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verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

machte einen so tiefen Eindruck auf die Phantasie des Knaben, daß es ihn trieb, die Wagen und den Bahnkörper nachzubilden. Er wuchs ohne jeden Unterricht auf und hütete die Kühe einer Wittwe in seinem Orte. Aelter geworden, wurde er unter seinem Vater Heizergehülfe, schwang sich aber bald zum Maschinisten empor, und in dieser Stellung drängte sich ihm der Nutzen einer gründlichen Schulbildung auf; er besuchte deshalb eine Abendschule, in welcher er trotz der vorangegangenen täglichen ermüdenden Thätigkeit mit erstaunlicher Schnelligkeit zeichnen, schreiben und lesen lernte. Um seinen Verdienst zu erhöhen, besserte er Schuhe, Stiefel und Uhren aus. Er hielt sich nun für einen gemachten Mann und heirathete ein Dienstmädchen, Namens Franzis Henderson, nachdem er vorher seinen Nebenbuhler, einen gefürchteten Raufbold, angesichts des ganzen Dorfes in einem Zweikampfe niedergeboxt hatte. Noch zehn Jahre mußte sich der treffliche Mann ohne nennenswerthen Erfolg durch’s Leben schlagen und hatte den Schmerz, sein gutes Weib schon nach zwei Jahren einer glücklichen Ehe sterben zu sehen. Von Schottland zurückgekehrt, wo er Arbeit gefunden hatte, fand Stephenson seinen Vater erblindet und die ganze Familie in der tiefsten Armuth. Er bezahlte die Schulden seines Vaters, wodurch seine Ersparnisse bedeutend zusammenschmolzen, und nahm seine Angehörigen mit sich nach Killingworth, wo er als Maschinist angestellt wurde. Als er nach Verlauf einiger Jahre wieder in den Besitz einer kleinen Summe gelangt war, wurde er zur Miliz eingezogen. Stephenson mußte froh sein, daß er mit dem ersparten Gelde einen Ersatzmann finden konnte. Zuweilen war er so niedergeschlagen, daß er daran dachte, sein Vaterland zu verlassen, aber er legte seine Hände nicht in den Schooß. Kein Unglück beugte ihn nieder. Mit praktischem Sinne suchte er sich neue Einnahmen zu verschaffen, und so entdeckte der Dreißigjährige zu all seinen Nebenverdiensten noch eine neue Einnahmequelle: er wurde Zuschneider für die Grubenleute. In jeder freien Stunde studirte er Mechanik und wurde allmählich durch verschiedene bedeutende Arbeiten als tüchtiger Ingenieur bekannt.

Wie so viele Köpfe der damaligen Zeit beschäftigte auch ihn das Problem einer leistungsfähigen Locomotive. Schon im Jahre 1784, also wenige Jahre nach Stephenson's Geburt, hatte Marbach eine Locomotive hergestellt. Im Anfange dieses Jahrhunderts erfand Trevethick eine Maschine, mit der er auf der Landstraße von Cornwallis nach London fuhr, und auf dem ganzen Wege mit abergläubischer Furcht vom Landvolke betrachtet wurde, das Seine höllische Majestät in Person zu sehen glaubte. Der Gedanke, den Reibungswiderstand durch Einführung von Geleisen zu vermindern, war ebenfalls nicht neu; denn schon seit dem siebenzehnten Jahrhundert waren in den Bergwerksdistricten hölzerne Geleise im Gebrauche. Aber Niemand hatte bis dahin eine Maschine erfunden, welche große Zugkraft mit bedeutender Schnelligkeit verband und billiger als alle anderen Transportmittel beförderte. Auch schwankten die Erfinder noch zwischen dem Plane, die Maschine auf einem Geleise oder auf einer Landstraße sich bewegen zu lassen, und die Wenigsten ahnten die großen und vollständig neuen Schwierigkeiten, welche der Bau dieses Eisenbahnkörpers mit sich brachte. Es sollte Stephenson’s Verdienst werden, eine allen Anforderungen genügende Maschine zu erfinden, endgültig den Zusammenhang zwischen Locomotive und Geleise zu bestimmen und den Bau von Eisenbahnen in genialer Weise zu beginnen.

Schon im Jahre 1815 baute er eine sehr unvollkommene Locomotive für ein Kohlenwerk, aber es gelang ihm erst, seinen Ideen den vollsten Ausdruck zu verleihen, nachdem er in Newcastle eine Maschinenfabrik gegründet hatte. Eine Belohnung von 1000 Pfund (über 20,000 Mark), welche ihm die „Newcastle Literary and Philosophical Society" für die Erfindung der Sicherheitslampe überreichte, hatte ihm die Mittel zur Begründung seines Unternehmens gewährt. Im Jahre 1822 baute er für eine Grube eine Locomotive, welche vier englische Meilen (sechseinhalb Kilometer) in der Stunde zurücklegen konnte. Um diese Zeit machte er die Bekanntschaft eines Herrn Pease, welcher eine Pferdebahnlinie von Stockton nach Darlington projectirte. Stephenson bewog ihn, den Dampf als bewegende Kraft zu benutzen. Die Eisenbahnlinie wurde am 27. September 1825 eröffnet. Mit mehreren Hundert Passagieren und an 100,000 Kilogramm beladen, legte die Maschine in der Stunde zwischen vier bis sechs englische Meilen zurück, und ihre Schnelligkeit konnte bis auf zwölf Meilen gesteigert werden. Dieser Erfolg war von großer Bedeutung. Die Leichtigkeit des Waarentransportes, der sich in jedem Jahre steigerte, die Thatsache, daß auch der Personenverkehr, der zuerst als etwas Nebensächliches betrachtet wurde, sich immer mehr hob (die „Railway-Coach" wurde im Anfange von einem Pferde getrieben), machten das Unternehmen des kühnen Ingenieurs berühmt. Mit Neid und Bewunderung sahen die nur durch einen Canal verbundenen Städte Manchester und Liverpool, deren Baumwollengeschäft und Baumwollenmanufactur sich seit der Erfindung von Maschinen in kolossalem Maße gesteigert hatte, auf die Stockton-Darlington-Linie. Der Canal konnte der Zufuhr der Rohmaterialien und der Abfuhr der fertigen Stoffe nicht genügen, und war er gefroren, so lagen die Maschinen still, worunter besonders die Arbeiter litten.

