren, regungslos, den Kopf auf die verschlungenen Hände gestützt, an der Balconbrüstung lehnte und auf die menschenwimmelnde Riva hinunterblickte, hatte sein Blut in namenlosem Entzücken zum Herzen gedrängt; er wußte in jenem Moment mit plötzlicher innerer Erleuchtung, daß in dem Blicke dieser Augen für ihn alle Seligkeit der Welt zu finden sei, und es schien ihm fortan undenkbar, fern von Leontine sein Leben hinzubringen.

… Der erste Frühling der Liebe, die entzückende Zeit, wo auf einmal ohne bestimmten Grund das Leben so schön wird und das Herz sich voll wunschloser Seligkeit an einem Blick, einem Lächeln berauscht, lag mit den drei sonnenhellen Tagen am Gardasee und in Verona bereits hinter ihm. Die eine in wachen Träumen hingebrachte Nacht hatte jene verzehrende Sehnsucht in ihm entzündet, die wohl noch eine Zeit lang durch stündliches Beisammensein zu beschwichtigen ist – und dann Alles an Alles setzt.

Hindernisse schüren solche Flammen nur höher; Erich empfand ein Gefühl, wie die sturmfesten Schiffer seiner Heimath, wenn der erste Windstoß über das Meer her fährt, als er die großen Schwierigkeiten ermaß, mit welchen er zu kämpfen haben würde, aber die Gewalt seiner Empfindungen wog alle furchtsamen Bedenken auf, und zudem trug er ja seit heute Morgen die Ahnung im Herzen, ihr nicht gleichgültig zu sein.

Er sah Alles wieder vor sich: ihre freudige Ueberraschung, als sie, ihn gewahrend, vom Balcon in’s Zimmer hinein eilte und ihm beide Hände kameradschaftlich entgegenstreckte. Er wußte gar nicht, daß die ungenirte Sicherheit des Wesens, mit der sie dann, rasch gefaßt, ihm auf einen Fauteuil deutete und sich selbst in den andern sinken ließ, ihm früher nicht an Frauen gefallen hatte; es fiel ihm gar nicht ein, darüber nachzudenken: gehörte es doch Alles zu dem einen, entzückenden Ganzen, und gerade all dieses Neue beherrschte ihn mit unwiderstehlicher Macht.

Während er ihr so gegenüber saß und, ohne recht zu wissen, was er eigentlich sagte, von dem festlichen Treiben in der Stadt erzählte, hingen seine Augen wie gebannt an den graziösen Linien ihrer Gestalt; mit geheimer Wonne genoß er den plötzlich um so viel Grade vertraulicher gewordenen Ton, dessen selbstverständliches Eintreten beim ersten Alleinsein alle Liebenden überrascht. Von der Riva herauf tönten Schifferrufe, und die Laute des lebhaften Menschentreibens drangen durch die offene Balconthür herein.

„Es wimmelt schon gehörig in Venedig,“ sagte Erich, „wenn man auch nicht gerade, wie Freund Bartels meint, überall mit den Köpfen und Gondeln an einander rennt. Der Canal sieht imposant aus in seinem Flaggenschmuck; die alte Größe ragt doch wieder einmal siegreich über die moderne Kleinheit empor. Soeben ist Victor Emanuel herein gefahren; ich sah die einfache Gondel, die ihn und seinen Adjutanten führte.“

„Ja, Papa und Herr Nordstetter sind auch an den Canal gegangen, um ihn zu sehen.“

Herr Nordstetter! Erich hatte bisher mit keinem Gedanken mehr dieses Herrn gedacht; nun berührte ihn plötzlich der Name desselben mit ausnehmend widerwärtigem Klänge.

„Und Sie selbst wollten nicht mit?“ fragte er rasch und sah sie forschend an.

Keine Spur von Verlegenheit in dem klaren Blicke der kühlen blauen Augen! Sie legte den Kopf in die Sessellehne zurück und sagte ruhig: „Nein! Ich liebe das Menschengedränge nicht und fühle mich nicht gern als ein Stück ‚Masse‘. Ich kann bis morgen warten, bis zur Ankunft unseres Kaisers; da kommt wenigstens ein persönliches Interesse hinzu. Gerade vorhin überlegte ich da draußen, ob ich mir eine Gondel nehmen und ganz auf eigene Faust ein Stück in’s einsame Weite hinausfahren sollte.“

„Seltsam,“ sagte Erich betroffen. „Ist das nun der ganze Eindruck, den diese wunderbare Stadt auf Sie macht? Ich fühlte mich heute mit großem Vergnügen als einen Theil der lustigen Menge, gondelte stundenlang drunten herum und genoß dabei den Anblick dieser märchenhaften Renaissancepracht mit dem ausgezeichneten Appetite eines Menschen, der sechs Jahre Hungercur in Deutschland durchgemacht hat. Es waren reizende Stunden.“

„Sie haben überhaupt das Talent, sich glücklich zu fühlen, das ist mir schon öfter aufgefallen,“ sagte Leontine nachdenklich, indem sie ihn wie eine naturhistorische Merkwürdigkeit betrachtete.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1881, Seite 421. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_421.jpg&oldid=- (Version vom 5.1.2021)