Hervorragende Männer beider Städte faßten deshalb den Entschluß, die Städte durch eine Eisenbahn zu verbinden und Stephenson den Bau der Linie anzuvertrauen. Aber zwischen der Anregung und der Ausführung des Planes vergingen beinahe zehn Jahre. Die Landbesitzer, die Pächter, die Bauern, ein großer Theil der Städter, die Fuhrwerksbesitzer, kurz die Majorität der besitzenden Classen agitirten gegen das Unternehmen, welches ihnen höchst verderblich und revolutionär erschien. Die Gelehrten brandmarkten Stephenson's Gedanken als phantastisch, chimärisch, utopisch, und das Parlament behandelte Stephenson mit spöttischer Geringschätzung. Aber Stephenson verlor den Muth nicht, weder dem Parlamente, noch den Angriffen der Gelehrten und den wüthenden Anklagen der besitzenden Classen gegenüber. Als endlich die Schienen unter tausend Schwierigkeiten gelegt waren, hatte er noch seinen härtesten Kampf zu bestehen; denn nun mußte eine Entscheidung über die bewegende Kraft getroffen werden.

Alle Personen von Bedeutung waren gegen die Locomotive eingenommen, und nur durch die Ausdauer, welche er in einem mehr als vierzigjährigen Leben im unermüdlichen Kampfe mit Schwierigkeiten aller Art erlernt hatte, gelang es Stephenson, die leitenden Männer zum Ausschreiben eines Preises von 500 Pfund für eine Locomotive zu bewegen, die unter andern Bedingungen auch der genügte, daß sie zehn Meilen in einer Stunde zurücklegte. Stephenson baute in seiner Maschinenfabrik den „Rocket", welcher am 6. October 1829 und an den folgenden Tagen alle übrigen Maschinen besiegte. Er hatte seine Maschine zu einer solchen Vollkommenheit gebracht, daß sie 29 englische Meilen (etwa 47 Kilometer) in der Stunde zurücklegen konnte. Nun hatte Stephenson sein Ziel erreicht; das Eisenbahnzeitalter begann. Der Bau einer Linie nach der anderen wurde ihm übertrugen, und nachdem sich im Jahre 1840 der nun fast sechszigjährige Greis von all seinen ausgedehnten Unternehmungen zurückgezogen hatte, verlebte er noch acht Jahre schöner Muße auf seinem Landsitze Tapton House bei Chesterfield.

Wir haben schon erwähnt, daß Stephenson's Verdienste nicht in der Erfassung eines vollständig neuen Gedankens liegen, sondern in der genialen Lösung eines lange gestellten Problems. Insoweit läßt sich auf ihn das Wort Goethe's anwenden:

„Sind nun die Elemente nicht
Aus dem Complex zu trennen,
Was ist denn an dem ganzen Wicht
Original zu nennen?"

Bewundernswerther als das Geschick des Technikers sind seine geduldige Ruhe, seine unverwüstliche Ausdauer und Beharrlichkeit, ohne welche wahrscheinlich alle seine Talente niemals zu voller Entfaltung gelangt wären.

Ihn begleiteten in allen Lagen seines Lebens eine herrliche Bescheidenheit und eine große Selbstentsagung; er hat sich nicht verbittern lassen, obwohl England ihm, einem seiner besten Söhne, nicht die geringe Anerkennung hat zu Theil werden lassen. Das ist in damaliger Zeit leicht erklärlich; denn Stephenson war kein Mann von Geburt, „a man of no birth“ (wie der classische Ausdruck heißt), und er hatte in keinem fashionablen Colleg Cricket gespielt. So haben die unteren Schichten für alle Zeiten den Ruhm, ihn ganz zu besitzen. Angesichts dieser Thatsachen nimmt es sich wahrhaft komisch aus, daß ein englisches Blatt bei Gelegenheit der Eröffnung der ersten elektrischen Eisenbahn mit sittenrichterlicher Strenge und mit ebenso viel Unwissenheit wie Hochmuth sagte: die Deutschen wüßten den Werth der neuen Erfindung gar nicht zu würdigen.

Erst nach seinem Tode hat England dem großen Manne Denkmäler errichtet, und jüngst suchte es seine Schuld dadurch abzutragen, daß es den hundertjährigen Geburtstag Stephenson’s

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verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1881, Seite 447. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_447.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2022)